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Diederichs New Science - Herausgeber Franz-Theo Gottwald, Ervin Laszlo, Stefan Schuhmacher
Alle Rechte vorbehalten Copyright by Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 1999

Jochen Kirchhoff - Räume, Dimensionen, Weltmodelle : Impulse für eine andere Naturwissenschaft

Zweites Kapitel

Jenseits der Masken des Universums - Wie wahr sind naturwissenschaftliche Theorien?

Reflexion über das Wirklichsein des Selbst und des Leibes
Wir sind wirkliche Wesen in einer wirklichen Welt, keine Schemen oder abstrakten Gespenster. Ich fühle mich als wirkliches Wesen in einer wirklichen Welt. Es gibt ein »Da draussen«, einen unabsehbar grossen Bereich, der mir nicht unmittelbar zugänglich ist, von dessen Existenz ich aber genauso überzeugt bin wie von der realen Existenz anderer ichhafter Innenwelten ausserhalb meiner eigenen. Unmittelbar habe ich nur mich selbst, mittelbar - über Dialog, Emotion, Auseinandersetzung, Begegnung und ähnliches - auch die anderen.
Wer sich der Mühe unterzieht und den Schwindel nicht scheut, der damit einhergehen kann, sich gleichsam klinisch-phänomenologisch selbst zu kartographieren und abzugrenzen, die eigene Gestalt zu erspüren, der wird Staunenswertes zutage fördern können. Zunächst nimmt sich niemand leiblich-physisch vollständig wahr. Auch der Blick in den Spiegel zeigt nur die (seitenverkehrte) Vorderseite, zeigt eine bestimmte Perspektive, die erst durch ein System von Spiegeln zu überwinden wäre. Was auch das raffinierteste Spiegelsystem nicht zeigt, ist das Leibesinnere, das ganze subtile und komplexe System der Nervenbahnen, der Adern, der inneren Organe, der Verdauung, der Mikroorganismen im Darm, der für die Lebensfunktionen notwendigen Flüssigkeiten usw. Kurz: Das Leibesinnere ist eine black box für mich. Diese black box ist durch und durch aussen, auch wenn sie physisch ganzinnen ist. Das Körperinnere ist das eigentliche Aussen, es hat mit mir als Selbst, als leiblich-seelisch-geistige Gestalt, (fast) nichts zu tun. Es ist das Andere meiner selbst (und meines Selbst). So blickt jeder eigentümlich befremdet und irritiert in Bilder des eigenen Leibesinnern; jeder spürt, dass dieses Innen gänzlich aussen ist, dass es ihn in der Tiefe des eigenen Selbst gar nichts angeht. Dagegen fühlt jeder das Aussen des Körpers, die gestalthafte Aussenseite des Leibes (als des beseelten, gefühlten Körpers) als innen, als »mehr innen« jedenfalls als das Leibesinnere, als mehr zum eigenen Selbst gehörig. Und auch da gibt es Abstufungen. Gemeinhin wird das künstlerisch gestaltete Porträt des Menschen als jene Gestalt gewertet, die dem (an sich unsichtbaren) Wesen des jeweiligen Menschen am nächsten kommt.
So spürt jeder instinktiv und ohne dass dazu eine tiefere Reflexion erforderlich wäre, dass er ein >geschichtetes Wesen< ist. Dem physischen Körper >da draussen< folgt, als nächsthöhere Stufe, der Leib; der physische Körper ist, wie alle physischen Körper, ein der Gravitation unterworfenes Ding, eine materielle Konfiguration. Der Körper ist aussen, der Leib ist dieser selbe Körper von innen, d.h. aus der Sicht und der Ich-Haftigkeit seines »Bewohners« oder »Eigentümers« heraus. Als Leib fühle ich nur einen Teil meines physischen Körpers, den Rest ahne ich oder registriere ihn nur indirekt. Insofern ist der Leib, materiell gesehen, weniger als der physische Körper. Zugleich kann er mehr sein, etwa im Falle sogenannter Phantomgliedmassen; bekanntlich können abgetrennte Körperglieder wie reale erlebt werden. Diese Phantomglieder gehören zum erlebten Leib, und dieser erlebte Leib kann auch immaterielle Glieder oder Körperteile umfassen. Irgendwie ist der Leib im Körper, aber das lässt sich auch umgekehrt denken.
Das Ich-Bewusstsein hat sich von der Leibesorganisation offenbar weit entfernt; es >thront< im Kopf, im komplexen Neokortex als seiner physischen Entsprechung. Es kann sich als leibfrei erfahren und zugleich an einer leibfreien Geistsphäre teilhaben und sich mit anderen über Gesetze und Strukturen dieser Geistsphäre austauschen. Ich sehe an meinem Körper herunter und fühle meinen Leib. Ich habe das (subjektive) Gefühl, dass die Gliedmassen einem Etwas in mir gehorchen, das ich als meinen Willen begreife. Anderes läuft offenbar von alleine ab, und ich habe weder als Ich-Wesen noch als Willenswesen Einfluss darauf.
Worauf ich am wenigsten Einfluss habe, ist die Gesamtgestalt des Körpers (oder Leibes) und die innere Form meiner selbst (meines Selbst). Beides >finde ich vor<, es ist mit mir gegeben, es >macht mich aus<, und ich habe das Empfinden, dass da so etwas wie Identität vorliegt. Diese Identität ist zunächst nicht weiter ableitbar; alle genetischen und biologischen und sozialen Prägefaktoren erklären diese Identität, als sie selbst, nicht, können sie nicht erklären, weil sie auf einer ontologisch anderen Ebene angesiedelt sind.
Das muss nicht heissen, dass ich das Vorhandensein meines Körpers als eines »Gegenstandes« in der Welt der Dinge und objektivierbaren Es-Heiten als vollständig und unüberbrückbar aussen und damit fremd erlebe. Aber es kann sein. Ich kann das Gefühl gewinnen, dass ich meine physische Existenz einem >Fall in die Körperwelt< verdanke, dass ich eigentlich >ganz woanders her< stamme. Der machtvolle Gedanke der Erlösung wurzelt hierin.
Das Körpersein oder Leibsein kann als Exil empfunden werden.
Und das Ich, als es selbst, ist immer ein Stück weit in der Sinnenwelt im Exil oder spürt ein Element >Heimat< in sich, das in der Sinnenwelt nicht aufgeht, was ja spätestens im physischen Tod manifest wird. Überhaupt ist der Tod die grosse Dominante der menschlichen Existenz, und die Frage nach der Wirklichkeit, die den Tod ausklammert und leugnet, wird schnell müssig oder belanglos. Genauso müssig oder belanglos wird die Wirklichkeitsfrage, wenn sie dem ungeheuren Rätsel, der ungeheuren Frage ausweicht, warum wir da sind, was uns hineingetrieben, hineingewirbelt, vielleicht hineingestossen hat in diese Inkarnation. Jede Wissenschaft, die das Faktum des Inkarniertseins als prinzipiell unlösbar hinstellt bzw. an die >Glaubensfakultät< delegiert oder, fast noch schlimmer, schlicht als trivial bezeichnet (so als müsste man sich damit nicht ernsthaft, jedenfalls nicht wissenschaftlich beschäftigen), ist schon ein Akt der Kapitulation - der Kapitulation vor der Wirklichkeit.
Jede Wirklichkeit - anders ergibt der Begriff Wirklichkeit gar keinen Sinn - ist erst einmal menschlich erfahrbare Wirklichkeit. Es ist unsinnig, eine Wirklichkeit vorauszusetzen oder zu postulieren, die prinzipiell unerfahrbar und die quasi-unendlich von uns entfernt ist, besonders unsinnig, wenn von dieser Wirklichkeit naiv angenommen wird, dass sie eine blosse Aussenwelt, eine blosse Es-Heit sei, ein pures Ding, ein reines Objekt und ähnliches. Allein die Annahme eines reinen Objekts, einer blossen Es-Heit ist logisch und erkenntnistheoretisch unhaltbar. Dazu muss man nicht der idealistischen, von Kant geprägten Philosophie anhängen.
Zwar ist Wissenschaft, wie sie gemeinhin betrieben wird, immer auch ein grosser Angriff auf die Unmittelbarkeit unserer existentiellen Erfahrung, und zwar bis zu dem Punkt, dass diese Erfahrung für nichtig erklärt wird, für irrelevant, ja für eine blosse Phantasmagorie (im Kern geschieht letzteres in der modernen Physik und in der Sinnesphysiologie).
Aber das hebelt die existentielle Grunderfahrung des In-der-Welt-Seins nicht aus. Was immer über die Welt ausgesagt und was immer analytisch-konstruktiv als wissenschaftliches Modell in die Öffentlichkeit getragen und einem staunenden Publikum präsentiert wird, es sind konkrete Menschen im Spiel, in deren Köpfen das abstrakte Drama abrollt. Diese konkreten Menschen sind keine abstrakten Nebel, keine wandelnden Inkarnationen von gebündelter mathematischer Energie, sosehr auch manche zu wünschen scheinen, dass die kostbare Software >Geist< eine solidere, haltbarere Hardware findet als das zarte und vergängliche Fleisch. Mag die Zeit in den Köpfen der Rechenkünstler zur blossen Schimäre werden, auch diese Rechenkünstler erfahren die lebendige, die wirkliche, die wirksame Zeit unaufhörlich am eigenen Leibe, in der eigenen Seele; auch die Matadore der abstrakten, der toten (reversiblen) Zeit altern und sterben. Jedes Lebewesen widerlegt die reversible Zeit. Die Zeit ist keine Illusion, die Zeit ist wirklich. Noch einmal: Wir sind wirkliche Wesen in einer wirklichen Welt.
Der Verdacht könnte sich einstellen, der (immer vergebliche) Versuch, das lebendige, dem Strom der Zeit unlösbar verbundene Inkarniertsein sei abstrakt-spekulativ aufzuheben, ein irregeleitetes Transzendenz-Projekt (oder »Atman-Projekt«, wie Ken Wilber sagt), ein Versuch, Vergänglichkeit zu transzendieren und sich hinüberzuretten ins Ewige, Unwandelbare, ja Göttliche. Wo Werden herrscht, soll Sein herrschen, wo bunte, irritierende Vielheit ist, soll (abstrakte) Einheit walten. Wo Farben und Emotionen und wandelbares Fleisch und Eros herrschen und stören, soll störungsfreie Abstraktion Erlösung bringen. Auch die abstraktesten Geister dürsten auf ihre Weise nach Erlösung. Und abstrakte Naturwissenschaft istauch ein Erlösungsprojekt, vielleicht das grösste, machtvollste der Menschheitsgeschichte...
Gehen wir noch einmal zu unserem wirklichen, konkreten, leiblich-seelisch-geistigen In-der-Welt-Sein zurück. Da lassen sich noch wichtige Einsichten gewinnen.
Die Dreifachheit von Leib, Seele und Geist ist keine willkürlich angenommene, keine Konstruktion, sondern eine erfahrbare Wirklichkeit. Es mag sinnvoll sein, Seele als Formalprinzip oder Formalkraft des Leibes zu verstehen (in einer auf Aristoteles zurückgehenden Tradition), als das unser Bewusstsein weit übersteigende Prinzip der leiblichen Organisation, wobei das, was wir als Ich wahrnehmen, nur einen kleinen Ausschnitt darstellt. Das Ich ist ein Teil der Seele, aber die Seele ist mehr, sie übersteigt das Ich.
Offenbar ist die Seele eng verbunden mit der alle Lebewesen durchdringenden und ermöglichenden Lebensenergie, an deren realer Existenz nicht ernsthaft gezweifelt werden kann. Vielleicht bedient sich die Seele der Lebensenergie, um die je ganz konkrete und individuelle Gestalt oder Leibesorganisation hervorzubringen. Wenn dies so wäre, könnte die Dreifachheit zu einer Vierfachheit erweitert werden: Leib, Lebensenergie, Seele und Geist.
In dem triadischen Bau ist die Lebensenergie »nur« ein Teil der Seele; was den Körper zum Leib macht, was die Gestalt werden lässt und erhält, ist das In-Kraft-Treten der Seele, das sich zum einen als Lebenskraft manifestiert (eher ich-fern, wenn auch nicht in Gänze »anonym«) und zum andern als Ich-Kraft.
Was nun den Geist anbelangt, so partizipieren wir offenbar an einem universalen Logos oder »objektiven Geist«. Gäbe es diese Partizipation nicht, bliebe jeder eingeschlossen und eingemauert in den eigenen egoischen Geist, hätten wir keine Chance, aus dem Spiegelkabinett unserer Projektionen auszubrechen. Jede Weltbetrachtung, die in irgendeinem Sinne den Anspruch erhebt, so etwas wie Wahrheit in den Blick zu nehmen,muss davon ausgehen, dass Geist oder Logos in der Welt ist, dass er sie in toto durchdringt und durchwaltet. Selbst die abstrakteste Physik geht von der Existenz des Logos aus, da jede Weltbetrachtung, ob wissenschaftlicher oder philosophischer Art, durch die Prämisse bestimmt wird, dass es >da draussen< in der Welt, im Universum, im Kosmos, aber auch >hier drinnen<, in der Ferne und in der Nähe, Geist gibt. Schon die sogenannten Naturgesetze: Was sind sie anderes als strukturierter Geist? Darüber muss nicht ernsthaft verhandelt werden. Eine im absoluten Sinne geistlose Welt ist nicht erkennbar, ja nicht einmal vorstellbar, sie ist - buchstäblich - absurd. Das kosmische Sein, wenn es mit uns etwas zu tun haben soll, muss Geist sein, muss Logos sein. Menschlicher Geist ist Teilhabe am kosmischen Logos. Und noch die rationale Logik scheint hierin zu wurzeln. Eine Logik nur in den Köpfen ist keine Logik, sie wäre nicht kommunizierbar. Und der »objektive Idealismus« hat immer ein Stück weit recht, denn ohne ihn kann nichts erkannt werden.
Wir sind Seele, wir partizipieren am Logos (der wir sicher auch >irgendwie< sind), und wir bewohnen den Körper (und haben doch auch hier eine gewisse Identität). Keines der Elemente der Leib-Seele-Geist-Einheit kann, solange wir inkarniert sind, ohne Schaden für den Bestand des Ganzen herausgelöst oder isoliert werden. Die Wirklichkeit des Menschen ist diese komplexe und subtile Einheit von Ich-selbst-Sein, was immer auch ist: In-Gemeinschaft-Sein, Im-Leib-Sein und Im-Logos-Sein. Reduziert man den Logos auf den abstrakten Geist, den lebendigen Leib auf pure Materie und die Seele auf pure Subjektivität (ohne ontologischen Rang), bricht alles auseinander.
Wie nimmt nun diese Leib-Seele-Geist-Einheit >Mensch< die jeweilige >Umwelt< wahr (die ja immer in der Tiefe Mit-Welt und In-Welt ist)? Physiologen, Gehirnforscher und Erkenntnistheoretiker sagen häufig, dass die gesamte als objektiv oder intersubjektiv erfahrene Welt >da draussen< nur im Kopf existiere; wir seien ausserstande, und zwar grundsätzlich, zu erkennen, wie die Welt wirklich und eigentlich ist. Die Welt als solche wird vorausgesetzt, aber was sie sein könnte ausserhalb unserer Sinnlichkeit, ausserhalb unseres Kopfes, sei uns auf ewig verschlossen.

Vernon Mountcastle, einer der bedeutenden Vertreter der sogenannten Psychobiologie, schreibt in wünschenswerter Klarheit: »Jeder von uns lebt im Universum - im Gefängnis - seines eigenen Gehirns. Millionen zarter sensorischer Nervenfasern strahlen davon aus in Gruppen, die auf die verschiedenen Energiezustände der Welt spezialisiert sind - Wärme, Licht, Kraft und chemische Zusammensetzung. Das ist alles, was wir direkt erfahren, alles weitere ist logische Schlussfolgerung... Jeder glaubt, dass er direkt in der ihn umgebenden Welt lebt, die Dinge und Ereignisse präzise wahrnimmt und in realer jetziger Zeit lebt. Das sind zweifellos Wahrnehmungstäuschungen. Sinneswahrnehmung ist eine Abstraktion, keine Replikation der realen Welt.«
Was für eine Vorstellung von Realität liegt dem zugrunde? Wie ist es möglich, dass derart all das, was lebendiges Sein in der lebendigen und konkreten Welt ausmacht, zur blossen Schimäre erklärt wird, zur kollektiven Phantasmagorie? Nun ist die Teilwahrheit in der zitierten Aussage so evident, dass es kaum lohnt, dies gesondert zu betonen. Ein Frosch steht (und hüpft und wirkt) anders in der Welt als eine Ameise, die Katze (auch die Nicht-Schrödingersche) lebt in einer anderen Welt als der Schimpanse oder die Ente. Das dreijährige Kind lebt in einer anderen Welt als das zehnjährige Kind oder der Erwachsene. Das Element von Subjektivität unserer Weltwahrnehmung ist unverkennbar; und auch dass es sehr tief geht, ist unverkennbar. Doch gerade um diese >Tiefe< geht es, gleichsam (im Stile Kants gesprochen) um die >Bedingungen der Möglichkeit< dieser Tiefe. Aus welcher >wirklichen Wirklichkeit< stammt diese Tiefe der Subjektivität unserer empirischen Realität?
Und: Welche Wirklichkeit wird in dem gebrachten Zitat vorausgesetzt? Im letzten ja eine Welt, die nur in naturwissenschaftlichen Begriffen fassbar wird, keine phänomenale oder sinnlich-konkrete, sondern eine abstrakte Welt, eine »mumisierte« Welt (Nietzsche), etwas durch und durch Totes, Lichtjahre entfernt von Leben und Form und Farbe und Bewusstsein und allem, was die Existenz überhaupt ausmacht.
Wie kann man dahin gelangen, etwas für Wirklichkeit zu halten, was doch, von unserer Erfahrungswelt aus, ein lebensfernes Konstrukt, was purer Schein ist? Damit ist der Kern des naturwissenschaftlichen Reduktionismus angesprochen: Die Dinge lassen sich zurückführen (>reduzieren<) auf ihre >eigentlich wirklichen< Bestandteile, auf die >eigentlich< in ihnen wirksamen und daher wirklichen Kräfte, Stoffe, Energien, Symmetrien, Formeln, Naturgesetze und ähnliches. Seit Galilei gehört es zum Kernanliegen der (insofern stets abstrakten) Naturwissenschaft, das Sinnlich-Konkrete mathematisch-experimentell auf die nackte Struktur zu reduzieren, es zu entsinnlichen, zu entleeren, zu skelettieren, immer >natürlich< (oder gerade: nicht-natürlich) in der Hoffnung, derart der >wirklichen Wirklichkeit<, der wirklichen (und transzendenten) Gesetzesordnung in den Dingen habhaft zu werden, sie in Formeln zu bannen, um in eine Art Partnerschaft (oder Komplizenschaft) mit dem in Zahlenordnungen agierenden Weltgeist hineinzugeraten. So wird die bunte und phänomenale, immer irgendwie unübersichtliche, partiell chaotisch-wilde, ungezügelte Sinnenwelt für das schauende Auge des abstrakten Geistes wie durchscheinend. Das Menschenauge wird zum quasi-göttlichen Auge, der Menschenlogos zum quasi-göttlichen Logos.
Das Grundmuster, das hier zum Tragen kommt, ist nicht nur Wahn und Illusion, wie es dem Sinnenmenschen scheinen könnte; aber die Seinsebene stimmt nicht: Das Grundmuster tritt auf der falschen Seinsebene auf. Es gibt die Partizipation am Logos, es gibt das göttliche Gewebe, die sinnenferne Ordnung in den Dingen. Aber die Abstraktion ist es nicht! Die mathematisch fassbare Abstraktion für das göttliche Gewebe zu halten, ist der Irrtum der Irrtümer, der Wahn schlechthin, der die abstrakte Naturwissenschaft seit Galilei prägt und bestimmt.
Alles hängt an der Frage. Was ist >wirklich Schein<, was ist >wirklich Wirklichkeit<? Wir alle spüren doch, dass es eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt, jeder einzelne - als Ich-Wesen und Geist-Seele - spürt doch schon bei einem Minimum an Reflexion und Selbstbeobachtung, dass er nicht aufgeht in der Sinnenwelt. Ginge er wirklich auf in der Sinnenwelt, würde die Sinnenwelt zum Kerker, aus dem es kein Entrinnen gibt. Wenn wir nur sinnlich-physische Wesen wären, wären wir verloren; schon ein irgendwie geartetes Erkennen wäre unmöglich, allein die Vorstellung von Naturgesetzen oder Weltgesetzen wäre in sich absurd. Denn was immer die Gesetze der Welt sind, Stoff oder Materie oder sinnliches Substrat sind sie gerade nicht (sind sie schon per definitionem nicht), denn sie bestimmen, beherrschen und bannen Stoff-Materie-Sinnlichkeit. Wir sind wirkliche Wesen in einer wirklichen Welt, und doch wissen wir, spüren wir, vielleicht gar: argwöhnen wir (um es negativ auszudrücken), dass diese Wirklichkeit, so real und mächtig sie daherkommt und auch ist, nicht das letzte Wort sein kann. Und genau da liegt der Punkt, die Frage der Fragen.
Die reduktionistische Missachtung der Sinnenwelt - ihre abstrakte Entleerung oder Verwüstung - ist verständlich im Hinblick auf frühere Zeiten, wegen der Herausforderung, die der Kopernikus-Schock dargestellt hatte: die Entthronung der Erdoberfläche als einer sicher gegründeten, kosmisch zentralen und ruhenden Heimstatt. Die Frage, die viele bewegte und auch heute noch beunruhigen kann (wenn man sich denn überhaupt die seelische Offenheit bewahrt hat für derlei Beunruhigung), ist doch die: Warum merken wir nichts von der doch rasenden Fahrt des Planeten? Warum gaukelt uns der Sinnenschein eine durch und durch ruhende Erde vor, wie kommt der so überwältigende Schein der Unverrückbarkeit des irdischen Standortes zustande?
Kopernikus wusste darauf keine Antwort. Aber die nachkopernikanischen Wissenschaftler mussten sich dieser Frage stellen, sie in irgendeiner Form plausibel beantworten. Es musste verständlich gemacht werden, wie sinnenhafte Ruhe und wirkliche, tatsächliche Gestirnbewegung miteinander vereinbar sind. Wenn die Wirklichkeit kopernikanisch ist, warum ist die sinnliche Erfahrung ganz offensichtlich antikopernikanisch oder geozentrisch?Da war der Ansatzpunkt für die Neue Physik nach Kopernikus, und die Unanschaulichkeit des Trägheitsprinzips seit Galilei war ein Hebel, der die naive Sinnlichkeit (zunächst einmal) zugunsten einer mathematisch-abstrakten Ontologie relativierte oder, stärker gesagt, entwertete.
Man kann, in wohlwollender Betrachtung, sagen, dass die Neue Physik seit Galilei und dann Newton den naiven Realismus des Augenscheins zugunsten eines »transzendenten Realismus« platonischer Prägung überwand.
In dem »Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme« von 1632 schreibt Galilei: »Ich kann die Höhe der Intelligenz jener Männer nicht gebührend bewundern, die es [das heliozentrische System, J.K.] empfangen haben - und es für wahr halten, die mit der Entschiedenheit ihres Urteils ihren eigenen Sinnen derart Gewalt angetan haben, dass sie nun vorziehen, was der Verstand ihnen diktiert, gegenüber dem, was ihre Sinneserfahrung offenbar als das Gegenteil darstellt. [...] Meine Bewunderung ist grenzenlos, wenn ich bedenke, wie in Aristarch und Kopernikus der Verstand solch einen Angriff auf ihre Sinne unternehmen konnte, dass er sich zum Herrscher über ihren Glauben machte.« [Hervorhebungen von mir.] Das ist deutlich. Und das war fortan das >Programm< der zunehmend vom abstrakten Geist geleiteten Naturforscher, die >daneben< natürlich immer konkrete, sinnliche und durchaus lebendige Menschen waren, die das lebensferne Handwerk ihrer Wissenschaft wohl zu trennen wussten von ihrem eigenen Lebendigsein, was zu einer Schizophrenie führte, die bis heute die technisch-rationale Kultur durchzieht. Hier der Mathematiker-Asket als Forscher, dort derselbe Mensch als Sinnen- und Seelenwesen in konkreten Bezügen: diese Spaltung ist tief eingelassen in den Keller der kollektiven Psyche und produziert dort Neurosen der verschiedensten Art.
Der Kopernikanismus also war der Ausgangspunkt für die Vorstellung, dass die Sinnenwelt eine - nun wissenschaftlich auf die eigentliche und objektive Wirklichkeit zurückzuführende - kollektive Scheinwelt darstellt. Der abstrakte Wissenschaftler konnte sich fortan als Sendbote der >wirklichen Wirklichkeit< verstehen, der einer im Dumpfen und Naiven verhafteten Menschheit von den ewigen (den wahren und wirklichen) Ordnungen der Welt kündet. Man weiss, dass dieser Anspruch - wenigstens in Teilbereichen - zurückgenommen wurde, ohne dass er (trotz Quantentheorie) jemals ganz erloschen wäre. Auch Modelle - projektive Bilder und Annäherungen an die Wirklichkeit - orientieren sich mehr oder weniger deutlich an der Leitidee der >wirklichen Wirklichkeit<. Wozu sonst der ganze Aufwand, die ganze abstrakte Plackerei, wenn es nicht doch irgendwie um Wahrheit ginge?

Perspektivismus - Die Welt als Täuschung?
In der sogenannten Kognitionswissenschaft werden wir belehrt, dass wir unlösbar und zirkelhaft verflochten sind mit der Erfahrungswelt, dass alles Tun Erkennen und alles Erkennen Tun und dass auch der Prozess des Lebendigen selbst ein Akt der Kognition (des Erkennens) ist. Schon bei Nietzsche finden sich fast alle Grundpositionen der Kognitionswissenschaft, hingeworfen wie beiläufig und als Gedankensplitter aus dem Nachlass. Dafür ein Beispiel. 1885 notiert Nietzsche: »Die Physiker sind jetzt mit den Metaphysikern darüber einmütig, dass wir in einer Welt der Täuschung leben: glücklich, dass man nicht mehr nötig hat, darüber mit einem Gotte abzurechnen, über dessen >Wahrhaftigkeit< man zu seltsamen Gedanken kommen könnte. Das Perspektivische der Welt geht so tief als heute unser >Verständnis< der Welt reicht; und ich würde es wagen, es noch dort anzusetzen, wo der Mensch billigerweise überhaupt vom Verstehen absehen darf - ich meine dort, wo die Metaphysiker das Reich des anscheinend Sich-selbst-Gewissen, Sich-selber-Verständlichen (ansetzen), d.h. im Denken.« Und: »Das Denken ist uns kein Mittel zu >erkennen<, sondern das Geschehen zu bezeichnen, zu ordnen, für unseren Gebrauch handlich zu machen: so denken wir heute über das Denken: morgen vielleicht anders. [...] Auch in Betreff der >unmittelbaren Gewissheit< sind wir nicht mehr so leicht zu befriedigen: wir finden >Realität< und >Schein< noch nicht im Gegensatz, wir würden vielmehr von Graden des Seins - und vielleicht noch lieber von Graden des Scheins - reden und jene >unmittelbare Gewissheit< z.B. darüber, dass wir denken und folglich Denken Realität hat, immer noch mit dem Zweifel durchsäuern, welchen Grad dieses Sein hat; ob wir vielleicht als >Gedanken Gottes< zwar wirklich, aber flüchtig und scheinbar wie Regenbogen sind. Gesetzt, es gäbe im Wesen der Dinge etwas Täuschendes, Närrisches und Betrügerisches, so würde der allerbeste Wille de omnibus dubitare [»an allem zu zweifeln«, J.K.], nach Art des Cartesius, uns nicht vor den Fallstricken dieses Wesens hüten; und gerade jenes Cartesische Mittel könnte ein Hauptkunstgriff sein, uns gründlich zu foppen und für Narren zu halten.«
Ein weiteres (kurzes) Zitat des grossen Sprachkünstlers Nietzsche: »Gesetzt, ihr fragt: >Hat denn vor 50 000 Jahren der Baum schon grün ausgesehen?< so würde ich antworten: >Vielleicht noch nicht: vielleicht gab es damals erst die zwei Hauptgegensätze der valeurs, dunklere und hellere Massen: - und allmählich haben daraus sich Farben ausgewickelt. «
Mit Nietzsche beginnt die »postmoderne« Revolte gegen das Repräsentations-Paradigma, also gegen die Vorstellung, dass es zur Würde des Denkens gehöre, die Welt auf adäquate und auch zuträgliche Weise abzubilden, im Geiste zu repräsentieren - oder anders gesagt: gegen den Glauben, dass Wahrheit und Wirklichkeit, wenigstens näherungsweise, erreicht werden kann, ob durch Wissenschaft oder durch Philosophie. Nietzsches erkenntnistheoretische Kernthese ist die vom (für das Leben) notwendigen Schein, vom notwendigen, unaufhebbaren Perspektivismus. Und diese Kernthese entspricht der der Kognitionswissenschaftler von der Unaufhebbarkeit der mit dem menschlichen In-der-Welt-Sein gegebenen Zirkularität des Erkennens. Damit wird so etwas wie >objektive Wahrheit< als ein im Prinzip erreichbares Ufer für das Schiff des Geistes bezweifelt. Ist dieser Zweifel berechtigt? Ja und nein.
Natürlich kann man die erkenntnistheoretische Skepsis bis zum (dann notwendig absurden) Extrem treiben. Auch Nietzsche ist gelegentlich in diese Fallstricke hineingelaufen, obwohl er den lebensfeindlichen Grundzug dieser Skepsis zugleich wie kein anderer erkannt hat. Sicher haben die Kognitionswissenschaftler partiell recht, wenn sie das menschliche Denken zurückbinden wollen an das Netz des Lebendigen, um derart seine Abspaltung und seinen Grössenwahn zurückzunehmen. Auch hat die Formel von der »Biologie des Erkennens« ihre (partielle) Berechtigung. Nur zeigt das gebrachte Beispiel des Kopernikanismus deutlich und im Grunde unwiderlegbar, dass Wahrheit oder Wirklichkeit durchaus erreichbar ist.
Ontologisch und kosmologisch gesehen, hatte eben Kopernikus recht und nicht Ptolemäus; es ging nicht um ein besseres Rechensystem für die Planetenbewegung, sondern um die wirkliche kosmische Struktur des Sonnensystems. Ein geozentrisches Rechensystem oder Bezugssystem kann sogar genauere Voraussagen liefern, aber deswegen ist es nicht wahr, deswegen ist es nicht im ontologischen Sinne wirklich. Es ist also möglich, die Täuschungen der unmittelbaren Sinneswahrnehmung zu durchschauen und zu einer Wirklichkeit vorzustossen, die dem sinnlichen Schein als eine zunächst nur geistig zu erschliessende und in diesem Sinne transzendente Welt zugrunde liegt.
Der herrschende Relativismus neigt dazu, diesen schlichten Sachverhalt zu verdecken und gleichsam zurückzufallen auf die Ebene des berühmten Vorworts, das Andreas Osiander zu dem Hauptwerk des Kopernikus geschrieben hat; in diesem Vorwort wird der ontologische und kosmologische Wahrheitsanspruch des heliozentrischen Systems zugunsten des bloss hypothetischen, also im Sinne des besseren mathematischen Beschreibungssystems, zurückgewiesen.
Dieser Rückfall bedeutet dennoch in keiner Weise, dass der Relativismus ernsthaft durchgehalten wird. Immer noch wird leidenschaftlich um Wirklichkeit gerungen. Was die Menschen interessiert, sind ja nicht geistreiche Konstrukte oder hochabstrakte Rechensysteme, sondern Wirklichkeit. Wir wollen uns nicht abspeisen lassen durch leere Fiktionen, mit denen man bequem rechnen kann, sondern wir wollen Wirklichkeit und Wahrheit, wir wollen wissen, wie das Universum gebaut ist, in dem wir leben (müssen). Auf naivem und direktem und insofern einfachen Wege geht es nicht; aber es gibt Wege, die aus dem puren Spiegelkabinett unserer projektiven Netze hinausführen. Wäre dies nicht so, in einem absoluten Sinne, wäre Naturforschung überhaupt unmöglich. Aber sie ist möglich. Und trotzdem gibt es die Projektionen des menschlichen Denkens.
Ich werde in diesem Buch immer wieder auf diese Grundfragen des Naturerkennens zurückkommen, liegt doch gerade hier die Stelle, an der die allgemeine Verwirrung am grössten ist. Und wir werden keinen Schritt weiterkommen, wenn es uns nicht gelingt, hier Klarheit zu gewinnen. Und diese Klarheit lässt sich, näherungsweise, schon aus dem Satz ableiten, der als Koan und auch als Mantram gelten könnte: Wir sind wirkliche Wesen in einer wirklichen Welt. Dieser Satz, in der Tiefe begriffen, führt aus dem Gefängnis heraus, in das Vernon Mountcastle und andere uns eingeschlossen wähnen, er übersteigt alle Formen von Relativismus, Konstruktivismus und Skeptizismus. Er nimmt uns wirklichernst, nimmt die Existenz ernst als ein ganzheitliches, gestalthaftes Sein. Diese Existenz, um es in eine vielleicht dunkle Formel zu bringen, ist der stets konkrete Ernstfall, der gar nichts weiss von Abstraktheit. Der Kosmos überhaupt weiss nichts von Abstraktheit. Dieser Kosmos ist ein konkreter Kosmos, konkret nicht im Sinne von grobstofflich-physisch allein, sondern auch im Sinne von feinstofflich, seelisch, geistig. Der universale Logos ist nicht abstrakt, er ist lebendiger, wirkender und somit wirklicher Geist.
Der ungeheure Strom und die Möglichkeit des Erkennens
Der Kernphysiker und Molekularbiologe Jeremy Hayward, ein wichtiger Vertreter der Kognitionswissenschaft, schreibt in seinem Buch »Die Erforschung der Innenwelt« (»Shifting worlds, changing minds«): »Dass es ein reales, objektives, äusseres Universum gibt, unabhängig von Bewusstsein und Beobachtung, ist kein haltbarer Standpunkt mehr, auch im Bereich der Wissenschaft. Vielmehr entstehen das Universum und das beobachtende Ich [...] gemeinsam in einem gegenseitigen Schöpfungsprozess. In diesem Sinne kann man tatsächlich sagen... >Das Universum ist eingestürzt.< [...] Das Universum, wie es sich uns, dem Mann oder der Frau auf der Strasse, darstellt, ist ein kontextgebundenes Glaubenssystem. [...] Unsere Überzeugungen und Wahrnehmungen bilden also ein eng verklammertes System gegenseitiger Bedingung und Verstärkung, so dass wir nicht nur, wie so oft, sagen können: >Das glaube ich erst, wenn ich es sehe<, sondern auch: >Das sehe ich erst, wenn ich es glaube.<Wir nehmen nur wahr, wovon wir glauben, dass es vorhanden ist, und wir nehmen es nur so wahr, wie es unserer Überzeugung nach ist.«
Und an anderer Stelle zitiert Hayward den Physiker und Astronomen Edward Harrison: »Das UNIVERSUM ist alles. Was es an sich selbst ist, unabhängig von unseren wechselnden Meinungen, können wir nicht wissen. Das UNIVERSUM ist allumfassend, und es enthält auch uns; wir sind ein Teil oder Aspekt des UNIVERSUMS, das sich selbst erfährt und über sich selbst nachdenkt. [...] Die Universen sind unsere Modelle des UNIVERSUMS. Sie sind grosse Systeme vielschichtigen Denkens, grosse kosmische Bilder, die menschliche Erfahrung in eine rationale Form bringen. [...] Jedes Universum ist ein in sich geschlossenes, wunderbar geordnetes Ideensystem, in dem alles, was wahrgenommen und erkannt ist, miteinander verknüpft wird. Ein Universum ist eine Maske, die über das Gesicht des unbekannten UNIVERSUMS gestülpt wird.«
Noch einmal Harrison: »Ein Universum gibt einer Gesellschaft Koordination und Einheitlichkeit; es erlaubt ihren Mitgliedern, ihre Gedanken und Erfahrungen auszutauschen. Ein Universum bestimmt, was wahrgenommen wird und was als echte Erkenntnis gelten kann; die Mitglieder einer Gesellschaft glauben, was wahrgenommen wird, und nehmen wahr, was geglaubt wird.«"
So wären wir auf ewig gefangen im Spiel der Masken, die wir selbst dem UNIVERSUM aufgesetzt haben? Das von Hayward und Harrison Angedeutete berührt eine Nahtstelle unseres Natur- und Kosmosverständnisses: das Verhältnis von (u.a. kultureller) Projektion und Wirklichkeit. Sicher hat jede Kultur, jede Epoche, jede geschichtlich-kollektive Formation ihre je eigene innere Kosmologie, die den Rahmen darstellt für das, was als möglich und wirklich zu gelten hat. Und ganz fraglos gilt dies für die Seele generell, also auch bezogen auf den einzelnen. Die Weltwirklichkeit >da draussen< und in unseren Köpfen ist eng verflochten mit unserem Bewusstsein, mit dessen Ebene und Struktur. Jedes Bewusstsein schaut andere Schichten, andere Facetten, andere Seinsfaktoren aus dem Kosmos heraus. Und in jedem Akt dieser Art erkennt und spiegelt sich dieses Bewusstsein selbst. »Der Kosmos ist wie ein Spiegel«, lautet ein altpersischer Weisheitssatz. Wenn man diesen wirklich und konsequent weiterdenkt, kann man zu aufschlussreichen Überlegungen gelangen, die sich auch und sehr radikal auf die moderne und allseits bewunderte Kosmologie des Urknall-Universums anwenden lassen, auf die Phantasie der glühenden Gaskugeln in eisiger, wüstenhafter Leere mit dem blauen Planeten als Oase des Lebendigen.
Merkwürdig ist, dass dieser Schritt von den wenigsten so konsequent vollzogen wird. Der Astronom Harrison ist ja nicht ernsthaft der Überzeugung, dass die eigene Wissenschaft sich in der formalen Zuordnung von Masken erschöpft. Ich sage es noch einmal: Kopernikus hat nicht das bessere Rechensystem erfunden, sondern ein Stück Wahrheit und Wirklichkeit erschlossen. Seine Erkenntnis ist eine wirkliche; er hat nicht einfach eine neue Maske an die Stelle der alten gesetzt.
So hat die Heraufbeschwörung der Maskenhaftigkeit unserer Kosmologien durch Physiker und Astronomen etwas seltsam Kokettes, gleichsam Augenzwinkerndes, auf jeden Fall etwas zutiefst Widersprüchliches und auch Inkonsequentes. Es gibt so etwas wie wirkliche Erkenntnis, daran kann nicht ernsthaft gezweifelt werden; auf diesem Credo basiert Wissenschaft schlechthin. Unterminiert man dieses Credo, wird Wissenschaft absurd. Und dieses Credo wird auch nicht wirklich unterminiert. Die Grundorientierung auf so etwas wie Wirklichkeit, als eine gesetzmässig geordnete, zweifelsfrei seiende (auch wenn gerade keiner hinsieht), existiert nach wie vor. Diese Grundorientierung ist nicht möglich ohne die unausgesetzt erfahrene Wirklichkeit des Leibes, der Ich-Heit, des ich-überschreitenden Geistes oder Logos.
Die These vom Maskencharakter der Kosmologien, die blanker Relativismus ist und den Kosmos zum Kulturerzeugnis macht, zum kulturellen Konstrukt, hebt sich selbst auf, und einmal mehr tritt ein Zirkelschluss zutage. Die These ist eine Absolutheitsaussage, die jede denkbare Kosmologie einer Epoche oder Kultur übersteigt; sie kann nicht wahr sein, wenn sie wahr ist. Die These ergibt so keinen Sinn. Und es ist kein Zufall, dass Physiker und Astronomen, wenn man wirklich die Dogmen ihrer Wissenschaft antastet, wenn man wirklich von einer anderen, einer alternativen Kosmologie ausgeht, in der Regel schlagartig realistisch oder materialistisch argumentieren und wie selbstverständlich von einem wirklichen (einem auch ohne ihr Hinsehen zweifelsfrei seienden) Kosmos ausgehen, dessen Strukturen und Gesetze, wenigstens näherungsweise, durchaus bekannt sind.
Man kann das UNIVERSUM, in dieser absoluten Form, getrost auf sich beruhen lassen. Es ist vergeblich und sinnlos, in dieser Weise das Absolute heraufzubeschwören; das ist so pure Ablenkungsideologie. Es lenkt ab von der eigentlichen Herausforderung, der sich menschliches Erkennen zu stellen hat: In was für einem Universum leben wir? Und Teilantworten darauf sind möglich, weil das Universum, weil der Kosmoshier ist, weil schon die menschliche Leib-Seele-Geist-Entität eine kosmische Gestalt darstellt und auf sehr lebendige, konkrete Weise ihre Verbindung mit dem Universum bekundet, und zwar unaufhörlich.
Nietzsche, wie schon Schopenhauer, wusste, dass Naturphilosophie nur sinnvoll zu betreiben ist auf der Grundlage einer Philosophie des menschlichen Leibes. »Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie: warum? « notiert Nietzsche 1885." Und: »Am Leitfaden des Leibes. - Gesetzt, dass >die Seele< ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben - vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer unhörbarer Strom zu fliessen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte >Seele<.«"
Wenn man das, was Nietzsche »Leib« nennt, erweitert und vertieft in Richtung auf eine Ganzheitlichkeit, die auch das Seelische und Geistige einbezieht und als ontologisch eigenwertige Ebenen begreift, dann lässt sich die Aussage Nietzsches erkenntnistheoretisch fruchtbar machen für ein Verständnis des Mensch-Kosmos-Verhältnisses jenseits des Reduktionismus: In der menschlichen Leib-Seele-Geist-Gestalt bündelt sich das kosmische Werden, kommt das kosmische Werden zu sich selbst. Hier auf der Erde und auf allen bewohnten, belebten Gestirnen im Weltall. Der »ungeheure Strom« ist nicht durchweg »unhörbar«; und alle kosmologischen oder esoterischen Überlegungen zum Mysterium des Klangs, der kosmischen Klänge - und ihrer Manifestation in den Werken grosser Musik - wurzeln hierin." Der menschliche Leib ist gleichsam kosmischer Leib, die Seele kosmische Seele, der Geist kosmischer Geist. Als vergängliche Erscheinungsform ist der Leib >Maske<, als beseelte Gestalt gehört er zur Essenz jenseits der >Masken des Universums<. Und nur von einer Position jenseits der Projektionen und der Masken aus (einer in diesem Sinn >absoluten< Position) erscheint es sinnvoll, von erkenntnismässiger und ontologischer Relativität zu sprechen. Jedes Relative bestimmt sich und definiert sich durch das Absolute bzw. durch ein Absolutes. Ein Satz wie »Alles ist relativ« ist sinnleer und blind, wenn nicht deutlich gemacht werden kann, worin das Absolute besteht, worauf er bezogen ist. Einsteins »Relativitätstheorie« (hier die spezielle) ist im Grunde oder zumindest mit gleichem Recht als »Absoluttheorie« zu bezeichnen: Die postulierte Relativität von Raum und Zeit ergibt sich aus der Prämisse von der Absolutheit des Lichts, der Lichtgeschwindigkeit (die natürlich, rein logisch, den absoluten Raum und die absolute Zeit voraussetzt, was oft übersehen wird). Ähnlich unsinnig ist es zu sagen: »Alle Erkenntnis ist relativ« (oder zirkulär oder ausweglos kontextgebunden), wenn nicht verständlich gemacht wird, von welchem Absoluten und Nicht-Zirkulären hier ausgegangen wird. Wenn das einzig Absolute die Universalgültigkeit dieses Satzes sein soll, bricht - wie angedeutet - alles zusammen.
Um noch einmal Nietzsche, den scharfsinnigen Erkenntnistheoretiker, anzuführen: In seiner Auseinandersetzung mit Kants »Kritik der reinen Vernunft« schreibt er: »Ein Werkzeug kann nicht seine eigene Tauglichkeit kritisieren: der Intellekt kann nicht selber seine Grenze, auch nicht sein Wohlgeratensein oder sein Missratensein bestimmen.« Und: »Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis gibt.« Und ein letztes: »Der Intellekt kann sich nicht selbst kritisieren, eben weil er nicht zu vergleichen ist mit andersgearteten Intellekten und weil sein Vermögen zu erkennen erst angesichts der >wahren Wirklichkeit< zutage treten würde, d.h. weil, um den Intellekt zu kritisieren, wir ein höheres Wesen mit >absoluter Erkenntnis< sein müssten.«
Wenn denn logische Stringenz irgendeinen Wert hat, dann sind diese Aussagen unwiderlegbar. Der Grundgedanke lässt sich auch anders fassen, jetzt buddhistisch gesprochen: Nur von der Buddha- oder Erleuchtungsebene aus lässt sich die durchgängige Relativität und der Täuschungscharakter des Samsara, der Erscheinungswelt, sinnfällig machen; >immanent< ist dies nicht möglich. Man muss sich hüten, dass nicht das subtile und unauslotbare Verhältnis des Absoluten zum Relativen zum Vexierspiel wird, zum logisch-erkenntnistheoretischen Abyssus, der irgendwann alles verschlingt.
Wir tragen Masken, und wir haben die kosmische Umwelt mit unseren projektiven Masken zugestellt, aber wir gehen nicht darin auf. Die Phänomene sprechen sich nicht als sie selbst aus, sie entziehen sich fortwährend, je mehr wir ihnen erkenntnismässig und gleichsam mit plumpen Fingern nachstellen. Aber die Phänomene sind gestalthaft, sind konkrete und wohl kosmischen Ordnungsprinzipien gehorchende Wesenheiten - Wesenheiten, deren Formensprache auf eine innere Physiognomie verweist. Die äussere Physiognomie ist nicht identisch, aber sie ist auch nicht unüberbrückbar getrennt von ihr. Die Dinge sind nicht das, was sie zu sein scheinen, aber selbst in ihrem Scheinen spiegelt und bekundet sich ihr Sein. »Denn nur das Leben ist das sichtbare Analogon des geistigen Seins«, heisst es beim frühen Schelling (1797)." Und um dieses »sichtbare Analogon« geht es in jeder Naturphilosophie, die diesen Namen verdient. Das Analoge (Ähnliche) ist nicht das Identische; d.h., das »geistige Sein« erschöpft sich nicht im »sichtbaren Analogon«, aber es ist auch nicht durch einen kosmischen Wesensabgrund davon geschieden. In dieser inneren Spannung von Wesen und Erscheinung, von Essenz und Maske, von Geist und Form leben wir, und jeder Schritt, den wir erkenntnismässig und forschend vollziehen, trägt diese Doppelheit in sich. »Die Natur liebt es, sich zu verbergen«, heisst ein Fragment von Heraklit, und es berührt genau diesen Punkt. Und auch der Goethe-Begriff des »Geheimnisvoll-Offenbaren« scheint in diese Richtung zu weisen.
Natur ist immer verborgene Natur. Das Universum ist immer ein verborgenes Universum. Aber diese Natur, dieses Universum ist zugleich offenbar, ist zugleich Gestalt und Form, die sich hörbar, spürbar, verstehbar ausspricht oder aussingt (wenn die Dimension des Klanges ins Spiel kommt). Diese Natur, dieses Universum ist ein Kosmos. Nur als Kosmos ist es erkennbar. Ein ausschliesslich materielles Universum wäre gar nicht erkennbar; es bliebe ewig dunkel und in sich eingeschlossen, eine Bühne des Absurden. Nur insofern lässt sich der zitierten Aussage von Jeremy Hayward, dass es ein Universum ohne Bewusstsein und Beobachter gar nicht geben könne, ein Sinn abgewinnen. Nur wenn das Universum ein Kosmos ist - im antiken Wortsinn also ein harmonisch-klanglich geordnetes Ganzes, ein Gestaltenzusammenhang von Physis, Bios, Psyche und Logos -, kann es auch erkannt werden von Wesen, die physische, biologische, seelische und geistige Wesen sind. »Gleiches kann nur von Gleichem erkannt werden«, sagt Empedokles. >Kosmos< muss nicht, naiv begriffen, Anschaulichkeit und Vorstellbarkeit beinhalten (der antike Kosmos war beides: anschaulich und sinnlich vorstellbar). Was >Kosmos<, bezogen auf das Universum (das nachkopernikanische Weltall), wirklich meint, lässt sich nicht in eine schlichte Formel pressen; offenbar ist da noch Wesentliches zu entbergen. Und wenn mich meine Wahrnehmung der Epoche nicht fundamental täuscht, stehen uns noch einige Überraschungen ins Haus. Auf der technischen Wahrnehmungsebene scheint sich ein kosmisches Geschehen abzuzeichnen, das uns in näherer Zukunft mit voller Wucht und Intensität erreicht.
Alle Signale deuten auf eine zentrale Botschaft: die kosmische Transformation des Planeten Erde. Bislang sind die Vorhöfe dieses grossen Schattens, der auch ein grosses Licht ist, von technischen und religiösen
Schemen besetzt, hinter denen sich etwas gänzlich anderes Zugang zu uns zu verschaffen versucht.
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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"