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Geisteswissenschaften - Geschichte

Zur Geschichte des 19. Jahrhunderts

Das Buch " Geist-Kraft-Stoff " wurde 1869 geschrieben. Vergleichen Sie die Zitate mit den Angaben aus dem Geschichtsbuch. Ein Kommentar erübrigt sich.

Inhalt

Zusammengestellt vom Erfasser


Drei Zitate aus Geist-Kraft-Stoff

Zitat 1:  Der Materialismus ist der Gegensatz von Christi Wort. Er will selbst schaffen; es liegt hierin eine grosse Bewegung der Gegensatz-Geister, welche die Menschen bei ihrer schwachen Seite, dem Wissenwollen nehmen, um gegen Gottes Lehre des Geistes anzustürmen, gegen welche sie nur stürmen, aber sie nicht vernichten können! Christi Erscheinen auf Erden ist als göttliche Mission eine geistige potenzierende Bewegung nach Innen, nach dem Eins, zu Gott, diese Bewegung geht seit Jahrhunderten; sie hat Übergänge durchzumachen. Der Übergang erscheint oft als ein Retrogradieren, er ist es jedoch nicht, es gibt nur ein Mitrotieren oder Vorwärtsschreiten und ein Stehenbleiben oder Nichtrotieren.
Zitat 2: Es ist der Lebenszweck und die Aufgabe vieler wissenschaftlicher Geister, ihr Wissen auf Erden weiter zu geben. Wir möchten nur allen Forschern den Rat geben, den Motor, das Eins, nicht aus der Rechnung zu lassen und nicht krampfhaft nur aus Zwei, aus Kraft und Stoff zu schliessen. Das Drei ist das unumstössliche Naturgesetz; der Schluss nach Zwei findet niemals eine Basis.
Zitat 3: Der Glaube an den schaffenden Gott verliert sich auch unter den Christen, er ist von den Forschern der positiven Wissenschaft aus derselben ausgeschlossen. Diese Forscher, nur nach sichtbaren Beweisen gehend, schliessen Gott, da sie Ihn in der Schöpfung noch nicht fanden, aus der Wirkung von Kraft und Stoff aus, nicht bedenkend, dass ohne Geist, ohne Gott, ohne Motor, Kraft und Stoff ein leb- und kraftloses Nichts wären. Wenn man nur an das glaubte, was man sehen und greifen kann, so müsste bald die Wissenschaft zu nichts werden; denn eben das Unsichtbare, Geist und Kraft, beleben, bewegen, das Sichtbare - den Stoff. Wie sollte man den Geist greifen können, wenn sogar die Kraft an und für sich als solche weder sicht-, noch greifbar ist, sondern nur aus der Aktion im Stoffe als vorhanden beweisbar wird. Suchet Gott in seiner Dreieinigkeit, als Unwandelbarkeit, als Schöpfer, als Gesetz und ihr werdet Ihn besser begreifen.


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Auszüge aus der Geschichte des späten 19. Jahrhunderts

Zitiert aus 'Weltgeschichte - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart' von Joseph Boesch, Eugen Rentsch Verlag Zürich, 7. Auflage von 1984.
Die kursiven Hervorhebungen stammen teilweise von mir.  Die vorhandenen Abschnitte sind ansonsten vollständig.

31. Napoleon III. und die nationalstaatliche Bewegung
31.4 Die deutsche Einigung
31.49 Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71
Von allem Anfang an nahmen die militärischen Operationen einen für Frankreich ungünstigen Verlauf. Angesichts der jäh aufflammenden nationalen Begeisterung in ganz Deutschland durften die süddeutschen Monarchen gar nicht daran denken, sich ihrer Bündnispflicht zu entziehen; Russland, das von einer preussischen Niederlage einen Wiederaufstieg Österreichs befürchtete, mobilisierte und zwang dadurch das Habsburgerreich zur Neutralität; die deutschen Truppen waren den französischen eindeutig überlegen. Im Herbst 1870 erlitt Napoleon, der selbst zur Armee geeilt war, bei Sedan eine vernichtende Niederlage und kapitulierte. Darauf wurde in Paris die Republik ausgerufen. Der Krieg nahm mit steigender Erbitterung seinen Fortgang und endete erst, als Paris sich nach monatelanger Belagerung den Deutschen ergeben musste. Im Schatten dieser Ereignisse bemächtigte sich das Königreich Italien Roms und des restlichen Kirchenstaates, der nun ja nicht mehr von Napoleon geschützt wurde. Der daraus resultierende Konflikt zwischen der Kurie und Italien konnte erst 1929 beigelegt werden. Der Friedensvertrag, der im Frühjahr 1871 zustande kam, zwang Frankreich zur Abtretung des Elsasses und eines grossen Teiles von Lothringen. Die Gefangennahme Napoleons, der Sturz des Second Empire und die nachfolgenden Niederlagen der jungen noch ungefestigten Republik hatten Frankreich in schwerste innere Wirren gestürzt, so dass es diesen Frieden unterzeichnen musste; doch fand sich das Land innerlich nie damit ab. Hier liegt eine wichtige Ursache des mehr als vierzig Jahre später ausbrechenden Ersten Weltkrieges.

31.40 Gründung des Deutschen Reiches
Noch während der Belagerung von Paris erzwang Bismarck den Zusammenschluss der kriegführenden deutschen Staaten zum Deutschen Reich. Das kurz darauf neu gewonnene Elsass-Lothringen wurde aber nicht gleichberechtigtes Reichsglied, sondern blieb als «Reichsland» unter direkter Verwaltung des Reiches. Das trug wesentlich dazu bei, die elsässisch-lothringische Frage nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Die Reichsverfassung stimmte weitgehend mit jener des Norddeutschen Bundes überein, nur gehörten dem Reich jetzt eben auch die süddeutschen Staaten an, aus dem «Bundespräsidium» war ein «Deutscher Kaiser», aus dem «Bundeskanzler» ein «Reichskanzler» geworden. Die beherrschende Stellung Preussens war insofern etwas gemildert, als im Bundesrat nun auch noch die süddeutschen Staaten vertreten waren, so dass das preussische Übergewicht nicht mehr so erdrückend war. Nach wie vor aber bestand die personelle Verbindung zwischen preussischer und Reichsregierung: Wilhelm I. war König von Preussen und Deutscher Kaiser, Bismarck preussischer Ministerpräsident und Reichskanzler, die preussischen Staatsminister standen als Reichsstaatssekretäre an der Spitze der entsprechenden Ressorts der Reichsverwaltung. Manche Zweige der Zentralverwaltung hatte das Reich überhaupt nicht ausgebildet, sondern benutzte die entsprechenden preussischen Organe auch für die Reichsangelegenheiten; so gab es keinen deutschen, sondern nur einen preussischen Generalstab, ebenso gab es kein Reichsstaatssekretariat für das Kriegswesen, sondern nur das preussische Kriegsministerium. Diese Verfassung war ganz auf die kraftvolle Persönlichkeit Bismarcks zugeschnitten. Er getraute sich, einen festen Regierungskurs zu steuern, indem er zwischen den Widersprüchen der Verfassung lavierte: bundesstaatliche Rechtsform bei tatsächlicher Hegemonie eines Bundesgliedes, demokratisches Wahlrecht für den Reichstag bei Dreiklassenwahlrecht für das Abgeordnetenhaus der Hegemonialmacht, parlamentarische Gesetzesberatung bei halbabsolutistischer Handhabung der Exekutivgewalt. Schon in der Spätzeit Bismarcks, vor allem aber unter seinen schwächeren Nachfolgern führten diese Widersprüche das Reich in eine immer schwerere innere Krise.

31.5 Die slawische Welt
31.54 Austroslawen und Panslawismus
In den Wirren des Jahres 1848 hatte die Mehrzahl jener Austroslawen (der slawischen Bevölkerung des Habsburgerreiches), die überhaupt eine politische Stellung bezogen, für die Erhaltung des Reichsverbandes gekämpft. Das Ergebnis dieses Einsatzes war niederschmetternd: Statt der von den slawischen Führern erstrebten Entwicklung Österreichs zu einer Föderation national geprägter und sich selbst verwaltender Teilstaaten erfolgte vorerst eine scharfe Reaktion, eine Rückkehr zum schroffsten Zentralismus der sich aber auf die Dauer gegen den Widerstand aller nichtdeutschen Nationalitäten nicht mehr aufrechterhalten liess. Ebenso enttäuschend für die Slawen war dann jedoch der «Ausgleich» von 1867. So vollzog sich jetzt bei den Austroslawen ein bedeutsamer Wandel der politischen Zielsetzung: Immer kleiner wurde die Zahl jener, die noch auf eine Weiterentwicklung des dualistischen zu einem «trialistischen» Reich hofften, zu einem Reich, in dem auch die slawische Bevölkerung einen eigenen Reichsteil neben einem verkleinerten Ungarn und einem deutsch geprägten Rest-Österreich bilden würde. Auflösung der Habsburgermonarchie hiess jetzt das Ziel. Aus dem Geist der deutschen Romantik erwuchs nun auch bei den Slawen ein starkes völkisches Gemeinschaftsempfinden; die Austroslawen fühlten sich den sprach- und stammesverwandten Slawen ausserhalb der österreichisch-ungarischen Grenzen fester verbunden als den nichtslawischen Reichsangehörigen; an die Stelle der habsburgischen Reichsgesinnung trat der Panslawismus. Dabei richtete sich der Blick der Austroslawen immer intensiver auf Russland, von dem Hilfe am ehesten erhofft werden konnte, das als «grosser slawischer Bruder» idealisiert wurde. Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich auch bei den noch unter türkischer Herrschaft stehenden Balkanslawen ab. Allerdings fassten die Russen selbst den Panslawismus anders auf als die übrigen Slawen: nicht als brüderliches Zusammenwirken aller Slawen gegen die Vorherrschaft des Germanen-, Madjaren- und Osmanentums, sondern als heilige Mission Russlands, die Führung sämtlicher Slawen zu übernehmen.

31.6 Die Welt nach 1870
Im Zeitraum von knapp zwei Jahrzehnten, zwischen 1850 und 1871, waren ausserordentlich tiefgreifende Änderungen eingetreten. Die Entstehung des italienischen und des kleindeutschen Nationalstaates hatte das 1815 aufgerichtete europäische Gleichgewicht aus den Angeln gehoben; die USA waren auf blutigem Weg zu einer festeren Einheit zusammengeschmolzen; das Slawentum erwachte. Und bereits stiess diese sich wandelnde abendländische Welt aggressiv in den Raum fremder Kulturen vor, die bisher von ihr unberührt geblieben waren: Ostasien, Indochina, das Innere Afrikas. In den folgenden Jahrzehnten sollte sich diese abendländische Expansionsbewegung noch ungeheuer verstärken. Denn jetzt nahmen Naturwissenschaften und Technik einen atemraubenden Aufschwung, das Abendland wandelte sich zu einer hochindustrialisierten und bürgerlich-demokratischen Gesellschaft, deren wissensmässiges, technisches, wirtschaftliches und machtmässiges Übergewicht ihr ermöglichte, ihre Herrschaft über die ganze Erde auszudehnen.

32. Das geistige und künstlerische Leben
32.1 Die Wissenschaft im 19. Jahrhundert
32.11 Geistes- und Rechtswissenschaft
Die romantische Hinwendung zur Vergangenheit, insbesondere zum Mittelalter, befruchtete die verschiedenen Zweige der historischen Wissenschaften. So entstanden um 1820 in der Ecole des Chartes in Paris und den Monumenta Germaniae Historica in Berlin bedeutende Zentren für die Erforschung des Mittelalters; Franz Bopp schuf die vergleichende Sprachgeschichte und wies die Verwandtschaft der indoeuropäischen Sprachen nach; die Brüder Grimm sammelten methodisch altes Volkstums- und Sprachgut; die Rechtsgeschichte nahm einen bedeutenden Aufschwung. Daraus erwuchs, von Savigny begründet, die historische Rechtsschule. Sie erklärte jedes Recht als organisch gewachsene Frucht des «Volksgeistes». Das führte schliesslich zur Leugnung eines absoluten, ewigen Rechtes; das Recht erschien nur noch als Ausdruck einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden daraus die letzten Konsequenzen gezogen: Die rechtspositivistische Schule behauptete, Recht sei ausschliesslich das genormte, das gesetzlich verankerte Recht. Diese Auffassung herrschte jahrzehntelang, erst der Missbrauch der Gesetzgebungsgewalt durch die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts brachte eine Abwendung vom Rechtspositivismus.

32.12 Chemie und klassische Physik
Die erste Jahrhunderthälfte war gekennzeichnet durch eine schrittweise Weiterentwicklung mit Hilfe jener Methoden, die die Aufklärung geschaffen hatte. Michael Faraday baute die Elektrizitätslehre aus; Robert Mayer stellte 1842 das Gesetz von der Erhaltung der Energie auf; Justus von Liebig wurde bahnbrechend auf dem Gebiet der organischen Chemie, seine boden- und pflanzenchemischen Untersuchungen öffneten den Weg zu einer rationellen Anbautechnik und damit zu einer grossartigen Produktionssteigerung in der Landwirtschaft. Die zweite Jahrhunderthälfte brachte dann auf diesen Grundlagen einen fast atemraubenden Aufschwung des physikalischen und chemischen Wissens mit ungeheuren Auswirkungen auf die Technik. Kékulé erkannte in genialer Intuition die Natur des Benzolringes und eröffnete damit ein ganz neues Kapitel der theoretischen Chemie. 1869 stellten Lothar Meyer und Dimitrij Mendelejeff fast gleichzeitig das periodische System der Elemente auf; es bildete die zusammenfassende Krönung hundertjähriger Forschungstätigkeit. Maxwell und Hertz verknüpften die Elektrodynamik mit der Wellentheorie des Lichtes und vollendeten so die klassische Elektrizitätslehre. Bunsen und Kirchhoff schufen die Spektralanalyse, mit deren Hilfe sie die materielle Einheit des Universums nachwiesen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert galt die Physik als «nahezu voll ausgereifte Wissenschaft, die wohl bald ihre endgültige Form angenommen haben würde», als Wissenschaft, in der höchstens «vielleicht in einem oder dem anderen Winkel noch ein Stäubchen oder ein Bläschen zu prüfen und einzuordnen» sei - so wurde damals der junge Physikstudent Max Planck, der spätere Nobelpreisträger, von seinem Hochschulprofessor belehrt.

32.13 Darwinismus
Carl von Linné, der im 18. Jahrhundert die erste systematische Pflanzen- und Tierklassifikation schuf, hielt die Arten für unveränderliche Produkte eines einmaligen Schöpfungsaktes. Während der Romantik vertrat Jean de Lamarck demgegenüber die These von der allmählichen Entwicklung der Arten (Evolutionismus; Deszendenz- oder Abstammungstheorie). Er vermochte sich aber nicht durchzusetzen; auch erwies sich ein Hauptpunkt seiner Lehre später als Irrtum: Er erklärte die Entstehung neuer Arten nämlich durch individuelle Anpassung an veränderte Umweltsbedingungen und Vererbung der so erworbenen neuen Eigenschaften. Erst Charles Darwin brach dem Evolutionismus Bahn mit seinem 1859 erschienenen reich dokumentierten Werk «Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl». Er ging von der Beobachtung aus, dass jede Art mehr Nachkommen erzeugt, als überleben können, das heisst, mehr als zur Erhaltung des Artbestandes nötig sind; dass ferner unter den Individuen derselben Art immer wieder «Variationen» auftreten, welche mindestens teilweise vererbbar sind. Aus diesen beiden grundlegenden Beobachtungen zog er den Schluss, dass Individuen mit günstigeren «Variationen» im natürlichen Existenzkampf häufiger zur Fortpflanzung kommen als solche mit ungünstigen. Das bezeichnete er als «natural selection» (meist, wenn auch etwas irreführend, übersetzt mit «natürliche Zuchtwahl»). Das Kernstück des Darwinismus ist der Gedanke, das Zusammenspiel von «Variationen» und Selektion führe zwangsläufig zu einer langsamen Veränderung der Arten, zu einer Evolution, im Sinne einer immer besseren Anpassung an die Umwelt. Zur Frage aber, wie die a Variationen» entstehen, äusserte sich Darwin nicht. In seinem zweiten Hauptwerk «Die Abstammung des Menschen» (1871) übertrug er den Evolutionsgedanken dann auch auf den Menschen. Schon das erste Werk Darwins fand sofort überaus grosse Beachtung; wenige Jahrzehnte später war der Evolutionismus bereits eine der tragenden Grundlagen der Biologie. Vielfach wurde dabei allerdings die Darwinsche Selektionslehre verknüpft mit dem auf Lamarck zurückgehenden Vererbungsgedanken, und in dieser Form fand der Darwinismus gegen Ende des Jahrhunderts Eingang in unzählig viele populärwissenschaftliche Darstellungen, obwohl die erstaunlicherweise ganz unbeachtet gebliebenen Arbeiten von Mendel schon damals hätten zeigen können, dass solche Auffassungen unhaltbar sind. Der Darwinismus prägte nicht nur die Biologie bis zum heutigen Tage, sondern übte darüber hinaus auch auf das gesamte abendländische Denken einen ungeheuren Einfluss aus. Weil der Evolutionsgedanke mit dem Wortlaut der Schöpfungsgeschichte in einem nicht zu überbrückenden Gegensatz steht, führte er zu einer neuen Erschütterung der strengen Bibelgläubigkeit und wurde zum Kampfpanier aller Atheisten. So wollte auch Karl Marx sein Hauptwerk «Das Kapital» Darwin widmen, was dieser, religiös auf dem Boden des Deismus stehend, allerdings ablehnte. Von kaum zu überschätzender Bedeutung war, dass sich aus der Darwinschen Theorie durch Übertragung der Selektionslehre auf das menschliche Zusammenleben der sogenannte Sozial- oder Vulgärdarwinismus entwickelte. Für den «Sozialdarwinisten» ist einziger Lebenszweck die Behauptung im Daseinskampf; den Sinn der Geschichte sieht er im Aufstieg der lebenskräftigen, kämpferischen Völker und im Untergang der «lebensuntauglichen», Recht bedeutet für ihn letztlich nur das «natürliche Recht des Stärkeren.

Anmerkung zur Biographie von Darwin:
Charles Darwin hätte eigentlich, der Familientradition folgend,Geistlicher oder Arzt werden sollen; zu beidem fühlte er sich nicht berufen. So griff er, der schon als Knabe sich leidenschaftlich für Naturgeschichte interessiert hatte, mit Begeisterung zu, als sich ihm im Alter von zweiundzwanzig Jahren die Möglichkeit bot, eine mehrjährige Expedition in den Stillen Ozean zu begleiten (1831 - 1836). Mit nie erlahmendem Fleiss, hervorragender Beobachtungsgabe und scharfem Blick für das Wesentliche sammelte er ein gewaltiges Material. Nach Hause zurückgekehrt, erlaubten es ihm seine Vermögensverhältnisse, sich ganz der wissenschaftlichen Arbeit, der Ergänzung und der Auswertung seiner Beobachtungen, zu widmen. Der Fünfzigjährige konnte endlich 1859 die Ergebnisse seines unermüdlichen Schaffens in dem Werk «On the origin of species by means of natural selection» niederlegen.

32.14 Medizin
Von den dreissiger Jahren des 19. Jahrhunderts an ermöglichten Immersionsmikroskope, die Welt der Bakterien zu entdecken, aber erst als 1855 eine brauchbare Methode zur Färbung mikroskopischer Präparate erfunden wurde, nahm die bakteriologische Forschung einen gewaltigen Aufschwung und revolutionierte die Medizin. Bald bildeten Hygiene, Aktivierung der natürlichen Abwehrstoffe durch Impfung und vereinzelt auch schon bakterizide (bakterienabtötende) Mittel die Waffen im Kampf gegen die durch Bakterien verursachten Krankheiten. Wichtige Vorläufer in diesem Bemühen waren Edward Jenner, Ignaz Philipp Semmelweis, der als erster durch strikte Beachtung von Reinlichkeit das bisher verheerende Kindbettfieber zurückzudrängen vermochte, und die grossen Bakteriologen Schönlein und Cohn. Im letzten Jahrhundertviertel wurde diese Richtung der Medizin immer weiter ausgebaut; zu den bedeutendsten und segensreichsten bakteriologischen Forschern gehören Pasteur, Koch Ehrlich und Virchow. Zahlreiche Krankheiten, die bisher unausweichliche Geisseln des Menschengeschlechtes zu sein schienen, verschwanden in Europa ganz: Pest, Cholera, Pocken und Kindbettfieber; andere wurden wenigstens eingedämmt: Wundfieber, Typhus, Diphtherie, Tuberkulose und Syphilis. Vertieftes Wissen um Bau und Funktionen der menschlichen Körperorgane, die Grundsätze steriler Wundbehandlung, die Kenntnis der Anästhesie, endlich die Röntgendiagnose liessen vom ausgehenden Jahrhundert an auch die Chirurgie zu einem immer wichtigeren Mittel im Kampf um die menschliche Gesundheit werden. Mit dem Anbruch des neuen Jahrhunderts endlich entstand ein ganz neuer Zweig der medizinischen Wissenschaft: die Erforschung der seelischen Erscheinungen.

32.2 Philosophie und christliche Kirchen
32.21 Hegelianismus
Im zweiten Viertel des Jahrhunderts beherrschte Hegel (1770 - 1831) das philosophische Denken des Abendlandes. Er legte seinen Lehren den vom Idealismus übernommenen Gedanken zugrunde, dass Geist und Materie getrennt seien, dass der Geist, den er mit der Vernunft gleichsetzte, die Wirklichkeit und ihre Entwicklung bestimme. Entsprechend sah er in allem Geschehen einen vernünftigen und zielgerichteten Prozess: den «Fortschritt zum Bewusstsein des Geistes», das heisst das Eingehen aus der Individualität in die höhere Gemeinsamkeit des Geistes. Das Mittel, dessen sich der «Weltgeist» zur Erreichung dieses Zieles bediene, sei der dialektische Kampf: Jede Epoche ist geformt durch eine Idee (die Thesis) und schafft dadurch auch ihren Widerspruch (die Antithesis); der Kampf führt zur Verschmelzung beider, zur Synthesis, die aber gerade dadurch zur neuen Thesis wird. Weil jede Stufe dieser dialektischen Entwicklung notwendig ist, folgt auch: «Alles Wirkliche ist vernünftig, alles Vernünftige ist wirklich.» Aus diesen Gedanken haben die Schüler Hegels ganz verschiedene Folgerungen gezogen: Marx und Engels übertrugen die Dialektik aus der Welt der Ideen auf jene der Produktions- und Klassenverhältnisse; die «Junghegelianer» griffen vor allem den Fortschrittsgedanken auf und suchten mit ihm liberale, antikirchliche und vereinzelt sogar anarchistische Forderungen zu rechtfertigen; die «Hegelsche Rechte» dagegen machte die von Hegel behauptete Gleichsetzung dessen, was ist, mit dem, was sein solle, zur Stütze des politischen Konservativismus.

32.22 Positivismus
In der zweiten Jahrhunderthälfte setzte sich unter den Gebildeten des Abendlandes die Meinung durch, einzig das objektiv («positiv») Feststellbare sei der wissenschaftlichen und philosophischen Bearbeitung zugänglich; objektiv feststellbar sei aber nur, was sich mit den Sinnen, mit naturwissenschaftlichen Beobachtungsmethoden, erkennen lasse. Deshalb verwarf der Positivismus alle Auseinandersetzungen über metaphysische (transzendentale) Fragen. Seine Wurzeln liegen im Sensualismus; in ein philosophisches System gebracht wurde er durch Auguste Comte. Der naturwissenschaftliche und technische Aufschwung der abendländischen Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert ist aufs engste mit der positivistischen Geisteshaltung verknüpft, ja basiert geradezu auf ihr. Vielfach diente der Positivismus aber auch lediglich zur Rechtfertigung eines geistiger Trägheit entspringenden Unvermögens, sich mit weltanschaulichen Fragen auseinanderzusetzen.

32.23 Materialismus
Neben dem Positivismus und mit diesem vielfach sich überschneidend, ist der Materialismus charakteristisch für das ausgehende 19. und das frühe 20. Jahrhundert. Ein geschlossenes philosophisches System von weitreichender Wirkung entwickelte allerdings, auf der Grundlage der Ideen von Marx, nur Engels mit dem Dialektischen Materialismus. Doch übte während einiger Jahrzehnte auch Haeckels «Monismus», ein rein naturwissenschaftlich fundiertes System des Materialismus, einen starken Einfluss aus. Haeckel war einer der frühesten und bedeutendsten Anhänger Darwins, der sich sowohl um die wissenschaftliche Weiterentwicklung als auch um die Popularisierung der Darwinschen Gedanken grosse Verdienste erwarb. Als Philosoph leugnete er die besondere, von der Materie getrennte Natur des Geistes, hielt auch den Geist für einen Teil der Materie, denselben mechanisch-physikalischen Naturgesetzen unterworfen wie die übrige Materie. Um den Monismus vom «klassischen» Materialismus der Aufklärungszeit zu unterscheiden, bezeichnet man ihn als naturwissenschaftlichen Materialismus. Auch der Sozialdarwinismus mündete vielfach in ein ausgeprägt materialistisches Denken, insofern dem Begriff der «Lebenstauglichkeit» rein körperliche Kriterien zugrunde gelegt wurden. Vor allem aber blieb die Grenze zwischen Positivismus und Materialismus vielfach fliessend; die Behauptung, nur das sinnlich Wahrnehmbare könne Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein, führte leicht zur Leugnung jeder Metaphysik.

32.24 Katholische Kirche
Nach 1850 bezog das Papsttum eine scharfe Kampfstellung gegen alle Zeitströmungen liberaler, positivistischer und materialistischer Art. Die Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariae (1854) wurde weitherum als ein Hohn auf alle wissenschaftliche Erkenntnis (im Sinne des Positivismus) empfunden; die Verurteilung der «Zeitirrtümer» (wie Liberalismus, Rationalismus, Trennung von Kirche und Staat) im «Syllabus errorum» (1864) war eine offene Kampfansage an den Geist der zweiten Jahrhunderthälfte. Vor allem führte die Erklärung des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870, dass der Papst, wenn er ex cathedra zur Gesamtkirche spreche, in Fragen des Glaubens und der Sitte unfehlbar sei, zu heftigen Reaktionen sogar innerhalb des Katholizismus: Die Altkatholische (oder Christkatholische) Kirche trennte sich von der Römisch-Katholischen Kirche. Auch führte das Unfehlbarkeitsdogma in Deutschland und in mehreren Schweizer Kantonen zu einem heftigen Kampf der Staatsgewalt gegen die Römisch-Katholische Kirche («Kulturkampf»). Innerkirchlich schien das Vatikanische Konzil die jahrhundertelangen Auseinandersetzungen zwischen Papst und Konzil um die oberste Führungsgewalt abzuschliessen. So trat auch über neunzig Jahre lang kein Konzil mehr zusammen.

32.25 Protestantismus
Während die Katholische Kirche in der zweiten Jahrhunderthälfte eine grosse Geschlossenheit gewann und auf einen scharfen Kampfkurs gegen die «Zeitströmungen» festgelegt wurde, spaltete sich der Protestantismus, über alle Unterschiede seiner Kirchenorganisationen hinweg, immer eindeutiger in eine offenbarungsgläubige (orthodoxe; in der Schweiz: «positive») und in eine liberale (in der Schweiz: «freisinnige») Richtung. Jene bejahte die göttliche Natur Christi, diese verneinte sie; jene hielt daran fest, dass die Heilige Schrift geoffenbarte, über aller menschlichen Vernunft stehende Wahrheit beinhalte, diese fasste, unter dem Einfluss Hegels, den Bibeltext nur noch als Ausdruck einer bestimmten, geschichtlich geprägten Situation auf. Dazu traten zahlreiche Differenzen über Art und Bedeutung der Liturgie. So wurde der Protestantismus zu einer Religion des Individualismus und einer Freiheit, die sich jeder kirchlichen Führung und Dogmatisierung entzog. Die protestantischen Kirchen waren deshalb nicht mehr in der Lage, als Ganzes Stellung zu den Zeitfragen zu beziehen.

32.26 Auflehnung gegen Rationalismus und Positivismus
Um die Jahrhundertwende erfüllten Fortschrittsglaube und Vertrauen in die nur positivistisch aufgefasste Wissenschaft die breiten Massen. Auch setzte in noch nie dagewesenem Ausmasse eine Popularisierung der Wissenschaft ein: Ausbau des öffentlichen Schulwesens, Arbeiterbildungskurse und Volkshochschulen, populärwissenschaftliche Darstellungen zu niedrigsten Preisen und Volksbibliotheken öffneten auch den nichtakademischen Kreisen den Zugang zur Wissenschaft. Aber dieser vorwärtsdrängenden und zukunftsgläubigen Gesinnung stand ein tiefer Kulturpessimismus gerade der führenden Geister gegenüber, die Positivismus und naturwissenschaftliches Denken nicht mehr als genügend tragfähige Grundlage ansahen, Diese Auflehnung gegen die «bürgerliche Welt» des ausgehenden Jahrhunderts, gegen Rationalismus, Positivismus und Materialismus, das Suchen nach neuen und irrationalen Werten zeigte sich zuerst in der Literatur, griff dann aber sofort auch auf das Gebiet der Philosophie über. Henri Bergson wurde der Verkünder einer neuen Metaphysik. Er behauptete, wie dies schon die idealistische Philosophie getan hatte, dass der Geist von der Materie getrennt sei, diese beherrsche und den eigentlichen Grund der Welt bilde («Spiritualismus»), und definierte das Wesen dieses mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht fassbaren Geistes als «elan vital». Friedrich Nietzsche, unsystematisch, aber begabt mit leidenschaftlich mitreissender Sprachgewalt, verherrlichte die einmaligen Werte der Kraft, des Stolzes, des Egoismus, verdammte mit schneidendem Hohn die «Sklavenmoral» der Tugend, der Selbstverleugnung und des Mitleids. Vor allem die Jugend Deutschlands stand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stark unter der Faszination seiner blendend formulierten Gedanken, die das Rüstzeug lieferten für alle aktivistisch-antidemokratischen Bewegungen, für alle antiliberale und antirationalistische Kulturkritik. Vielfach, insbesondere in der romanischen Welt, verknüpfte sich der Einfluss Nietzsches mit jenem von Georges Sorel, der seine Lehre auf dem Gedanken aufbaute, dass bei jeder geschichtlichen Entwicklung die Gewalt die treibende Kraft darstelle.

32.3 Die wissenschaftlichen Umwälzungen um 1900
32.31 Anfänge der Atomphysik
Mit der Jahrhundertwende wurden Physik und Chemie, die eben noch als praktisch abgeschlossene, kaum noch ausbaufähige Wissenschaften gegolten hatten, im Zeitraum von wenigen Jahren auf völlig neue Grundlagen gestellt;damit wandelte sich auch unser ganzes Weltbild. Nachdem Röntgen die nach ihm benannten Strahlungsarten festgestellt und ärztlichen Zwecken nutzbar gemacht hatte, entdeckte und beschrieb das Ehepaar Curie 1898 die Strahlen des Elementes Radium. Zwei Jahre später zeigte Ramsay, dass von den drei Strahlenarten des Radiums die «Strahlen nichts anderes seien als Heliumatome (wie seither erkannt wurde: Heliumkerne). Noch einmal zwei Jahre später zog Lord Rutherford daraus den zwingenden, aber die ganze klassische Physik umstürzenden Schluss, dass auch die Atome teilbar und aus wenigen stets gleichen Grundkörpern aufgebaut sind, dass sie sich nur unterscheiden durch wechselnde Kombination dieser Grundkörper, von denen er allerdings erst Protonen und Elektronen kannte.

32.32 Quanten- und Relativitätstheorie
Schon etwas früher, Ende des Jahres 1900, hatte Max Planck seine Quantentheorie veröffentlicht: Die Strahlungsenergie wirke nicht kontinuierlich, sondern gleichsam stossweise; entsprechend 'gebe es ein kleinstes Wirkungsquantum als absolute, invariable Grösse; alle Energiequanten seien das Produkt der Strahlungsfrequenz und dieses Wirkungsquantums, das Planck auch berechnete. Das schlechthin Unvorstellbare dieser Theorie liegt darin, dass das Wirkungsquantum selbst ein Produkt aus Raum und Zeit darstellt. Albert Einstein ging 1905, im Alter von erst sechsundzwanzig Jahren, einen Schritt weiter: Er wies in seiner speziellen Relativitätstheorie nach, dass die Lichtgeschwindigkeit eine absolute Grösse sei, gleich für alle Raumgerüste und unabhängig von deren Eigengeschwindigkeit. Auch diese Aussage übersteigt das menschliche Vorstellungs-, wenn auch nicht das menschliche Denkvermögen. Wie schon für Planck, so verschmolzen auch für Einstein Materie und Energie; auch für ihn traten Raum und Zeit in neue und unvorstellbare (wenn auch denkbare und mathematisch formulierbare) Beziehungen.

32.33 Verbindung von Quantentheorie und Atomphysik
1913 endlich verknüpfte der achtundzwanzigjährige Niels Bohr die Quantentheorie Plancks mit der Atomlehre Rutherfords. Wie dieser dachte sich auch Bohr den Atomaufbau als ein mikrokosmisches Planentensystem, bei dem die Elektronen um den aus Protonen gebildeten Kern kreisen. Doch zeigte nun Bohr, dass das Plancksche Wirkungsquantum die Bahn der Elektronen bestimme und dass sie diese Bahn in «Quantensprüngen» ändern können, wobei sie entsprechende Energiemengen entweder abgeben oder absorbieren. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie, eine der wichtigsten Grundlagen der bisherigen Physik, war in seiner klassischen Form nicht mehr haltbar: Energie lässt sich in Materie, Materie in Energie verwandeln! Zwar zeigte sich später, dass Bohrs «Atommodell» (Elektronen, die in der geschilderten Weise den Protonenkern umkreisen) die Verhältnisse zu sehr vereinfachte, doch eröffnete es einen Weg, der in den folgenden Jahrzehnten zu immer neuen Erkenntnissen führte und dessen Ende heute noch kaum abzusehen ist.

32.34 Mutationstheorie
Schon 1865 hatte Gregor Mendel die grundlegenden Vererbungsgesetze am Pflanzenversuch beobachtet und publiziert; seine Arbeit blieb jedoch unbeachtet. Erst um die Jahrhundertwende entdeckten de Vries, Correns und Tschermak, gleichzeitig und unabhängig voneinander, diese Gesetze wieder und benannten sie nach Mendel. Hugo de Vries erkannte nun auch, dass die «Variationen» Darwins nicht durch Vererbung individuell erworbener Eigenschaften zustande kommen können, sondern, dass sie erklärt werden müssen durch Änderungen der Erbanlage. Solche Änderungen bezeichnete er als Mutationen; sie sind zwar sprunghaft, aber meist nur geringfügig. Die Darwinsche Selektionslehre erhielt durch die Mutationstheorie und später dann insbesondere auch durch die statistischen Erwägungen der Populationsgenetik ein viel breiteres Fundament; in dieser erweiterten Form, in dieser Verbindung mit der Mutationstheorie wird sie als Neodarwinismus bezeichnet. Erst diese Verbindung vermochte eine weitgehend befriedigende Erklärung der Evolution zu bieten. Aber den Mutationsvorgang selbst konnte de Vries noch nicht erklären; das Ringen um eine solche Erklärung bildet einen wesentlichen Teil der seitherigen biologischen Forschungstätigkeit.

32.35 Medizin
Im 19. Jahrhundert war die medizinische Forschung vorwiegend naturwissenschaftlich orientiert und befasste sich fast ausschliesslich mit den organischen und durch naturwissenschaftliche Beobachtung feststellbaren Krankheitserscheinungen. Diese Forschungsrichtung wurde auch im neuen Jahrhundert erfolgreich weitergepflegt doch rückte von der Jahrhundertwende an neben dem Körper auch wieder die Seele des Menschen ins Blickfeld der Medizin.
Das war hauptsächlich die Wirkung der zahlreichen Arbeiten von Sigmund Freud, der die These verfocht, viele körperliche Störungen seien psychischen Ursprunges und kämen dadurch zustande, dass seelische Erschütterungen nicht eigentlich verarbeitet und überwunden, sondern lediglich ins «Unterbewusstsein» verdrängt würden. Von dort aus vermöchten sie das seelische und durch dieses auch das organische Leben nach wie vor störend zu beeinflussen. Einen Heilungsweg sah Freud in der «Psychoanalyse». Das Verdrängte sollte wieder bewusst gemacht werden. Den Ursprung solcher schädigender Verdrängungen glaubte Freud vor allem im sexuellen Bereich feststellen zu können. Wenn auch in den folgenden Jahrzehnten viele der bedeutendsten seiner Schüler diese enge Basis verliessen, so ist die moderne Psychologie als ganzheitliche, Körper und Seele umspannende Lehre vom Menschen doch durch Freud aufs stärkste befruchtet worden.

32.4 Kunst und Literatur
32.41 Realismus
Ohne scharfe Grenze, allmählich, flossen um die Jahrhundertmitte Spätromantik und Biedermeier in den Realismus über. In der Literatur sind Balzac und Mérimée ebenso wie Mörike, Stifter und Storm Ausdruck dieses Überganges, in der Malerei Millet, Corot und Courbet. Für die Geschichtsschreibung ist Ranke repräsentativ mit seinem Ziel, zu zeigen, «wie es wirklich war». In der Musikgeschichte stehen Brahms, Bruckner, Verdi und Wagner in. dieser Übergangszeit, die ersteren stärker der Romantik, die letzteren mehr dem Realismus verhaftet. Doch entzieht sich insbesondere Richard Wagner einer solchen Klassifikation: Mit seinem Streben nach dem Gesamtkunstwerk steht er einsam in der neueren Musikgeschichte; mit der von ihm im « Tristan» erstmals gewagten Sprengung der Harmonik leitet er bereits zur modernen Musik über; mit seiner idealisierenden Verherrlichung des Germanentumes übte er aber auch eine verhängnisvolle politische Wirkung aus. Erfassung und genaue, wenn auch künstlerisch geläuterte Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit war das Anliegen der realistischen Kunst, die das dritte Viertel des Jahrhunderts beherrschte: Dickens, Turgenjew, Gottfried Keller, Flaubert und Fontane auf dem Gebiet der Literatur, Manet und Menzel in der Malerei, Smetana in der Kompositionskunst sind ihre wichtigsten Vertreter. Bei der Geschichtsschreibung ist die starke Hinwendung zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bezeichnend, doch stand daneben, zeitbedingt, auch eine ausgeprägt politisch engagierte Richtung, die eine bedeutende Wirkung auf die Öffentlichkeit ausübte. Späte und von einem leicht ironischen Skeptizismus geprägte Vertreter des dichterischen Realismus sind Anatole France und Thomas Mann in seinen früheren Werken.

32.42 Impressionismus: Diese Stilbezeichnung wird fast ausschliesslich für die Malerei verwendet. Wie die Realisten so stellten sich auch die Impressionisten das Ziel, die sichtbare Wirklichkeit nachzubilden, aber es ging ihnen dabei weder um die Erfassung aller Details noch um die klaren linearen Formen, sondern um das Festhalten des ersten, gleichsam flüchtigen Eindrucks, vorzüglich der Farb- und Lichterscheinungen. Einer ihrer ersten Ausstellungskataloge umreisst das mit den Worten: «Einen Gegenstand um seiner Töne und nicht um seiner selbst willen abbilden zu wollen, unterscheidet die Impressionisten von den anderen Malern.» Von den alten Meistern übte Velàsquez den stärksten Einfluss auf sie aus. Diese neue Richtung, letztlich nur eine kaum mehr zu überbietende Steigerung des Realismus, setzte im letzten Jahrhundertviertel in Frankreich ein (Renoir, Monet, Degas, aber auch Manet in seinen Spätwerken), eroberte um die Jahrhundertwende den breiten Publikumsgeschmack und breitete sich über Europa aus (Liebermann und Corinth in Deutschland, Anders Zorn in Schweden). Oft wird auch der grosse Bildhauer Rodin dem Impressionismus zugerechnet, weil er durch lockere Behandlung der Oberfläche und starke Durchgliederung eine gesteigerte Lichtwirkung erreicht; gelegentlich werden auch die Kompositionen von Debussy als impressionistisch bezeichnet.

32.43 Naturalismus: Als die impressionistische Malerei sich durchzusetzen begann, erfuhr auch die Literatur eine äusserste Steigerung des Realismus. Während aber der Impressionismus vorab das Schöne suchte und gestaltete, übten die Naturalisten schneidende Kritik an der bürgerlichen Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, erhoben soziale Anklagen, suchten und schilderten in oft krasser Übersteigerung der Milieu- und Vererbungslehre die Schattenseiten menschlicher Existenz. Dostojewskij, Zola, Ibsen, Hauptmann, Upton Sinclair und Jack London übten den stärksten Einfluss aus. In der bildenden Kunst vertritt Käthe Kollwitz diese Richtung.

32.44 Irrationalismus in der Literatur: Die um die Jahrhundertwende einsetzende Auflehnung gegen die völlig diesseitsbezogene, rationalistische und vom Geist des Positivismus geprägte Welt des abendländischen Bürgertumes führte zu zahlreichen Versuchen, das Irrationale künstlerisch auszudrücken, eine «Symbolsprache» zu finden, die es erlaube, das sinnlich nicht Wahrnehmbare zu gestalten. Die dichterischen Stilmittel, die dabei zur Anwendung gelangten, sind ganz verschieden." Sie reichen von einer äusserlich realistischen, aber hintergründigen Darstellung (Tolstoj, der ältere Dostojewskij) über lyrisch-musikalische Gestaltung (Verlaine, Hofmannsthal, Rilke) bis zum mystischen Symbolismus (Stefan George, d'Annunzio, Rimbaud).

32.45 Jugendstil: Dieser bisher letzte gesamtabendländische Kunststil versuchte eine neue symbolgeladene Formensprache zu entwickeln. Durch langhinströmende Linien und floreale Ornamente wollte erdas Wesen der Vitalität gestalten, sich mit den Rätseln des Lebens auseinandersetzen. Es ist falsch, den Jugendstil nur im Kunstgewerbe und in dekorativen Einzelheiten zu sehen; auch zahlreiche, meist dem Expressionismus zugerechnete Maler waren ihm verhaftet (Munch, van Gogh, Matisse, der junge Picasso, Hodler); ebenso lassen sich die Stromlinienformen der funktionalen Bauweise auf Jugendstileinflüsse zurückführen.

32.46 Irrationalismus in der Malerei: Der Norweger Munch und der Holländer van Gogh stehen am Anfang des Expressionismus. Die Expressionisten verfolgten nicht mehr das Ziel, die optisch fassbare Wirklichkeit nachzubilden, sondern sie suchten das Hintergründige, die geheimnisvollen Kräfte der Seele sichtbar zu machen. Dabei verwendeten sie zwar durchaus Elemente aus der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren, formten diese aber ihren Absichten entsprechend um, ohne Rücksicht auf die «optische Wirklichkeit». Der Expressionismus gewann vor allem in Deutschland viele Anhänger: Marc, Kirchner, Heckel, Nolde, Beckmann und zahlreiche weitere. In Frankreich standen «les fauves» (die «Wilden»: Gauguin, Matisse, Utrillo) dem Expressionismus nahe, doch waren sie weniger mystisch und übersteigert als die Deutschen, stärker dem Erbe des Impressionismus verpflichtet. In der Bildhauerei entwickelten Maillol und vor allem Barlach einen eigenartigen, gedrungen-blockhaften Stil.
Auf ganz anderem Wege erstrebte der Primitivismus («la peinture naive»), der auf den Laienmaler Henri Rousseau zurückgeht, die «Überwindung der optischen Wirklichkeit»: Durch bewusst volkstümliche Manier, die sich bald von der eigentlichen Volkskunst, bald von archaischen Stilperioden der Vergangenheit inspirieren liess, appelliert er an die Phantasie.
Eine weitere Steigerung brachte der Surrealismus, der in scheinbar widersinniger, aber symbolträchtiger Weise Gegenstände und Erscheinungen der sichtbaren Welt zusammenstellt. In der Literatur entspricht ihm der während des Ersten Weltkrieges aufkommende, aber rasch wieder verschwindende Dadaismus: Lautfolgen ohne Wortsinn oder sinnlose Wortkuppelungen.
Alle diese Tendenzen wurzeln zwar schon in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, entfalteten sich kräftig aber doch erst in den zwanziger Jahren.

32.47 Gegenstandslose oder abstrakte Kunst: Von Paul Cezanne (1839 - 1906) geht jene Richtung aus, die am nachhaltigsten das Gesicht der modernen Malerei und Bildhauerei prägte. Cezanne suchte die Formen nicht mehr durch Linien zu begrenzen, sondern mit Farben zu modellieren, wobei er immer mehr auf ganz klare und einfache Grundformen tendierte. Pablo Picasso und Georges Braque entwickelten daraus, von 1907 an, den Kubismus. Von dort aus war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur eigentlich gegenstandslosen Malerei. Diesen Schritt tat 1910/11 Wassily Kandinsky.
Das Revolutionäre ist die Komposition eines «absoluten Raumes» aus abstrakten Form- und Farbelementen, das heisst eines Raumes, der nicht mehr von einem bestimmten Punkt, sondern gleichzeitig von den verschiedensten Gesichtspunkten aus gesehen wird. Seit florentinische Meister anfangs des 15. Jahrhunderts die Gesetze der Perspektive entwickelten, war die abendländische Malerei durch die perspektivische Gestaltung geprägt; nach fünfhundert Jahren begann sich jetzt erstmals wieder eine nichtperspektivische Darstellung durchzusetzen.
Viele der hier bereits genannten Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, ferner etwa Chagall, Rouault und Paul Klee lassen sich allerdings keiner der angeführten Richtungen - Expressionismus, Fauvisme, Surrealismus, peinture naive, Kubismus und abstrakte Kunst - eindeutig und mit allen Teilen ihres Werkes zuordnen. Die Einflüsse und Tendenzen überschneiden sich. Gemeinsam aber ist ihnen allen, wie auch den Dichtern dieser Zeit, das Suchen nach neuen Formen und Ausdrucksmitteln, nach einem neuen Halt und Ziel in einer als brüchig empfundenen Welt.

32.48 Atonale Musik: Schon Richard Wagner hatte wiederholt die Gesetze der funktionellen Harmonik gesprengt; konsequent verwendete dann Claude Debussy unaufgelöste dissonante Akkordketten, ohne aber mit einem ganzen Kompositionswerk den Boden der Tonalität zu verlassen. Erst Arnold Schönberg (1874-1951) wagte 1908 diesen Schritt. In den nachfolgenden zwei Jahrzehnten entwickelte er dann die Theorie des Zwölftonsystemes, für das er allerdings keine ausschliessliche Geltung verlangte; er behauptete lediglich, tonal ungebundene Musik sei «durch den Reichtum ihrer Kombinationen, Gedanken und Tonbilder von vornherein zu einer höheren Entwicklung prädestiniert». Aber wie er selbst noch Werke schuf, die den Gesetzen der funktionellen Harmonik folgen, so stehen auch im Musikleben der Gegenwart die beiden Gestaltungsarten nebeneinander.

32.49 Baukunst: Am zähesten verharrte die Architektur im Historismus. Immerhin zeichnete sich auch hier schon vor 1914 jener Stil ab, der nach dem Ersten Weltkrieg zum Durchbruch kommen und den Historismus überwinden sollte: die funktionale Bauweise unter vorzüglicher Verwendung der neuen Baumaterialien Stahl, Beton und Glas. Richtungweisend waren Auguste Perret in Frankreich und Peter Behrens in Deutschland. Ein Behrens-Schüler errichtete 1912 in La Chaux-de-Fonds sein erstes Eisenbetongebäude: Charles-Edouard Jeanneret, der später unter dem Künstlernamen Le Corbusier zum kühnsten und folgerichtigsten Vertreter dieser neuen Architektur werden sollte.

32.5 Der Umbruch um 1900
Die geistige Unruhe des beginnenden 20. Jahrhunderts muss als ein Ganzes gesehen werden: Nietzsche, Irrationalismus in Literatur und bildender Kunst, Freuds « Tiefenpsychologie», die gärende Jugendbewegung des «Wandervogels», die sich häufenden sozialen Anklagen, die Abkehr von Tonalität, Perspektive und historisierenden Bauformen sind doch nur verschiedene Aspekte ein und derselben Erscheinung: eines sich verstärkenden Gefühls des Unbehagens, der Unlust - gerade auf dem Höhepunkt der technischen, wirtschaftlichen und politischen Geltung des Abendlandes.

33. Industrialisierung und Sozialismus
33.1 Die «Industrielle Revolution»
33.11 Mechanisierung: Das auffälligste Merkmal der Industrialisierung ist der Übergang von vorwiegend handwerklichen zu vorwiegend maschinellen Produktionsmethoden. Eine eindeutige begriffliche Unterscheidung zwischen Handwerk und Industrie ist allein auf Grund dieser Erscheinung allerdings unmöglich, denn Maschinen gab es schon in der vorindustriellen Wirtschaft, auch vermögen sie die menschliche Arbeitskraft nie vollständig zu ersetzen; sie bewirken nur eine Verlagerung der Arbeitstätigkeit.

33.12 Arbeitsteilung: Im Vergleich zur vorindustriellen Wirtschaft weist die Industrie eine viel weiter getriebene Arbeitsteilung auf, das heisst der Produktionsvorgang ist in eine Reihe von Einzelprozessen zerlegt, wobei jeder dieser Prozesse wieder einen anderen Maschinentyp verlangt. Die Arbeitsteilung bedingt eine rationelle Betriebsorganisation, damit die Werkstücke ohne Stockungen von einem Verarbeitungsvorgang zum nächsten weiterfliessen. Am besten wird das gewährleistet durch die Zusammenfassung der einzelnen Produktionsvorgänge imFabrikbetrieb; auch die Abhängigkeit der einzelnen Verarbeitungsmaschinen von einer zentralen Antriebskraft (im 19. Jahrhundert meist: Dampfmaschine) drängte zu solcher fabrikmässigen Konzentration.
Arbeitsteilung und Fabrikbetrieb aber verlangen eine Arbeitsdisziplin, eine Unterordnung jedes einzelnen Arbeitsvorganges unter einen genauen Zeitplan, die unendlich viel straffer und härter ist als in der vorindustriellen Zeit.

33.13 Gesteigerte Produktionskapazität: Damit sich die hohen Anschaffungskosten der industriellen Ausrüstung auf möglichst viele Einzelstücke verteilen, muss die Produktionskraft voll ausgenutzt werden. Das hat zahlreiche Konsequenzen. Es bedingt vorerst den reibungslosen Zufluss grosser Rohstoffmengen und einen weitgespannten Absatzmarkt. Beides setzt die Möglichkeit ungehinderten Handels und eine gute Verkehrslage voraus: An wirtschaftsgeographisch günstigen Standorten ballt sich die Industrie. Ferner kann die industrielle Produktionskapazität nur ausgeschöpft werden, wenn genügend menschliche Arbeitskraft zur Verfügung steht: Industrie konnte sich also nur entfalten, wo Menschen in grosser Zahl fähig sind, sie zu tragen.
Endlich ist auch der grosse Kapitalbedarf der Industrie wenigstens zum Teil eine Folge ihrer hohen Produktionsleistung (vermehrte Aufwendungen für Rohmaterialien und Löhne), doch wird dieser Kapitalbedarf natürlich auch durch die Investitionen für Fabrikanlagen und Maschinenpark bedingt: Ohne grossen Kapitaleinsatz kann die industrielle Produktion nicht aufgenommen werden; mit der Industrie bricht die Zeit des Hochkapitalismus an.

33.14 Gesamterscheinung der Industrialisierung:Die Voraussetzungen für den Übergang zur industriellen Produktion sind also technische Fortschritte (Maschinen), Kapital, menschliche Arbeitskraft in ausreichender Zahl und Qualität, verkehrsgünstige Lage, Möglichkeit des freien Güteraustausches, genügend grosser Absatzmarkt. Wo diese Bedingungen erfüllt waren, kam es zur «Industriellen Revolution». zum Aufbau einer stark arbeitsteiligen und vorwiegend maschinellen Produktion, konzentriert in kapitalintensiven Fabrikbetrieben und Industrieregionen.

33.15 Ausbreitung der Industrie: Die sogenannte «Industrielle Revolution» ist nicht ein einmaliger, ein plötzlicher, sondern vielmehr ein kontinuierlich fortschreitender Prozess. Er setzte im ausgehenden 18. Jahrhundert in England ein, ergriff sofort das amerikanische Neuengland, dann, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das kontinentale Westeuropa, um 1850 Mitteleuropa und in Nordamerika das Gebiet südlich der Lorenzseen, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Osteuropa und Japan. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts gehört dann die Industrialisierung bisher kolonialer Räume zu den wichtigsten Vorgängen. Die Weltgeschichte der letzten hundertfünfzig Jahre ist in sehr starkem Masse bestimmt durch das Nebeneinander industrialisierter und vorindustrieller Wirtschafts- und Sozialsysteme und durch das ständige Fortschreiten des Industrialisierungsprozesses.
Allein schon dieser schrittweisen Ausbreitung wegen ist gegenüber dem Ausdruck «Industrielle Revolution» Vorsicht angebracht. Aber auch in jedem einzelnen Land ist die Industrialisierung nicht ein einmaliger und dann abgeschlossener Vorgang; vielmehr werden bei fortschreitender Entwicklung immer weitere Gewerbezweige von ihr ergriffen. Technische Neuerungen und soziale Umschichtungen wandeln das Gesicht der Industriegesellschaft unablässig.

33.16 Vorsprung Englands: Die Frage, weshalb dieser Industrialisierungsprozess zuerst in England einsetzte, kann keineswegs nur mit dem Hinweis auf die technischen Erfindungen des 18. Jahrhunderts beantwortet werden. Ebenso wichtig waren der Kapitalreichtum, die grosse Geldflüssigkeit und deshalb der niedere Zinsfuss: alles Folgen des gewinnbringenden Kolonialhandels. Ebenso wichtig war auch das Fehlen von Binnenzöllen; es ist bezeichnend, dass die Lehre vom Nutzen des völlig freien Güteraustausches zuerst in England verkündet wurde. Ebenso wichtig war endlich die Bevölkerungsumschichtung, die sich als Konsequenz der «Agrarrevolution» des 18. Jahrhunderts vollzog: Übergang von Weidenutzung und Dreifelderwirtschaft zu intensiver Anbauwirtschaft mit Fruchtwechsel und Stallfütterung. Dadurch wurden Millionen von Kleinbauern von ihren Höfen verdrängt, zur Abwanderung in die Städte gezwungen.

33.2 Der Industrialisierungsprozess im 19. Jahrhundert
33.21 Frühindustrielle Zeit: Sie reicht in England bis in die dreissiger Jahre, im kontinentalen Westeuropa, in Mitteleuropa und in den USA aber tief in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts; für die jüngeren Industrieländer ist sie entsprechend später anzusetzen. In dieser Zeit wurden vor allem das Textilgewerbe, die Erzeugung von Koks, Roheisen und Stahl (Schwerindustrie) und der Maschinenbau vom Sog der Industrialisierung erfasst; diese drei Zweige bilden die Gruppe der «klassischen Industrien».
Vorab ist der Frühindustrialismus gekennzeichnet durch einen kaum zu stillenden Investitionsbedarf: Der Aufbau der Industrie verschlang ungeheure Kapitalien; die stürmische technische Entwicklung führte zur raschen Überalterung der einmal geschaffenen Anlagen und damit zum Zwang, sie in kurzer Zeit zu amortisieren; die industrielle Massenproduktion verlangte das kapitalstarke Grossunternehmen. Dieser Kapitalbedarf konnte durch bereits vorhandenen Reichtum nicht ausreichend gedeckt werden; die junge Industrie stand unter dem Druck, das benötigte Kapital laufend selbst zu erzeugen. Deshalb mussten hohe Gewinne herausgewirtschaftet werden, die dann sofort wieder im Unternehmen zu investieren waren. Das aber war nur möglich, wenn es gelang, die Produktionskosten tief zu halten.

33.22 Frühindustrielles Arbeiterelend: Dieser Zwang erklärt weitgehend die für den Frühindustrialismus kennzeichnende rücksichtslose Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Wöchentliche Arbeitszeiten von achtzig und mehr Stunden bildeten die Regel; die Löhne bewegten sich hart am Existenzminimum; Kinder- und Frauenarbeit war weitverbreitet, weil diesen Arbeitnehmern noch niedrigere Löhne ausgerichtet werden konnten; Fürsorge für verunfallte, erkrankte oder alte Arbeiter war fast unbekannt; ja selbst die einfachsten Schutzvorrichtungen zur Verhütung von Unfällen oder Berufskrankheiten fehlten, weil sie die Produktion mit zusätzlichen Kosten belastet hätten. Die europäische und nordamerikanische Industrie hat sich grossgehungert.
Möglich waren diese Zustände, weil die neue Lehre, dass wirtschaftlicher Eigennutz letztlich dem Gemeinwohl diene, die alten ethischen Bindungen zersetzte; weil ferner unter dem Einfluss der Vorstellung von der Vertragsfreiheit sowohl staatliche Eingriffe in die Arbeitsverträge als auch Lohnabsprachen der Arbeitnehmer als unzulässig betrachtet wurden; und weil endlich ein dauerndes Überangebot an Arbeitskräften einen starken Druck auf die Arbeitsbedingungen ausübte.
Diese permanente Massenarbeitslosigkeit, charakteristisch für den Frühindustrialismus aller europäischen Länder, erklärt sich hauptsächlich aus drei Gründen: Die medizinischen Errungenschaften bewirkten eine Erhöhung der mittleren Lebenserwartung und damit ein Anwachsen der Bevölkerung in noch nie dagewesenem Ausmass. Die Umstellung der Landwirtschaft auf kapitalintensive Anbaumethoden und damit die Auflösung der durch das Dreifeldersystem bedingten bäuerlichen Genossenschaften verursachte einen dauernden Zustrom in die Städte; dazu trugen auch die persönliche Befreiung der Bauern und die nach dem Vorbild des Code Civil allmählich überall eingeführte Mobilität des Bodens wesentlich bei: Endlich nahm der Übergang zur maschinellen Produktion zahllosen Handarbeitern Brot und Verdienst, zwang sie, in den Fabriken Arbeit zu suchen oder das Arbeitslosenheer zu vermehren. Doch als die Industrie sich weiterentwickelte, hat schliesslich nur sie es ermöglicht, für die ständig wachsende Menschenzahl ausreichende Existenzmöglichkeiten zu schaffen.

33.23 Zweite Welle der Industrialisierung: Zwischen 1870 und 1880 häuften sich grossartige technische Erfindungen, die dem Industrialisierungsprozess nicht nur einen neuen Auftrieb, sondern vielfach auch eine ganz neue Richtung gaben. Sie stehen selbstverständlich alle im engsten Zusammenhang mit der Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie und der Physik. Vier Erscheinungen sind vor allem herauszuheben:
Erstens wurde es jetzt möglich, Stahl mit verhältnismässig geringen Kosten in grossen Mengen zu erzeugen und auch voluminöse Stahlstücke zu giessen. Rasch begann der Stahl, vor allem im Maschinenbau, das Gusseisen zu verdrängen; auf das «Zeitalter des Eisens», das Abraham Darby nicht ganz anderthalb Jahrhunderte früher eingeleitet hatte, folgte das «Zeitalter des Stahls». Die entscheidenden Erfindungen waren die Bessemerbirne, das Martin-Siemens-Verfahren zur Stahlerzeugung aus Schrott und das Thomas-Verfahren zur Verarbeitung phosphorhaltigen Eisens.
Zweitens entstand eine grosse elektrotechnische Industrie, seit Werner von Siemens 1866 das elektrodynamische Prinzip (das Prinzip der Selbsterregung) entdeckt und zum Bau der ersten brauchbaren Gleichstromgeneratoren benutzt hatte. Zwölf Jahre später entwickelte er mit dem zweipoligen Dynamo die Grundlage für den Bau von Wechselstromgeneratoren. Im folgenden Jahr erfand Edison die Kohlenfaden-Glühlampe.
Drittens entfaltete sich eine überaus vielseitigechemische Industrie: seit etwa 1860 Erzeugung von Anilin- und Teerfarben, von Medikamenten aller Art, von Kali- und Stickstoffdünger; seit etwa 1880 Gewinnung von Metallen mit Hilfe der Elektrolyse; seit etwa 1890 Produktion von Schwefelsäure durch das Kontaktverfahren; seit 1908 die Synthese von Ammoniak durch das Haber-Bosch-Verfahren.
Viertens meldete Daimler 1883 ein Patent für den ersten brauchbaren Benzinmotor an; zwei Jahre später schuf Benz einen schon wesentlich verbesserten Typ; 1893 wurde der Dieselmotor erfunden. Bald führte das zur Entstehung neuer grosser Industrien: Automobilfabriken und Bau von Dieselmotoren (anfangs nur für einzelne Kriegsschifftypen). Zwangsläufig schnellte der Bedarf nach Erdöl empor und liess, vorerst hauptsächlich in Nordamerika, eine gewaltige Raffinationsindustrie entstehen.

33.24 Industriemächte um 1900: Noch 1870 stand Grossbritannien mit weitem Abstand an der Spitze aller Industrieländer; bei Kohle, Roheisen, Stahl, Baumwollgarnen und Baumwollgeweben erzeugte es mehr als die Hälfte der ganzen Weltproduktion. Doch die zweite Welle der Industrialisierung wirkte sich vor allem in den USA und in Deutschland aus, wobei diese Länder aber gleichzeitig auch die «klassischen Industrien» gewaltig ausbauten - hier wie dort begünstigt durch den zwischen 1865 und 1871 erfolgten politischen Zusammenschluss. England verlor nach 1870 rasch seine Stellung als fast einzige Industriemacht, ja schon um die Jahrhundertwende musste es den ersten Platz an die USA abtreten.
Und zur gleichen Zeit industrialisierten sich immer mehr Staaten, wenn sie sich an Bedeutung auch noch lange nicht mit den «grossen Drei» - USA, Grossbritannien, Deutschland - messen konnten: Frankreich, das dank dem Thomas-Verfahren nun in der Lage war, seine lothringischen Eisenerze auszubeuten; Russland, wo mit der Bauernbefreiung ein erstes Tor zur Industrialisierung aufgestossen worden war; Japan, das mit ungeheurer Schnelligkeit die abendländische Technik übernahm; Italien, wo sich trotz Hemmungen durch Kapitalmangel und politische Instabilität wenigstens im Norden neben der älteren Textilindustrie nun auch der Maschinen- und Motorenbau entfaltete, während allerdings der «Mezzogiorno» (Süditalien) weiterhin durch eine halbfeudal-vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialstruktur bestimmt blieb. Stark industrialisiert waren auch zahlreiche kleinere Länder, die aber naturgemäss nie das Industriepotential der Grossmächte erreichten: Belgien, die Niederlande, Schweden, die Schweiz.

33.3 Industriebedingte Sozialprobleme und Frühsozialismus
33.31 Soziale Umschichtungen: Zweineue Klassen prägten das Gesicht der industrialisierten Gesellschaft: das grosskapitalistische Unternehmertum und die Fabrikarbeiterschaft. Im 19. Jahrhundert standen die Unternehmer mehrteils auf dem Boden der liberalen Bewegung, denn Zusammenschluss zu grösseren Wirtschaftsräumen sowie Niederlassungs-, Gewerbe- und Handelsfreiheit schufen günstige Voraussetzungen für die industrielle Entwicklung, auch erlaubte eine liberale Staatsordnung den Unternehmern, jenen politischen Einfluss auszuüben, der ihrer wirtschaftlichen Stellung entsprach. Mit dem Sieg des Liberalismus errang der Unternehmerstand seinen gesellschaftlichen Platz. Unendlich viel mühsamer vollzog sich der Einbau der Fabrikarbeiterschaft in die Gesellschaft; mit diesem Problem rang nicht nur das 19., sondern auch noch das beginnende 20. Jahrhundert.

33.32 Industriefeindschaft: Wie bei jeder tiefgreifenden sozialen Umschichtung richtete sich auch in der frühindustriellen Zeit der Blick zurück in die Vergangenheit, die als «Goldenes Zeitalter» idealisiert wurde. Die konservativen Bemühungen, die Entwicklung der Industrie durch gesetzliche Massnahmen zu hemmen, können also kaum überraschen, ebensowenig allerdings, angesichts der Überlegenheit der industriellen Produktionsmethoden, der Misserfolg dieser Bestrebungen.
Überraschen kann dagegen, dass auch die frühindustriellen Arbeiter die Ursache ihres Elendes nicht in der gesellschaftlichen Ordnung sahen, sondern in der Industrie an sich. Ihreder Verzweiflung entspringenden Revolten richteten sich denn auch weniger gegen die Unternehmer oder gegen das politische Herrschaftssystem als gegen die Maschinen. Ihr Ziel war, die Fabriken und Maschinen zu zerstören, die agrarisch-handwerklichen Zustände wiederherzustellen. Sie waren zutiefst nicht revolutionär, sondern reaktionär.

33.33 Der Begriff Sozialismus: Den Gang der Industrialisierung vermochten allerdings weder die konservativen Klagen über die Zersetzung der alten Gesellschaftsordnung noch die Maschinenstürme der Arbeiter aufzuhalten. Deshalb mehrten sich die Stimmen, die eine Lösung nicht in der Bekämpfung der Industrie suchten, sondern in der Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, ihrer Anpassung an die neuen Produktionsmethoden. Dabei richtete sich der Blick insbesondere auf das Problem des Eigentumes, auf die privatrechtliche, aus dem Eigentumsrecht fliessende Verfügungsgewalt über die industriellen Produktionsmittel. Diese Verfügungsgewalt sollte durch das Allgemeininteresse eingeschränkt oder ganz beseitigt werden. Das ist der Grundgedanke aller sozialistischen Vorstellungen.
Im 19. Jahrhundert wurden die AusdrückeSozialismus und Kommunismus fast gleichbedeutend nebeneinander verwendet; heute versteht man unter Sozialismus die Übertragung bestimmter, für die Allgemeinheit besonders wichtiger Eigentumsrechte an Kollektivkörper (Genossenschaften oder Staat), unter Kommunismus die völlige Beseitigung des Privateigentumes. Als Frühsozialismus bezeichnet man die sozialistischen oder kommunistischen Theorien, die vor oder neben Marx und Engels errichtet wurden.
Im einzelnen besteht eine ungeheure Mannigfaltigkeit der sozialistischen Ideen: völlige Beseitigung der Eigentumsrechte oder blosse Begrenzung (Kontrolle durch staatliche Eingriffe oder durch ein Mitspracherecht aller Betriebsangehörigen); Übertragung der Eigentumsrechte auf genossenschaftliche Verbände oder auf den Staat als den Repräsentanten des Allgemeininteresses; Ausdehnung dieser Sozialisierungsmassnahmen nur auf die industriellen Produktionsmittel (Fabriken, Maschinen) oder auf alle Produktionsmittel (also auch auf Grund und Boden) oder auf alle für die Produktion wichtigen Wirtschaftsgüter (also auch auf Rohstoffe, Verkehrsmittel, Bankkapital) oder gar auf jedes Eigentum schlechthin; Errichtung dieser sozialistischen Gesellschaft durch schrittweise Reformen oder durch gewaltsame Revolution. Alle diese Fragen und Gegensätze prägen übrigens nicht nur die Geschichte des Frühsozialismus, sondern ebenso jene der marxistischen Arbeiterorganisationen.

33.34 Utopischer Sozialismus: Ausgangspunkt war die Forderung nach sittlicher Erneuerung des Menschen, wobei teils christliche, teils aufklärerisch-rationalistische Vorstellungen zugrunde lagen. Die utopischen Sozialisten entwarfen die Zukunftsvision einer glücklichen Menschheit, die freiwillig die Eigentumsrechte zugunsten des Allgemeininteresses preisgebe. Die nicht ganz gerechte Bezeichnung «utopisch» darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass von diesen Auffassungendie stärksten Impulse ausgingen: Die genossenschaftliche Bewegung, das Gewerkschaftswesen, der Anarchosyndikalismus und die demokratische Zielsetzung in der Arbeiterbewegung wurzeln ebenso wie die staatliche Sozialpolitik im utopischen Sozialismus.

33.35 Genossenschaftlicher Sozialismus: Diese Richtung basiert auf der Vorstellung, eine Lösung auf dem Wege der genossenschaftlichen Selbsthilfe zu suchen, wobei man vorerst fast durchwegs nur an Produktivgenossenschaften dachte. Teils erhoffte man solche Gründungen von der vernünftigen Einsicht der besitzenden Klasse; diese Auffassung näherte sich jener der utopischen Sozialisten; teils erwartete man die Initiative vom Staat. Robert Owen, ein reicher englischer Fabrikant, wandelte schon in den zwanziger Jahren sein Privatvermögen in Produktivgenossenschaften seiner Arbeiter um; diese Versuche endeten ebenso mit einem Misserfolg wie die vom Staate getragenen «ateliers nationaux» von 1848. Eine andere Form der genossenschaftlichen Selbsthilfe, die Gewerkschaftsorganisation, stiess vorerst überall ausser in England noch auf das fast unüberwindliche Hemmnis staatlicher Koalitionsverbote.

33.36 Anarchosyndikalismus: Französische Frühsozialisten utopischer Richtung (Saint-Simon, Fourier und vor allem Proudhon) griffen den genossenschaftlichen Gedanken auf und entwarfen das Bild einer Gesellschaft, in der freiwillige Verbände von Angehörigen gleicher Produktivbetriebe die staatliche Zwangsgewalt vollständig ersetzen. Von diesen Anarchisten schieden sich die Anarchosyndikalisten durch die Überzeugung, dass einzig der kompromisslose revolutionäre Kampf gegen den Staat zu diesem Ziel führe. In Frankreich, Spanien und Iberoamerika behauptete der Anarchosyndikalismus bis tief ins 20. Jahrhundert hinein einen bedeutenden Einfluss.

33.37 Staatssozialistische Theorien: In England und in Deutschland war die Tendenz besonders stark, von Eingriffen der Staatsgewalt soziale Reformen zu erwarten. Gemeinsam ist diesen Lehren, bei allen Unterschieden in bezug auf das Ausmass der angestrebten Sozialisierung, die Überzeugung, dass erst die Verwirklichung der Demokratie die Voraussetzungen schaffe, um die Staatsgewalt zur Durchführung staatssozialistischer Massnahmen einsetzen zu können.
William Lovett begründete in den dreissiger Jahren den Chartismus, die erste demokratische Arbeiterbewegung des Abendlandes, doch rissen bald reaktionär-industriefeindliche Elemente die Führung an sich, Ein Vierteljahrhundert später vertrat Ferdinand Lassalle in Deutschland ähnliche Gedankengänge wie Lovett; auch er erstrebte eine «Revolution durch den Stimmzettel», doch auch er scheiterte hauptsächlich am Unverständnis der Arbeiter, an die er appellierte. Trotz dieser Misserfolge blieb der Gedanke, nur der demokratische Staat vermöge eine der Industriegesellschaft angepasste Sozialordnung zu gewährleisten, lebendig und bestimmte immer wieder die Geschichte der Arbeiterbewegung.

33.4 Der Marxismus
33.41 Philosophische Grundkategorien von Marx: Von Hegel übernahm Marx nicht nur zahlreiche Begriffe, sondern insbesondere auch die Methode der Dialektik. Doch änderte er die Hegelsche Vorstellung: Nicht mehr Ideen schaffen den dialektischen Gegensatz, der die Entwicklung vorantreibt, sondern die Arbeits- oder Produktionsverhältnisse.
Das erklärt sich aus dem Menschenbild, das Marx seiner Lehre zugrunde legte: Er sieht das dem Menschen Eigentümliche, das ihn vom Tier unterscheidet, in dem Drang, die Natur zu gestalten, so dass sie zum Ausdruck seines Wesens wird. Das Produkt der Arbeit des Menschen ist ein Teil seines Menschseins; in der Arbeit erzeugt er sich selbst.
Von hier aus öffnet sich der Blick für den Begriff der Entfremdung, der auch schon bei Hegel vorhanden ist, im Gedankengebäude von Marx dann aber eine eigentlich zentrale Bedeutung gewann: Diese Entfremdung tritt primär im Verhältnis des Menschen zum Produkt seiner Arbeit auf. Die Arbeitsteilung verunmöglicht es dem Menschen, sein Wesen ungeteilt in das Ergebnis seines Schaffens zu legen, und nimmt ihm insbesondere die Verfügungsgewalt über dieses sein Produkt, das doch ein Teil seines eigenen Wesens ist. Die daraus resultierende Zerstörung wahren Menschseins nennt Marx Entfremdung. Sie schafft eine dialektische Spannung zwischen dem Menschen, beziehungsweise der menschlichen Tätigkeit, und dem Produkt der menschlichen Arbeit, zwischen «subjektiver Arbeit» und «objektiver Arbeit» (dem Arbeitsprodukt).
Dazu tritt sekundär die gesellschaftliche Entfremdung: Weil die. «objektiv gewordene Arbeit» sich im Privateigentum befindet und gesellschaftliche Macht verleiht, entsteht auch eine dialektische Spannung zwischen den Individuen und der Gemeinschaft. Nach den Gesetzen der Dialektik müssen diese Gegensätze zur Auflösung treiben, die Schaffung einer neuen Synthese bewirken, zur «Selbstverwirklichung» des Menschen führen.

33.42 Geschichtsphilosophie: In seiner Zeit, der Zeit des sich entfaltenden Hochkapitalismus, sah Marx die Entfremdung des Menschen einem Höhepunkt entgegentreiben. Je mehr sich die arbeitsteilige Produktion ausbreitet, um so mehr «wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist», denn jedes dieser Wirtschaftsprodukte, von denen seine Existenz abhängt, ist ihm ja «entfremdet».
Die dialektische Entwicklung, die diesen Zustand schuf, ihn aber auch wieder überwindet, wird bewirkt durch die immer wieder auftretende Spannung zwischen Produktionskräften und Produktionsverhältnissen. Produktionskräfte sind einerseits Arbeitsgeräte, Maschinen, technische Fertigkeiten, anderseits die lebendige Arbeitskraft des Menschen, sein Wissen und Können; im ganzen also ein dynamisches, ein sich ständig entwickelndes Element. Demgegenüber sind die Produktionsverhältnisse, das heisst die sozialen Beziehungen der produzierenden und konsumierenden Menschen zueinander, wie sie durch die geltende Eigentumsordnung festgelegt werden, ihrem Wesen nach über lange Zeiträume hinweg statisch - bis sie eben durch die wachsende Spannung zu den sich wandelnden Produktivkräften umgestürzt werden.
In diesem Spannungsverhältnis sah Marxdie einzige geschichtswirksame Kraft; er spricht vom Unterbau, von der «ökonomischen Struktur der Gesellschaft, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen». Wandelt sich der Unterbau, so «wälzt sich der ganze ungeheure Überbau jeweils langsamer oder rascher um». Staatsform, Philosophie, Kunst, Ethik, Religion.
Für dieses Geschichtsbild prägte Engels später die Bezeichnung historischer Materialismus. Auch übersteigerte und simplifizierte Engels diese an sich fruchtbare (wenn auch keineswegs völlig neue) Idee von Marx, die auch das heutige Geschichtsverständnis stark beeinflusst, in einer mitunter derart extremen Weise, dass es ans Lächerliche grenzt; so sieht er etwa in Calvins Prädestinationslehre den «religiösen Ausdruck der Tatsache, dass in der Handelswelt der Konkurrenzerfolg oder Bankrott nicht abhängt von der Tätigkeit oder dem Geschick des Einzelnen, sondern von Umständen, die von ihm unabhängig sind»!
Das Denken von Marx kreiste aber immer wieder um den Menschen. Schon 1843 erklärte er es als «kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist». Er «vermenschlichte» deshalb doch wieder die abstrakten Vorstellungen von den Produktionskräften und Produktionsverhältnissen und personifizierte sie gewissermassen in den beiden Klassen der Lohnarbeiter (Proletarier), die die Träger der «subjektiven Arbeit» und damit der wichtigsten und unerlässlichen Produktivkraft sind, und der Kapitalisten (Bourgeois), die als Eigentümer der «objektiven Arbeit» an der Aufrechterhaltung der bestehenden Produktionsverhältnisse vital interessiert sind. Der dialektische Gegensatz innerhalb der ökonomischen Struktur wird so zu einem dialektischen Gegensatz zwischen zwei Klassen. Diesen Gedanken projizierte Marx auf die Gesamtheit der Geschichte: «Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. »

33.43 Lohn- und Mehrwerttheorie: Seine Geschichtsphilosophie zwang Marx zur intensiven Beschäftigung mit den Wirtschaftswissenschaften, denn in der ökonomischen Struktur glaubte er ja die Quelle aller Entwicklung entdeckt zu haben. Seine Analyse des Kapitalismus steht ganz auf dem Boden der klassischen Nationalökonomie. Insbesondere übernahm er von Ricardo die Lehre, dass der Preis einer Ware im Mittel stets den Produktionskosten entsprechen müsse (was einzig bei völlig freier Konkurrenz und unbegrenzter Produktionsmöglichkeit zutrifft, somit einzig bei einer lediglich durch Angebot und Nachfrage regulierten Preisbildung). Schon Ricardo hatte diesen Satz auch auf «die Ware Arbeitskraft» angewendet, und Marx folgte ihm hierin: «Die Produktionskosten der einfachen Arbeitskraft belaufen sich also auf die Existenz- und Fortpflanzungskosten des Arbeiters. Der Preis dieser Existenz- und Fortpflanzungskosten bildet den Arbeitslohn. »
Der produktive Wert der Arbeitskraft ist aber grösser als der so bestimmte Lohn. Die Spanne zwischen diesen beiden Werten nannte schon die klassische Nationalökonomie den Mehrwert. Er fällt dem Eigentümer der Produktionsmittel, dem Kapitalisten, zu, der mit bereits angehäuftem Kapital (mit «objektiver Arbeit») Arbeitskraft («subjektive Arbeit») kaufen und damit sein Kapital vermehren kann. Dem Lohnarbeiter ist dagegen die Aneignung von Kapital unmöglich, weil dieses ja allein aus dem Mehrwert entsteht.

33.44 Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft: Der grösste Kapitalist kann am meisten Arbeitskraft kaufen und sich damit am meisten Mehrwert aneignen; sein Kapital wächst also am schnellsten, er wird allmählich alle seine Konkurrenten besiegen und ins Proletariat hinabstossen: Die Endphase der kapitalistischen Entwicklung ist der Monopolkapitalismus (Konzentrationstheorie). Umgekehrt muss sich das Los der Proletarier dauernd verschlechtern, denn mit fortschreitender Arbeitsteilung und Mechanisierung werden die Arbeitsvorgänge einfacher und die Ausbildungskosten geringer; die Gestehungskosten der «Ware Arbeitskraft» sinken also, damit muss auch der Lohn sinken (Verelendungstheorie).
Aus der immer radikaler werdenden Scheidung der Gesellschaft in die ungeheure Masse der Proletarier und die verschwindend kleine Gruppe der Monopolkapitalisten aber wird, nach einer Reihe von immer schwerer werdenden Wirtschaftskrisen (Krisentheorie), notwendig der Umsturz der Produktionsverhältnisse, das heisst der kapitalistischen Eigentumsordnung, folgen (Zusammenbruchstheorie).

33.45 Zukunftsvision: Das Proletariat, das sich nun ja praktisch mit der Gesamtheit der Gesellschaft deckt, wird sich revolutionär der Produktionsmittel bemächtigen und einen neuen Oberbau errichten: die Diktatur des Proletariates. So wie der Staat der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nur ein Instrument der herrschenden Klasse zur Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse ist, so wird der «proletarische Staat» ein Instrument sein, um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, «die Expropriation der Expropriateure», und damit die Aufhebung der Kapitalistenklasse als Klasse durchzuführen.
Ist das aber erfolgt, so verschwinden alle Gegensätze, die bisher die Entwicklung vorantrieben. Der Staat wird absterben; die Geschichte wird zum Stillstand kommen, denn sie hat ihr Ziel erreicht: An die Stelle der Entfremdung tritt die Selbstverwirklichung des Menschen. Entsprechend wird sich auch das Wesen des Menschen wandeln: Eigennutz und Streben nach Eigentumserwerb verschwinden. «Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit» (Engels).

33.46 Dialektischer Materialismus: Die Geschichtsphilosophie von Marx trägt nur sehr bedingt materialistisches Gepräge, obwohl man sie seit langem stets als historischen Materialismus bezeichnet. Weit richtiger wäre es allerdings, bei Marx von einerArt Humanismus zu sprechen, denn für ihn ist der Mensch ja ein aus der Natur herausgehobenes, zu ihr in einem dialektischen Verhältnis stehendes Wesen. Er wandte die dialektische Denkmethode auch nur auf die gesellschaftlichen, die menschlichen Verhältnisse an. Erst Engels übertrug sie auf die gesamte Wirklichkeit und verknüpfte sie zugleich mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus seiner Zeit.
Der Mensch erscheint jetzt nicht mehr als ein von der übrigen Natur gesondertes Wesen, sondern nur noch als ein Teil der Natur und denselben dialektischen Naturgesetzen als «den allgemeinsten Gesetzen aller Bewegung» unterworfen: «Die Dialektik, die sogenannte objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sogenannte subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur der Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen» (Engels).
In dieser Sicht ist dann die Geschichtsdeutung von Marx als «subjektive Dialektik» nur noch ein Teil der allgemeinen, der. «objektiven Dialektik». Engels schuf entsprechend auch die Bezeichnungen «Dialektischer Materialismus» und - nur als Teil hiervon - «historischer Materialismus». Ein halbes Jahrhundert später konnte Stalin dann den wirklichen geistigen Werdeprozess geradezu auf den Kopf stellen: «Der historische Materialismus ist die Ausdehnung der Leitsätze des Dialektischen Materialismus auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens.»

33.47 Wirkung des Marxismus: Dass das Gedankengebäude von Marx und Engels zu einer der grossen gestaltenden Kräfte wurde, ist insofern erstaunlich, als es eigentlich kaum etwas Neues brachte: Die dialektische Methode findet sich schon bei Hegel, der konsequente naturwissenschaftliche Materialismus bei Haeckel und dessen Wegbereitern, die marxistische Lohn- und Mehrwerttheorie ebenso wie der Hinweis auf die revolutionäre Wirkung der Arbeitsteilung bei Ricardo, die Auffassung von der fundamentalen Bedeutung struktureller Änderungen ökonomischer Art für die ganze gesellschaftliche Entwicklung bei den grossen französischen Historikern um die Jahrhundertmitte, der Kampf gegen das Privateigentum ebenso wie die Vision einer Gesellschaft ohne staatlichen Zwang bei den meisten «utopischen» Frühsozialisten.
Neu ist die Zusammenfassung all dieser Ideen - deutscher Idealismus, klassische Nationalökonomie, französischer Frühsozialismus und naturwissenschaftlicher Materialismus - in einemgeschlossenen System, das sich in widerspruchsloser Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Auffassungen der damaligen Zeit befand; neu vor allem, dass aus diesem System ein visionärer Zukunftsglaube abgeleitet wurde, der sich gerade durch diese wissenschaftliche Grundlage von allen Utopien früherer Zeiten unterschied. Das Denksystem des Marxismus schien den Schlüssel zur Erklärung nicht nur aller Erscheinungen in Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch der Zukunft in die Hand zu geben.

33.5 Die Arbeiterbewegung
33.51 Gewerkschaften und Partei: Ihrem eigentlichen Wesen nach sind Gewerkschaften Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern der gleichen Berufsgruppe, um durch gemeinsames Auftreten bei Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen (insbesondere Lohn und Arbeitszeit) den Arbeitgebern gegenüber ein stärkeres Gewicht zu besitzen. Es handelt sich somit primär nicht darum, auf die staatliche Politik Einfluss zu nehmen, wie das in der Natur der Parteien liegt. Entsprechend haben sich vom ausgehenden 19. Jahrhundert an in allen Ländern die sogenannten Freien Gewerkschaften (frei sowohl von parteimässigen als auch von konfessionellen Einflüssen) weitaus am stärksten entwickelt.
Immerhin ergaben sich notwendigerweise Beziehungen und Spannungen zwischen den Gewerkschaften und den Arbeiterparteien. Erstens setzte überhaupt schon die Gründung von Gewerkschaften politische Aktivität voraus, weil zuerst die sogenannten Koalitionsverbote beseitigt werden mussten, die in fast allen Ländern den gewerkschaftlichen Zusammenschluss verwehrten. Zweitens ergab sich eine weitgehende Identität der Mitglieder, teilweise auch der Führer in den Gewerkschaften und in den Arbeiterparteien, denn auch die Freien Gewerkschaften standen und stehen grundsätzlich auf dem Boden des Sozialismus. Daraus konnte sowohl Rivalität, Führungsstreit als auch Zusammenarbeit erwachsen.
Grundsätzliche Ablehnung jeder Verbindung mit Politik prägte das Gewerkschaftswesen dort, wo sich anarchosyndikalistische Ideen durchsetzten. Solche Haltung der Gewerkschaften führte unvermeidlich zu einer Schwächung der Arbeiterpartei, was sich besonders in Frankreich und in Italien zeigte. Das Gegenstück auf der Seite der Parteipolitiker war die auf Marx zurückgehende Auffassung, die eigentliche gewerkschaftliche Tätigkeit sei wertlos, die Gewerkschaften hätten nur einen Sinn als «Mittel zur Vereinigung der Arbeiterklasse, der Vorbereitung zum Sturz der ganzen alten Gesellschaft», mithin lediglich als Hilfsorganisation der revolutionären Partei.

33.52 Arbeiterbewegung und Staat: Schon im Frühsozialismus wurzeln drei ganz verschiedene Auffassungen über den Weg, auf dem die Gesellschaft im Interesse der Lohnarbeiterschaft umgewandelt werden könne: erstens durch staatliche Eingriffe; zweitens durch genossenschaftliche Zusammenschlüsse, die, vom Staate unabhängig, entweder aus der vernünftigen Einsicht der Besitzenden oder aus der Aktivität der Arbeiter selbst erwachsen; drittens durch revolutionären Kampf gegen den Staat und dessen Ablösung durch neuartige, der Industriegesellschaft angepasste Verbände (Anarchismus). Man kann also ein grundsätzlich positives, ein neutrales und ein feindliches Verhalten zum historisch gewachsenen Staat unterscheiden.
Der Marxismus lehnte alle diese Meinungen als utopisch ab. Er forderte zwar auch - wie die Anarchisten - den revolutionären Kampf gegen den bestehenden Staat, aber mit dem Ziel, diesen kapitalistischen Staat durch einen proletarischen zu ersetzen. Während die Gewerkschaften meistens den Staat zu einer aktiven Sozialpolitik bewegen, ihn zum Bundesgenossen der Arbeiter machen und seine Machtmittel zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen wollten, nahmen die kontinentaleuropäischen Arbeiterparteien mehrteils die marxistische Doktrin vom Klassencharakter jeder Staatsgewalt und damit vom grundsätzlichen Kampf gegen den «bourgeoisen» Staat an. Das erklärt einmal die Feindschaft und die Unterdrückungspolitik des Staates in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten ein bis zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gegen die «marxistischen» Arbeiterorganisationen, die als staatsfeindlich und hochverräterisch betrachtet wurden. Es erklärt aber auch die innerhalb dieser Arbeiterorganisationen immer wieder aufbrechenden Konflikte zwischen der «gewerkschaftlichen» und der «revolutionären» Richtung.
Eine abweichende Entwicklung zeigen Frankreich, wo die Gewerkschaften stark von anarchosyndikalistischen Vorstellungen bestimmt blieben, und die angelsächsischen Länder, wo der doktrinär-revolutionäre Marxismus nie Fuss fassen konnte. In England formierte sich die Arbeiterschaft nach dem Zusammenbruch des Chartismus jahrzehntelang ausschliesslich in Gewerkschaften (Trade Unions); ihre staatspolitischen Ziele - Ausbau der Demokratie und Sozialpolitik - suchte sie durch das Mittel der Liberalen Partei zu erreichen; erst um die Jahrhundertwende entstand eine eigene Arbeiterpartei (~ 34.15). In den USA fehlt eine nennenswerte eigene Arbeiterpartei bis zum heutigen Tag; die Gewerkschaftsführer üben Einfluss aus durch das Mittel der alten Parteien, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hauptsächlich der Demokratischen Partei.

33.53 Reformismus: Das englische Beispiel aktiver und positiver Mitarbeit an der Gestaltung der staatlichen Politik wirkte von den neunziger Jahren an stark auf die kontinentalen Arbeiterparteien. Heftiger als je zuvor tobte nun der Meinungsstreit: Kann erst der aus dem revolutionären Klassenkampf erwachsende vollständige Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung den Arbeitern die Anteilhabe am Mehrwert bringen, oder kann dieses Ziel erreicht werden durch schrittweise Reformen im Rahmen eines demokratischen Staates? Die praktische Bedeutung dieser Frage lag jeweils im Entscheid, ob Arbeiterführer sich an den Regierungsaufgaben beteiligen dürften oder nicht, und ob sozialpolitisch fortschrittliche Regierungsvorlagen aus Grundsatz, weil von einer «bourgeoisen» Regierung ausgehend, zu bekämpfen seien («orthodoxer» Marxismus) oder ob ihnen zugestimmt werden solle (Reformismus). Mit einem Wort: Dürfen und sollen die Arbeiterpartei und ihre Vertreter eine Mitverantwortung am bestehenden Staat und seiner Politik übernehmen?
In Deutschland lehnten die sozialdemokratischen Parteitage unter dem Einfluss von Bebel, Liebknecht und Kautsky solchen Reformismus (oder Revisionismus, wie er in Deutschland meist genannt wurde) zwar wiederholt ab und bekannten sich zu den Grundsätzen des kompromisslos revolutionären Klassenkampfes, tatsächlich aber war die praktische Politik der Partei unter dem Einfluss der Gewerkschaften zunehmend reformistisch. Dieser innere Widerspruch trug stark mit dazu bei, es der deutschen Sozialdemokratie zu verunmöglichen, jenen politischen Einfluss auszuüben, der ihrem zahlenmässigen Gewicht entsprochen hätte.
In Frankreich (wo man den Reformismus als «possibilisme» bezeichnete) kam es über diesen Fragen sogar zur Parteispaltung. Erst 1905 konnte Jean Jaurès notdürftig wieder eine Vereinigung herstellen, doch litt der «Parti Socialiste Unifié» unter einer ähnlichen Diskrepanz zwischen klassenkämpferisch-revolutionärem Parteiprogramm und tatsächlich reformistisch-demokratischer Politik wie die sozialdemokratischen Parteien der meisten kontinentaleuropäischen Länder.

33.54 Anfänge des Bolschewismus: Als Partei, die vorwiegend in der Emigration bestand, neigte die russische Sozialdemokratie von vorneherein stark zu doktrinärer Überspitzung derartiger Fragen. So tobte hier der Meinungsstreit besonders verbissen; in diesem Kampf russischer Sozialisten um die richtige Interpretation des Marxismus entwickelte Lenin die bolschewistische Theorie.
Plechanow, der eigentliche Begründer der russischen Sozialdemokratie, folgerte aus der marxistischen Lehre, eine proletarische Revolution könne erst ausbrechen, wenn der Kapitalismus sein Endstadium erreicht, sich zum Monopolkapitalismus in einer vollindustrialisierten Gesellschaft entwickelt habe. Sein um fast zwanzig Jahre jüngerer Kampfgefährte Martow vertrat Auffassungen, die sich weitgehend mit jenen der westeuropäischen Reformisten deckten; er wollte das Schwergewicht auf die gewerkschaftliche Arbeit legen. Plechanow und Martow stimmten darin überein, dass das vorläufige Ziel der russischen Sozialdemokratie in der Unterstützung des bürgerlich-liberalen Kampfes gegen das absolutistische Zarentum, in der Mitwirkung am Aufbau eines bürgerlichen Verfassungsstaates zu liegen habe.
Wladimir Iljitsch Uljanow (1870 - 1924), genannt Lenin, ein Altersgenosse von Martow, betonte demgegenüber, die sozialistische Revolution müsse dort erfolgen, wo der Kapitalismus sein schwächstes Glied habe, und das sei Russland. Deshalb sei eine erfolgreiche liberale Revolution sofort bis zur Diktatur des Proletariates beziehungsweise bis zur Diktatur der «Avantgarde des Proletariates>, bis zur Diktatur der Arbeiterpartei, weiterzutreiben. Diese Partei sah er keineswegs als eine Massenorganisation, sondern als kleine, kämpferische und streng hierarchisch geführte Elite.
Über dieser Organisationsfrage kam es auf dem Parteikongress von 1903 in London praktisch zur Spaltung. Die Mehrheit schloss sich Lenin an, dessen Anhänger nun Bolschewiki genannt wurden («Mehrheitler», von russisch «bolsche». mehr). Die Anhänger Martows bezeichnete man entsprechend als Menschewiki («Minderheitler», von russisch «mensche». weniger). Plechanow, der vergeblich zu vermitteln versucht hatte, verlor rasch seinen Einfluss. Auf dem Parteikongress von 1912 in Prag erfolgte schliesslich die formelle Trennung in zwei Parteien, wie sie tatsächlich schon seit 1903 bestanden.

33.55 Internationale Zusammenschlüsse: In den Augen der Marxisten waren Nationalgefühl und Nationalstaaten nur Teile des kapitalistischen Überbaues. So wie die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft überall gleich sei, so seien auch die Ziele des Proletariates überall gleich. Schon das «Kommunistische Manifest» schloss mit den seither unendlich oft wiederholten Worten:«Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Es ist deshalb selbstverständlich, dass die marxistischen Arbeiterführer schon früh bestrebt waren, ihre Bemühungen über die Landesgrenzen hinweg zu koordinieren. Ebenso selbstverständlich ist, dass dies das Misstrauen der bestehenden Staatsgewalt und ihrer Träger gegen ,die jungen Arbeiterparteien verstärkte, ebenso selbstverständlich, angesichts all der Meinungskämpfe innerhalb der Arbeiterorganisationen, aber auch, dass diese internationalen' Zusammenschlüsse jeder inneren Einheit und Festigkeit entbehrten.
Unter aktiver Mitwirkung von Karl Marx entstand 1864 in London die «Erste Internationale»; sie löste sich schon 1872/73 wieder auf, zerrissen durch den Streit zwischen revolutionären Anarchisten und revolutionären Marxisten.
Die «Zweite Internationale» wurde 1889 gegründet. Äusserlich war sie ein machtvolles Gebilde, doch blieb sie fast ohne wirklichen Einfluss auf die Politik. Weder vermochte sie zum Problem des Reformismus eindeutig Stellung zu beziehen noch zur Frage, wie sich die einzelnen Landesparteien im Falle eines Krieges verhalten sollten. Ihr Aufruf am Vorabend des Ersten Weltkrieges blieb ohne Echo; bei Kriegsausbruch löste sie sich praktisch auf.

34.4 Das Deutsche Reich
34.41 Kulturkampf: Unmittelbar nach der Reichsgründung eröffnete Bismarck einen scharfen Kampf gegen die Katholische Kirche Deutschlands. Ausgangspunkt war die Verkündigung des Unfehlbarkeitsdogmas durch das Vatikanische Konzil; Bismarck befürchtete eine Allianz der katholischen Mächte gegen das Deutsche Reich, wobei die deutschen Katholiken, durch das Unfehlbarkeitsdogma der päpstlichen Herrschaft völlig unterworfen, zu Bundesgenossen der äusseren Reichsfeinde würden. Deshalb wollte er dem Staat den entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der kirchlichen Stellen und das Recht zur Absetzung missliebiger Geistlicher geben. In Preussen, wo der Kulturkampf am härtesten geführt wurde, waren 1878 alle Bistümer bis auf drei vakant, in über tausend Pfarreien gab es keine Seelsorge mehr, zahlreiche Geistliche, selbst Bischöfe, befanden sich im Gefängnis.
Doch blieben diese Kampfmassnahmen erfolglos. Die staatlich begünstigte Altkatholische (Christkatholische) Kirche, die das Unfehlbarkeitsdogma ablehnte, gewann keinen Anhang. Dagegen schnellte im Reichstag die Fraktion der katholischen Zentrumspartei schon zwischen 1871 und 1874 von achtundfünfzig auf einundneunzig Abgeordnete, das heisst von fünfzehn auf fünfundzwanzig Prozent aller Mandate. Ein immer tieferer Graben zerriss das deutsche Volk und bedrohte das Einigungswerk von 1871. Von Ende 1878 an baute Bismarck die antiklerikalen Massnahmen ab; der Kulturkampf bedeutete seine erste schwere Niederlage.

34.42 Kampf gegen die Sozialdemokratie: Der wichtigste Grund für Bismarcks Rückzug im Kulturkampf war seine Absicht, dem Aufstieg der deutschen Sozialdemokratie entgegenzutreten. Dabei aber konnte er niemals auf die Unterstützung der Liberalen und lediglich mit starken Vorbehalten auf jene der Nationalliberalen, seiner beiden Haupthelfer im Kulturkampf, rechnen, sondern nur auf jene der Konservativen, die den antiklerikalen Kurs abgelehnt hatten. Deshalb brachte das Jahr 1878 einen völligen Umschwung in der deutschen Innenpolitik: Statt auf die liberalen Kräfte stützte sich der Kanzler fortan vorwiegend auf die Konservativen; der Freihandel wurde durch eine den Agrarinteressen dienende Schutzzollpolitik ersetzt; die Staatsgewalt führte nun den Kampf «wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie», wie der Titel des «Sozialistengesetzes» von 1878 lautete, nicht mehr gegen die Katholische Kirche, ohne doch mit dieser zu einer wirklichen Aussöhnung zu gelangen.
Dass die Nationalliberalen dieser Wendung fast widerspruchslos folgten, trug viel zum Niedergang der einst stärksten Partei bei: 1874 zählte ihre Reichstagsfraktion hundertundzweiundfünfzig Abgeordnete, nach den Wahlen von 1881 nur noch fünfundvierzig!
Das Sozialistengesetz ermächtigte die Polizeibehörden, sozialdemokratische Vereine aufzulösen, Publikationen zu verbieten und gegen Sozialdemokraten ein Aufenthaltsverbot in den Städten auszusprechen. Hingegen war es nicht möglich, die Aufstellung sozialdemokratischer Kandidaten für die Reichstagswahlen zu verbieten, denn das hätte der Reichsverfassung widersprochen. Als das Gesetz erlassen wurde, zählte die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag nur neun Abgeordnete (zwei Prozent aller Mandate), zwölf Jahre später aber, als es endlich beseitigt wurde, schon fünfunddreissig (neun Prozent). Die von Bismarck erhoffte Wirkung trat also keineswegs ein. Zum zweitenmal musste er erfahren, dass mit blossen Polizeimassnahmen eine Weltanschauung nicht zu bekämpfen ist. Wohl aber gaben die Polizeischikanen den revolutionär-klassenkämpferischen Auffassungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie verstärkten Auftrieb. Daran vermochten auch die gleichzeitig erlassenen und für ihre Zeit vorbildlichen Sozialversicherungswerke nichts zu ändern.
So endete auch die antisozialistische Kampfpolitik Bismarcks mit einer Niederlage. Schwerer wog aber noch, dass zugleich auch die demokratischen Kräfte Deutschlands eine kaum wieder gutzumachende Niederlage erlitten: Der Liberalismus war durch den «Umfall» der Nationalliberalen Partei diskreditiert, die Arbeiterschaft versteifte sich in einer Haltung grundsätzlicher Feindschaft gegen den Staat.

35. Der Imperialismus
35.1 Grundlagen und Wesen des Imperialismus
35.11 Verkehrswesen: Drei Neuerungen revolutionierten im 19. Jahrhundert, zuerst langsam, dann mit immer grösserer Schnelligkeit, das ganze Verkehrswesen: die Anwendung der Dampfkraft auf den Landverkehr, ihre Anwendung auf den Seeverkehr und die Entwicklung elektrotechnischer Nachrichtenübertragungsmittel. Dagegen wirkten sich bis 1914 die Erfindung des Benzin- und des Dieselmotores und der Bau der ersten Motorflugzeuge noch nicht stark auf den Verkehr aus: Automobile und Flugzeuge hatten vorerst noch vorwiegend sportlichen, die Automobile auch Luxuscharakter ohne nennenswerte praktische Bedeutung. Wohl überflog Blériot 1909 alserster den Ärmelkanal, wohl Chavez ein Jahr später die Alpen (von Brig nach Domodossola; mit tödlichem Absturz bei der Landung), aber das Flugzeug blieb vorerst ein überaus gefährliches Verkehrsmittel von sehr geringer Transportkapazität.
George Stephenson konstruierte 1824 seine «Rocket», die erste Dampflokomotive, die sich ohne Zahnrad, allein durch den Felgendruck bewegte. Wenig später verband die erste Eisenbahnlinie die Städte Manchester und Liverpool, Um die Jahrhundertmitte erfasste der Eisenbahnbau das kontinentale West- und Mitteleuropa. Von etwa 1870 an ermöglichte die verbesserte Technik der Stahlerzeugung, gewalzte Stahlschienen zu verwenden, die der Belastung durch schwerere und schneller fahrende Züge gewachsen waren. Jetzt erst wurde die Eisenbahn zum wichtigsten Landverkehrsmittel: In den vierzig Jahren zwischen 1870 und 1910 wurden fast fünfmal so viele Eisenbahnkilometer erstellt als in den vorangegangenen vier Jahrzehnten.
Wesentlich länger dauerte es, bis sich in der Schiffahrt der Maschinenantrieb durchsetzte. Zwar überquerte die «Savannah», ein 350-t-Dampfer mit Hilfssegeln, schon 1819 den Atlantik, aber der Antrieb durch Schaufelräder war mit derart viel Unzuträglichkeiten verbunden, dass die Segelschiffe nach wie vor wirtschaftlicher waren. Zudem wurden erst jetzt die leistungsfähigsten, schnellsten und schönsten Segelschiffe gebaut, die je die Meere befuhren: die Clipper.
Wohl hatte der Österreicher Ressel schon 1827 die Schiffsschraube patentieren lassen, seine Erfindung blieb aber merkwürdigerweise unbeachtet. Doch wurde die Idee des Schraubenantriebes dann durch englische und französische Ingenieure neuentwickelt, und von der Jahrhundertmitte an setzte sie sich durch. Das neue Antriebssystem und von etwa 1870 an die Möglichkeit, den Schiffsrumpf aus genieteten Stahlplanken zu bauen, entschieden den Kampf zwischen Dampf- und Segelschiff. Zur selben Zeit wurde der Suezkanal vollendet: Dieser neue und wesentlich kürzere Seeweg nach Indien war aber für Segelschiffe ungeeignet. Auch war es nur mit Dampfschiffen möglich, einen fahrplanmässigen Linienverkehr auf den wichtigsten Strecken einzurichten. Kurz nach der Jahrhundertwende verdrängten im Schiffsbau Turbinendampfmaschinen mit Ölfeuerung die kohlengefeuerten Kolbendampfmaschinen; das bedeutete eine neue Verbesserung. Die Zeit der Segelschiffe war endgültig abgeschlossen.
Endlich wurde die Nachrichtenübermittlung völlig umgestaltet durch drei Erfindungen, die alle auf dem Ausbau der Elektrizitätstheorie beruhen: Erstens liess Samuel Morse 1840 seinen Telegraphenapparat mit Morseschrift patentieren; bereits zwischen 1866 und 1871 verbanden submarine Telegraphenkabel Europa mit den Kontinenten Nordamerika, Asien und Australien; 1903 wurde das erdumspannende Telegraphennetz durch das Kabel von der nordamerikanischen Pazifikküste nach Australien geschlossen. Zweitens konstruierte Graham Bell 1876 das erste brauchbare Telephon, doch fand dieses neue Kommunikationsmittel jahrzehntelang fast nur für den Lokalverkehr Verwendung. Drittens erfand Guglielmo Marconi 1895 das erste Funkgerät, das allerdings noch von sehr geringer Reichweite und grosser Anfälligkeit gegen atmosphärische Störungen war.

35.12 Weltmarktwirtschaft: Eine leistungsfähige, weltweite Verkehrsorganisation, wie sie im letzten Jahrhundertdrittel sich ausbildete, war die erste der Voraussetzungen für das Zusammenschmelzen der einzelnen Volkswirtschaften zu einer Weltmarktwirtschaft. Die zweite war die Annahme des Freihandelssystems durch die bedeutenden Staaten. Darin war Grossbritannien vorausgegangen, das zuerst 1846 die «Corn Law», den Schutzzoll auf Getreide, dann alle übrigen den freien Handel hemmenden Gesetze beseitigt hatte. Nach der Jahrhundertmitte setzten sich die freihändlerischen Ideen in den meisten abendländischen Staaten durch; auch die USA hielten bis zum Sezessionskrieg am Freihandel fest.
Von etwa 1870 an wurden die weltwirtschaftlichen Verflechtungen derart eng, dass fast von einer eigentlichen Weltmarktwirtschaft gesprochen werden kann. In einer vollkommenen, in einer idealtypischen Weltmarktwirtschaft besteht für jedes beliebig transportfähige Produkt ein Weltmarktpreis: der an einem gegebenen Ort tatsächlich geltende Preis bildet sich dann aus diesem Weltmarktpreis zuzüglich Handelsmargen und Transportkosten. Das führt dazu, dass in einer bestimmten Region nur noch Wirtschaftsgüter erzeugt werden, deren Produktionskosten unter der Summe von Weltmarktpreis und allfälligen Transportkosten liegen. Damit verlieren die einzelnen Volkswirtschaften ihre Autarkie; aus eigener Produktion erfolgt die Versorgung des Binnenmarktes nur noch bei jenen Wirtschaftsgütern, die entweder nicht transportfähig sind (zum Beispiel leichtverderbliche Nahrungsmittel), oder bei denen die inländischen Erzeuger vorteilhafter als der Weltmarkt liefern können. Umgekehrt wird die Produktion für den Weltmarkt, für den Export, immer wichtiger.
In reiner Form gab es bisher allerdings noch nie eine derartige Weltmarktwirtschaft, denn immer wieder trafen die einzelnen Staaten Massnahmen zum Schutze bedrohter Wirtschaftszweige. Die meisten west- und mitteleuropäischen Staaten sahen stets eine wichtige Aufgabe in der Erhaltung einer existenzfähigen Landwirtschaft, um in der Nahrungsmittelversorgung nicht völlig vom Weltmarkt abhängig zu werden. Und ganz generell suchten die imperialistischen Industriestaaten die Übertragung der neuen Produktionstechnik auf ihr Kolonialgebiet zu hindern, um so das Monopol industrieller Fertigung zu behaupten, um ihrer eigenen Industrie einen grossen und aufnahmefähigen Absatzmarkt zu erhalten. Hier liegen die Wurzeln der Entwicklungsunterschiede, die die heutige Weltlage prägen.

35.13 Wirtschaftliches Expansionsbedürfnis: In den Staaten West- und Mitteleuropas und in den USA führte die fortschreitende Industrialisierung nach Überwindung des frühindustriellen Kapitalmangels, in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer starken Kapitalakkumulation. Das bewirkte einen überdimensionierten Ausbau der industriellen Produktionsmittel; das aber schuf dann den Zwang, sich weitere Absatzmärkte zu sichern. Vielenorts suchte das akkumulierte Kapital auch neue Anlagemöglichkeiten in noch nicht kapitalistisch durchorganisierten Räumen mit wenig entwickelter Industrie und einem entsprechend grossen Angebot an billiger menschlicher Arbeitskraft. Ebenso wichtig wie die Erschliessung neuer Produktions- und Absatzgebiete war für die hochentwickelten Industrien aber auch die kapitalmässige Durchdringung und damit Beherrschung der Rohstoffproduktion.
Dieser wirtschaftliche Expansionismus war naturgemäss aufs engste verknüpft mit politischem Annexionismus und Kolonialismus, mit dem Imperialismus im eigentlichen Begriff des Wortes. Denn die massiven Kapitalinvestitionen führten zwangsläufig zum Bestreben, diese ausserhalb der eigenen Volkswirtschaft liegenden, aber ihr dienenden Gebiete auch politisch zu beherrschen.

35.14 Übergang zur Schutzzollpolitik: Am frühesten, nämlich schon als Folge des Sezessionskrieges, gaben die USA die Freihandelspolitik auf. Um 1878/1880 folgten die meisten kontinentaleuropäischen Staaten, wobei in Deutschland der Zusammenhang zwischen der neuen Zollpolitik und dem grundsätzlichen Kurswechsel in der Innenpolitik auffällig ist. Erst sehr spät und nur sehr zögernd wich dann auch Grossbritannien vom Freihandelssystem ab.
Überall war der Gedanke wegleitend, bedrohte Zweige der eigenen Volkswirtschaft gegen die Konkurrenz des Weltmarktes zu schützen. Aber unvermeidlich musste die Schutzzollpolitik auch zu einer Verstärkung der imperialistischen Tendenz führen: Je mehr die Volkswirtschaften suchten, sich voneinander abzuschliessen und das freie Spiel des Weltmarktes aufzuheben, um so grössere Bedeutung musste der sicheren Beherrschung fremder Rohstoffund Absatzmärkte zukommen. Unter der Herrschaft der Freihandelsideen war der Wert der Kolonien allgemein sehr gering eingeschätzt worden; eine Ausnahme hatte lediglich die weltweite Kolonialpolitik des Second Empire gemacht, doch wirkte in ihr vorab das permanente Prestigebedürfnis des bonapartistischen Regimes. Von etwa 1880 an änderte sich das: Ähnlich wie in der Zeit des Merkantilismus, aber noch intensiver wegen der jetzt viel engeren weltwirtschaftlichen Verflechtung, setzte ein neuer Wettlauf nach Kolonien ein.

35.15 Geistige Wurzeln des Imperialismus: Das Wesen des Imperialismus erschöpft sich jedoch keineswegs in diesem Wettlauf nach Kolonien, seine Ursachen sind auch keineswegs ausschliesslich wirtschaftlicher Natur. Vielmehr wirkten neben den wirtschaftlichen Triebkräften drei geistige Strömungen, die in engster Verflechtung auftraten: Am folgenschwersten war der Durchbruch des Vulgär- oder Sozialdarwinismus, der in der Vernichtung der «lebensuntauglichen» Individuen und Völker den eigentlichen Sinn des menschlichen Daseins und entsprechend in der Gewaltanwendung ein natürliches Recht, ja geradezu eine existentielle Pflicht sah.
Diese Auffassung verband sich mit dem älteren, aus der Romantik erwachsenen Nationalismus, dessen Wesen dadurch aber völlig gewandelt wurde: Nicht mehr das freie Nebeneinander von sich selbst bestimmenden Nationen, vereint im gemeinsamen Gefühl der Humanität, galt jetzt als ideales Ziel, sondern die Herrschaft der eigenen Nation über schwächere.
Endlich steht an der Schwelle der imperialistischen Zeit die Erkenntnis, dass die Geschichte zur globalen Geschichte geworden sei, die Überzeugung, mit dem Wettlauf um die noch unbeherrschten Teile der Erde, um die Weltmachtstellung, sei die letzte Phase im Kampf der Grossmächte um Existenz oder Untergang angebrochen.

35.16 Erscheinungsformen in den einzelnen Ländern: Der vollentwickelte Imperialismus trat seinem Wesen nach nur bei Grossmächten auf, denn nur diese konnten ernsthaft daran denken, eine Weltmachtstellung zu erringen. Doch der dem Imperialismus zugrunde liegende Sozialdarwinismus war eine allgemeine abendländische Erscheinung. Aus ihm flossen nationalistischer und oft rassistischer Eigendünkel und kolonialistische Gesinnung. Das fand sich auch bei kleineren abendländischen Staaten wie bei Belgien, das im Kongo, und bei Holland, das in Indonesien ein grosses Kolonialreich rücksichtslos ausbeutete.
Bei allen abendländischen Völkern führte die imperialistische Welle zu einem überhitzten, übersteigerten Nationalismus, den man in England als «Jingoism», in Frankreich als «Chauvinisme», in Deutschland als «Alldeutschtum» bezeichnete, während er in Russland in der Form des Panslawismus und der slawophilen Bewegung auftrat. In den USA zeigte sich dieser Nationalismus vor allem im Kampf gegen die Einwanderung aus Ost- und Südeuropa sowie aus den asiatischen Ländern und in einer Verhärtung der Negerfeindschaft, wie es denn überhaupt ein Merkmal der Zeit war, das eigene Volkstum und die eigene Rasse als höherstehend zu betrachten.


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Anmerkungen des Erfassers zu Karl Marx und Friedrich Engels

In der Vorrede des Werkes "Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik gegen Bruno Bauer und Konsorten" von Karl Marx und Friedrich Engels (aus Werke, Band 2,  Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, geschrieben September bis November 1844, erstmals erschienen Ende Februar 1845) heisst es:

Vorrede
Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das "Selbstbewusstsein oder den "Geist" setzt und mit dem Evangelisten lehrt: "Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein Nütze." Es versteht sich, dass dieser fleischlose Geist nur in seiner Einbildung Geist hat. Was wir in der Bauerschen Kritik bekämpfen, ist eben die als Karikatur sich reproduzierende Spekulation. Sie gilt uns als der vollendetste Ausdruck des christlich-germanischen Prinzips, das seinen letzten Versuch macht, indem es "die Kritik" selbst in eine transzendente Macht verwandelt.
Unsre Darstellung schliesst sich vorzugsweise an die "Allgemeine Literatur-Zeitung" von Bruno Bauer an - ihre ersten acht Hefte lagen uns vor -, weil hier die Bauersche Kritik und damit der Unsinn der deutschen Spekulation überhaupt den Gipfelpunkt erreicht hat. Die kritische Kritik (die Kritik der "Literatur-Zeitung") ist um so lehrreicher, je mehr sie die Verkehrung der Wirklichkeit durch die Philosophie bis zur anschaulichsten Komödie vollendet. - Man sehe z.B. Faucher und Szeliga. - Die "Literatur-Zeitung" bietet ein Material, an welchem auch das grössere Publikum über die Illusionen der spekulativen Philosophie verständigt werden kann. Dies ist der Zweck unsrer Arbeit.
Unsere Darstellung ist natürlich durch ihren Gegenstand bedingt. Die kritische Kritik steht durchgehends unter der schon erreichten Höhe der deutschen theoretischen Entwicklung. Es ist also durch die Natur unsres Gegenstandes gerechtfertigt, wenn wir jene Entwicklung selbst hier nicht weiter beurteilen.
Die kritische Kritik zwingt vielmehr, die schon vorhandenen Resultate als solche ihr gegenüber geltend zu machen.
Wir schicken daher diese Polemik den selbständigen Schriften voraus, worin wir - versteht sich, jeder von uns für sich - unsre positive Ansicht und damit unser positives Verhältnis zu den neueren philosophischen und sozialen Doktrinen darstellen werden.
Paris, im September 1844

(Die kursive Hervorhebung stammt vom Erfasser. Der Titel  'Kritik der kritischen Kritik' heisst:  Kritik [von Marx und Engels] an der [christlichen Religions]kritik [von Bauer], d.h. die Autoren kritisieren die kirchlichen Kritiker.)


Kurze Zusammenfassung zum Marxismus / Materialismus

Die Daten stammen aus:
a) Bertelsmann, Universal-Lexikon 1991
b) Hans Joachim Störig, Weltgeschichte der Philosophie, Ex Libris 1982.
c) Anmerkungen des Erfassers
d) Zitate aus 'Weltgeschichte - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart' von Joseph Boesch, Eugen Rentsch Verlag Zürich, 7. Auflage von 1984.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, geb. 1770 - 1831, deutscher Philosoph. Einer der bedeutendsten Denker des deutschen Idealismus. Er zeigt den Aufstieg der philosophischen Gedankens vom vorstellenden Bewusstsein bis zur Vernunft und zum absoluten Wissen. In der 'Logik' (1812-1816) entwickelt er den Sinngehalt des Absoluten, d.i. der Wahrheit 'an und für sich selbst'. In der Rechtsphilosophie stellt er die praktische Philosophie dar, d.h. er bestimmt Sittlichkeit, Recht und Moralität als Willensformen des Geistes und den Staat als absolute Wirklichkeit der Sittlichkeit. Methode und zugleich Inhalt seines Denkens ist die Dialektik. Hegels Philosophie hatte grossen Einfluss auf die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts.
b) Die Opposition gegen Hegel kam andererseits von der 'linken' Seite. Sie hatte zunächst zwei Ausgangspunkte. Der eine war die exakte Naturwissenschaft. Die gewaltigen Erfolge der positiven Naturforschung ... brachten eine wachsende Hochschätzung der reinen Tatsachenforschung und eine entsprechende Geringschätzung der philosophischen und religiösen Spekulation mit sich. Positivismus und Materialismus, verbunden mit Skeptizismus gegen die Religion oder mit ausgesprochener Religionsfeindlichkeit, erhoben ihr Haupt.
c) die wichtigsten Vertreter dieser Religionskritik waren Feuerbach und Strauss.

a) Ludwig Feuerbach, geb. 1804 - 1872, deutscher Philosoph. Schüler G.W.F. Hegels. Der einflussreichste Denker des Vormärz; sein sensualistischer Materialismus beeinflusste insbesondere Marx und Engels.

b)...Während aber Strauss sein Leben lang nicht ganz mit Hegel brach, ..., vollzog Feuerbach bald den radikalen Bruch mit Hegel.
... Feuerbach unternimmt die Kritik der Religion in erster Linie mit psychologischen Mitteln. ...
... Feuerbach unternimmt es, die Entstehung der Religion aus dem Wesen des Menschen, aus seinem Egoismus nämlich, seinem Glückseligkeitstrieb, zu erklären. "Der Mensch glaubt an Götter nicht nur, weil er Phantasie und Gefühl hat, sondern auch weil er den Trieb hat, glücklich zu sein ... Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor; die Götter sind die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen ...
... Da die Natur der Erfüllung menschlicher Wünsche viele Hindernisse in den Weg legt, so schmeichelt es der menschlichen Selbstliebe, über der blinden Notwendigkeit der Natur ein den Menschen ähnliches, die Menschen liebendes Wesen zu denken, das den Menschen schützt und seine Wünsche erfüllen kann. ...
... Aber die Befriedigung ihrer Wünsche in einer eingebildeten Religion ist nur ein kindlicher Traum der Menschheit. Der Mensch muss aus ihm erwachen und beginnen, das, was er durch die Religion nur in der Phantasie erlangt, durch sein Handeln in Wirklichkeit zu gewinnen; ein schönes, glückliches, von den Rohheiten und blinden Zufälligkeiten der Natur freies Dasein. Das Mittel dazu ist die Bändigung der Natur durch Bildung und Kultur. ...

c) Ein weiterer 'Hegelianer', der Marx beeinflusste, war:

a) David Friedrich Strauss, geb. 1808 - 1874, deutscher evangelischer Theologe und Schriftsteller. Verneinte die historische Zuverlässigkeit der Evangelien und fand in ihnen mythische Überlieferungen. Trat für einen von der christlichen Überlieferung gelösten Glauben ein. Hauptwerk: 'Das Leben Jesu'.
b)...Während aber Strauss sein Leben lang nicht ganz mit Hegel brach, ..., vollzog Feuerbach bald den radikalen Bruch mit Hegel.
... In seinem dritten Werk 'Der alte und der neue Glaube' 1872 vertritt Strauss einen ausgesprochenen Pantheismus. Die Frage: 'Sind wir noch Christen?' beantwortet er mit einem entschiedenen Nein; die Frage: 'Haben wir noch Religion?' dagegen mit Ja. Es ist aber eine optimistische Diesseitsreligion des Fortschritt- und Kulturglaubens. An die Stelle Gottes tritt das All, das Universum. Ihm stehen wir mit liebendem Vertrauen und jenem demütigen Gefühl unbedingter Abhängigkeit gegenüber, das man als 'Religion' bezeichnen kann. ...

d) Karl Marx, 1818 in Trier geboren, war der Sohn eines angesehenen Rechtsanwaltes und preussischen Justizrates. Dreiundzwanzigjährig promovierte zum Doktor der Philosophie. Dann redigierte er zwei Jahre lang eine liberal-demokratische Zeitung, bis ihn die Zensurschikanen zur Auswanderung zwangen. Wenige Monate vorher hatte er sich mit Jenny von Westphalen verheiratet, die einer der ersten Familien Triers angehörte (ihr Bruder wurde später preussischer Minister). Die folgenden viereinhalb Jahre, vom Herbst 1843 bis zum Frühjahr 1848, die Marx zuerst in Paris, dann in Brüssel verlebte, sind die fruchtbarsten seines Lebens. Er vollendete eine kritische Auseinandersetzung mit dem Hegelianismus und befasste sich eingehend und äusserst polemisch mit verschidenen frühsozialistischen Theorien. In diese Zeit fällt der Anfang seiner lebenslangen Freundschaft mit Engels. Im Wien 1847/48 verfasste er zusammen mit Engels im Auftrage eines sozialistisch-kommunistischen Zirkels, wie es sie damals in grosser Zahl gab, als Programmschrift das «Manifest der Kommunistischen Partei». Nach Ausbruch der Märzrevolution von 1848 kehrte er nach Deutschland zurück, doch gelang es ihm nicht, nennenswerten Einfluss auf den Gang der Geschehnisse zu gewinnen. Mit der Gründung einer Zeitung verlor er sein eigenes Vermögen und das seiner Frau; er musste froh sein, dass ihm mit seiner Familie wenigstens noch die Flucht nach England glückte, wo er völlig mittellos anlangte. Von 1849 bis zu seinem Tode im Jahre 1883 lebte er in London, fast täglich zehn und mehr Stunden an seinem Hauptwerk «Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie» arbeitend, von dem er doch nur den ersten Band abschliessen konnte (zwei weitere Bände wurden dann von Engels aus dem Nachlass herausgegeben). Während dieser ganzen Zeit befand sich Marx in erbärmlichen materiellen Verhältnissen. Nur die dauernde Unterstützung durch Engels bewahrte die Familie vor dem äussersten Elend; dennoch blieben Krankheit, Mangel und früher Tod mehrerer Kinder Inhalt der Familiengeschichte. Mehr und mehr verhärtete sich nun auch der Charakter von Marx zu doktrinärer, fast prophetischer Unduldsamkeit. Nur im Kreise seiner Familie blieb er Mensch, liebevoll und heiter.

a) Friedrich Engels, geb. 1820 - 1895, dt. Sozialist. Arbeitete eng mit K. Marx zusammen. Als Programmschrift für den 'Bund der Kommunisten', dem Marx und Engels 1847 beitraten, verfassten sie das 'Kommunistische Manifest' 1848. Während der Revolution 1848/49 war Engels Redakteur der von Marx geleiteten 'Neuen Rheinischen Zeitung'. Nach Teilnahme am gescheiterten pfälzischen Aufstand emigrierte er nach England. 1870 wurde er Mitglied des Generalstabs der 1. Internationale. In zahlreichen Schriften wirkte er massgeblich an der Ausbildung der marxistischen Theorie mit und trug zu ihrer Popularisierung bei.

d) Friedrich Engels, 1820 geboren, war der Sohn eines reichen Industriellen in Barmen (heute ein Teil der Stadt Wuppertal). Mit zweiundzwanzig Jahren ging er zur weiteren Ausbildung in das väterliche Zweigunternehmen in Manchester, wo er in enge Beziehungen zu Chartisten und Anhängern Owens trat. Die Frucht dieses Aufenthaltes war 1845 die auch heute noch wertvolle Schrift über «Die Lage der arbeitenden Klasse in England». Nun bildete sich auch eine enge Freundschaft mit Marx, mit dem zusammen 1847/48 das «Manifest der Kommunistischen Partei» verfasste und den er 1848 nach Deutschland begleitete, um ihn in seinen politischen Bestrebungen zu unterstützen. Die bald einsetzende Reaktion zwang 1849 auch Engels zur Emigration; im folgenden Jahr trat er wieder ins väterliche Unternehmen ein und leitete dann zwanzig Jahre lang die Niederlassung in Manchester. Während dieser Zeit ermöglichte er durch dauernde finanzielle Hilfe seinem Freunde Marx die wissenschaftliche Arbeit und warb auf zahlreichen Geschäftsreien für dessen Ideen. 1869 gab er die Berufstätigkeit, «den elenden Kommerz», auf und wollte ein «System des Marxismus> verfassen; der Tod seines Freundes veranlasste ihn dann aber, seine Arbeitskraft fast ausschliesslich dem Abschluss von dessen unvollendetem Hauptwerk «Das Kapital» zu widmen, von dem er den zweiten und drittem Band edierte. Er starb 1895 in London. Die Bedeutung von Engels ist umstritten. Fest steht, dass er an zahlreichen Schriften, die unter dem Namen von Marx erschienen, mitgearbeitet hat; über das Ausmass seines Beitrages lässt sich aber nichts Sicheres sagen. Gewiss ist, dass die Ausweitung der dialektischen Geschichtsphilosophie zu einem umfassenden philosophischen System, zum Dialektischen Materialismus, sein Werk ist. In der kommunistischen Geschichtsauffassung steht er ebenbürtig neben Marx, im westlichen Verständnis aber wird ihm oft Fehlinterpretation und Vergewaltigung der Gedanken von Marx vorgeworfen.

a) Marxismus, die von K. Marx und F. Engels und ihren Anhängern und Schülern aufgestellten, philosophischen, historischen, politischen und wirtschaftlichen Theorien. Der Marxismus bedient sich Hegels Idee der Dialektik, jedoch sehen Marx und Engels im Gegensatz zu Hegel die bewegenden Kräfte der Geschichte nicht im Bewusstsein, sondern im Sein: Die Wirklichkeit präge das Bewusstsein des Menschen und nicht umgekehrt.

d) Der Anarchist Michail Bakunin (1814-1876) begründete die revolutionäre Form des Anarchismus. Während Proudhon einen allmählichen Übergang von der staatlichen Zwangsorganisation und der kapitalistischen Eigentumsordnung zwischen völlig freiwilligen Verbänden zwischen lauter freiwilligen Eigentümern für möglich hielt, vertrat Bakunin die Auffassung, die Herrschaft von Menschen über Menschen könne nicht anders als mit Gewalt zerschlagen werden, und eine zugleich gerechte und freie Gesellschaftsordnung setze das Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln voraus. Vom revolutionären Marxismus trennte ihn die Zielvorstellung: nicht Eroberung, sondern Zerstörung des Staates. Seine Anhänger bezeichneten sich als «antiautoritäre Kollektivisten»; sie rechtfertigten ihre blutigen Anschläge gegen die bestehende Gesellschaftsordnung als «Propaganda der Tat». Im ausgehenden 19. Jahrhundert drohte diese anarchistische Bewegung zu einer ernsten Gefahr für die staatliche Ordnungsgewalt zu werden, dann flaute sie ab und gewann erst seit den sechziger Jahren unseres [20.] Jahrhunderts in gewandelten Formen erneut Bedeutung.

a) Materialismus, eine Einstellung, die das Materielle als grundlegend und allein wirklich betrachtet und damit das Geistige niedriger bewertet.

a) Idealismus, allgemein ein nicht vom Eigennutz und materiellen Interessen, sondern von sittlichen, kulturellen, humanitären Werten (Idealen) bestimmtes Verhalten. In der Philosophie Inbegriff aller (auf Platon zurückgehenden) Lehren, die die sinnliche Wirklichkeit als Erscheinung eines Übersinnlichen bestimmen. Gegensatz: Materialismus.

a) Dialektik, ursprünglich die Kunst der Gesprächsführung, dann eine philosophische Methode, in ihrer heutigen Form von Hegel geprägt. Ein Begriff (These) erzeugt seinen eigenen Gegenbegriff (Antithese). In der Synthese ist der Widerspruch 'aufgehoben' (d.h. überwunden und zugleich aufbewahrt).

a) Dialektischer Materialismus, Diamat, Teil des Marxismus-Leninismus, zusammen mit dem historischen Materialismus dessen philosophische Grundlage. Nach Auffassung des dialektischen Materislismus ist die Welt ihrem Wesen nach materiell. Die Prozesse der Entwicklung zu neuen, höheren Formen in der Natur und menschlichen Gesellschaft vollziehen sich dialektisch, d.h. durch das Auftreten und Überwinden von Widersprüchen, und in Sprüngen, d.h., dass evolutionäre, quantitative Veränderungen an einem bestimmten Punkt revolutionär in qualitative Veränderungen umschlagen.


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