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Geisteswissenschaften - Geschichte

Zur Geschichte des 19. Jahrhunderts  (Forts.)

Auszüge aus dem dtv-Atlas zur Weltgeschichte Band 2 (Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart), dtv Deutscher Taschenbuch-Verlag, 12. Auflage von 1977, Verfasser: Hermann Kinder, Werner Hilgemann.
Die Heraushebungen sind unverändert aus dem Atlas übernommen.

Zeitalter der Nationalstaaten / Kultur, Wissenschaft

Zur geistigen Situation Europas im 19. Jh.

Dem herrschenden Glauben an Fortschritt und (Natur-)Wissenschaft entspricht ein Relativismus, der allg. ethische Werte leugnet und das Erkennen abhängig macht vom Stand der Forschung oder der geschichtl. Situation (Historismus), von der individuellen Verfassung, der Gesellschaft oder der Klassenzugehörigkeit. Wissenschaftl. Haltung (vorurteilsloses krit. Denken, method. Disziplin) gilt als Ideal des mündigen Menschen (geistiger Liberalismus); wissenschaftl. Ergebnisse oder Theorien werden zum Inhalt von Weltanschauungen (Ideologien) gemacht, die Anspruch auf Religionsersatz erheben.
Positivismus: Nach Auguste Comte (1798 bis 1857) folgt der Fortschritt dem »Dreistadiengesetz«: im theol. Stadium wird die Welt übernatürlich gedeutet, im philos. mit Hilfe abstrakter Ideen und Kräfte. Erst im positiven Stadium gelingt die Zusammenfassung der Erscheinungen in Gesetze. Gelehrte und Industrielle vereinigen wissenschaftl. Theorie und Praxis zur Steuerung der Welt. »Savoir pour prévoir, prévoir pour prevenir« (Wissen, um vorauszusehen, voraussehen, um vorzubeugen).
Der >Cours de philosophie positive< (1830 bis 1842) bringt ein System der Wissenschaften, in dem jede Disziplin auf der vorhergehenden aufbaut: Mathematik - Astronomie - Physik - Chemie - Biologie - Soziologie. Die »Sozialingenieure« können der Gesellschaft ein glückliches Leben sichern durch eine Menschheitsreligion, die sich selbst zum Gegenstand hat.
Die Lehre beeinflusst u. a. MILL und SPENCER; H. THOMAS BUCKLE (1821-62) sucht durch Tatsachenforschung exakte Gesetze der Geschichte, H. TAINE (1828 - 93) begründet die Milieutheorie (Prägung des Menschen durch seine Umwelt); E. RENAN (1823 - 92) stellt das >Leben Jesu< (l863) menschlich-naturalist. dar. In Deutschland wertet D. F. Strauss (1808 - 74) in seinem >Leben Jesu< (1835 f.) die Evangelienberichte als Mythen; B. BAUER (1809-82) bestreitet die histor. Existenz Jesu; Ludwig Feuerbach (1804-72) erklärt im >Wesen des Christentums< (1841) die Religion zur Illusion des Menschen, dessen Ideen nur Abbilder der Wirklichkeit sind und dessen Unsterblichkeit nur in seinen Werken bzw. Kindern liegt.
Materialismus: LUDWIG BÜCHNER (1824-99) formuliert den vulgären Glauben, dass alle Erscheinungen auf >Kraft und Stoff'< (1855) beruhen; MOLESCHOTT (1822 - 93) führt das Denken auf chem. Prozesse zurück. - Von grösster Bedeutung wird der
Histor. Materialismus von Karl Marx (1818 bis 1883), umrissen in der >Kritik der polit. Ökonomie< (1859): Der Geschichtsablauf vollzieht sich nach exakten Gesetzen (Determinismus). Vom »Unterbau« des Menschen und der Geschichte (dem Sein = ökonom. und soz. Verhältnisse) hängt der »ideolog. Überbau« (das Bewusstsein = Kunst, Wissenschaft, Religion, Recht, Staat) ab. Innerhalb der Basis entwickeln sich dialektisch (vgl. HEGEL) Produktivkräfte (Werkzeuge, menschl. Arbeitsfähigkeit) und Produktionsverhältnisse. Eigentumsbildung und Arbeitsteilung bedingen den Produktionsfortschritt, entfremden aber zugleich die Menschen von seiner Arbeit bzw. von sich selbst. Die besitzende Klasse hält reaktionär am jeweiligen Zustand fest, die von ihr ausgebeutete Klasse sucht ihn zu verändern. Klassenkämpfe treiben die Geschichte voran und führen notwendig zu Revolutionen, die die Basisspannungen ausgleichen, den Überbau ändern und eine qualitativ höherwertige Periode einleiten. Die Geschichte spannt sich vom Urkommunismus bis zum klassenlosen Endkommunismus, in dem Ausbeutung und Selbstentfremdung des Menschen aufgehoben sein werden.
Evolutionismus: Nach LAMARCK (1744 bis 1829) sind Umweltsanpassung und Vererbung erworbener Eigenschaften Faktoren der biolog. Entwicklung. Die Deszendenz-Theorie erweitert Charles Darwin (1809 - 82) in seinem Werk über die >Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl< (1859). Auf Grund seines 1831-36 im pazifischen Raum gesammelten Materials erkennt er als Entwicklungsprinzipien: Variation, Vererbung und Überproduktion an Nachkommen. Diese führt im »Kampf ums Dasein« zur Auslese (Selektion) starker, lebensfähiger Exemplare und Arten, die keiner Teleologie (geplanter Zweckabsicht) unterliegen. - Zur Verbreitung der Theorie trägt ERNSTHAECKEL (1834 - 1919) bei. Seine >Natürliche Schöpfungsgeschichte< (1868) führt alles Leben über das »biogenetische Grundgesetz« auf einen Urgrund zurück. Den biolog. Monismus verallgemeinern die >Welträtsel< (1899) zu einer materialist. Weltanschauung, die als (Sozial-)Darwinismus auf Gesellschaft und Politik einwirkt.
Kritiker der Zeit: Unberührt vom Fortschrittsglauben sind die Gedanken des Historikers Tocqueville (1805 - 59) über die Gefahren egalitärer Massendemokratien, die der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-97) als Symptome einer neuen Zivilisations-Barbarei wertet. - Der dän. Theologe Sören Kierkegaard (1813-55) greift selbstgenügsames Kirchenwesen und christl. Anpassung an und verlangt rücksichtslose Annahme des Glaubens bis zum Märtyrertum. Dialekt. Theologie und Existenzphilosophie greifen auf seine Gedanken zurück. - Ebenso radikal wie genial deckt Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) in den >Unzeitgemässen Betrachtungen< (1873 - 76) geistige Krise und Kulturverfall auf. Sein Hass gilt dem Christentum (dem »Schandfleck der Menschheit«), den biolog. Schwachen mit ihrer »christl. Sklavenmoral«, dem »Bildungsphilister« und satten Bürgertum. Gehört wird nicht seine Warnung, sondern seine Lebensphilosophie, die dem »Unsinn« des Lebens, dem Pessimismus und Nihilismus den Übermenschen im >Zarathustra< (1883 - 85) entgegensetzt als Inbegriff des »Willens zur Macht« und einer Moral >Jenseits von Gut und Böse< (1886).

Zeitalter der Nationalstaaten / Wissenschaft, Technik

Wissenschaftl. und technischer Fortschritt

Wissenschaftl. Forschung und techn. Auswertung ihrer Ergebnisse bedingen einander. Sie lassen sich z. T. kaum mehr trennen.
Physik:
1808 Polarisation des Lichts MALUS
1815 Wellentheorie des Lichts FRESNELL
1827 Ohmsches Gesetz OHM
1831 Elektr. Induktions-Gesetz FARADAY
1833 Elektrolyse FARADAY
1859 Spektral-Analyse KIRCHHOFF/BUNSEN
1888 Elektromagn. Wellen HERZ
1895 Röntgen-Strahlen RÖNTGEN
1895 Elektronen-Theorie LORENZ
1896 Uran-Strahlen BECQUEREL
1900 Quanten-Theorie PLANCK
1903 Radioaktivität RUTHERFORD
1905 Relativitäts-Theorie EINSTEIN
1911 Atom-Modell RUTHERFORD
1913 Atom-Modell BOHR
Biologie:
1841 Samenfäden KÖLLIKER
1842 Period. Eireifung BISCHOFF
1842 Zellteilung REMAK
1865f. Vererbungsregeln MENDEL
1901 Mutations-Lehre DE VRIES
1904 Chromosomen BOVERI
Chemie :
1818 Atom-Gewichte BERZELIUS
1828 Harnstoff-Synthese WÖHLER
1831 Elementar-Analyse LIEBIG
1833 Phenol, Anilin aus Kohle RUNGE
1841 Agrikultur-Chemie LIEBIG
1856 Teer-Farbstoff PERLIN
1865 Benzol-Ring KEKULÉ
1869 Period. System der Elemente MEYER/MENDELEJEFF
1878 Indigo-Synthese BAYER
1898 Radium CURIE
1909 Synth. Kautschuk HOFMANN
1913 Ammoniak-Synthese HABER/BOSCH
Medizin:
1846 Äther-Narkose MORTON
1848 Blinddarm-Operation HAUCOCK
1858 Zellularpathologie VIRCHOW
1861 Kindbettfieber SEMMELWEIS
1867 Antisept. Wundbehandlung LISTER
1882 Tuberkelbazillus KOCH
1883f. Diphtheriebazillus KREBS/LÖFFLER
18S5 Asepsis BERGMANN
1893 Diphtherie-Serum BEHRING
1894 Pesterreger KITASATO
1909 Salvarsan EHRLICH/HATA
Verkehrstechnik:
1834 Elektromotor JACOBI
1867 Dynamo-Maschine SIEMENS
1876 Viertaktmotor OTTO
1879 Elektro-Lokomotive SIEMENS
1884 Benzin-Motor DAIMLER/BENZ
1885 Kraftwagen DAIMLER/BENZ
1897 Diesel-Motor DIESEL
1900 Luftschiff ZEPPELIN
1903 Motor-Flug GEBR. WRIGHT
Nachrichtentechnik:
1837 Schreib-Telegraf MORSE
1861 Fernsprecher REIS
1876 Telefon BELL/GRAY
1877 Sprech-Maschine EDISON
1897 Drahtlose Telegraphie MARCONI
1902 Bild-Telegrafie KORN
Drucktechnik:
1812 Schnellpresse KOENIG/BAUER
1869 Lichtdruck ALBERT
1881 Autotypie MEISENBACH
1884 Setzmaschine MERGENTHALER
Optik/Fotografie:
1839 Fotografie DAGUERRE
1871 Bromsilber-Platte MADDOX/EASTMAN
1895 Kinematograph LUMIÈRE
Kriegstechnik:
1835 Revolver COLT
1836 Zündnadel-Gewehr DREYSE
1850 Tauchboot BAUER
1866 Torpedo WHITEHEAD
1867 Dynamit NOBEL
1883 Maschinen-Gewehr MAXIM
1911 Tank (Panzer) BURSTYN
Techn. Verfahren:
1867 Eisenbeton MONIER
1885 Nahtlose Röhren MANNESMANN
1907 Betonguss EDISON

Neue Wissenschaften entfalten sich in Abhängigkeit zu herrschenden Denkrichtungen.
Soziologie: Während SPENCER die Gesellschaft als Organismus betrachtet, sehen Gf. GOBINEAU (1816-82) und H. ST. CHAMBERLAIN (1855 - 1927) im Rassenkampf, KARL MARX und seine Schule im Klassenkampf die treibenden Kräfte der Gesellschaft. Die Soziologie als Wissenschaft entwickeln LORENZ VON STEIN (1815 - 90), FERD. TÖNNIES (1855 - 1936), ÉMILE DURKHEIM (1858 bis 1917) u. a.; Max Weber (1864-1920) sucht soziolog. Grundstrukturen mit Hilfe »ideal-typ. Begriffe« zu erfassen.
Psychologie: JOH. FRIEDRICH HERBART (1776 - 1841) bahnt mit Einführung wissenschaftl. Methoden die »Psychophysik« an, vertreten von GUSTAV THEODOR FECHNER (1801 - 87), HERMANN VON HELMHOLTZ (1821 bis 1894) u.a., zur »experimentellen« Psychologie ausgebaut von WILH. WUNDT (1832 bis 1920) und THÉODULE RIBOT (1839-1916). Mit ihr können diffizile psych. Funktionen allerdings noch nicht erfasst werden. Wilh. Dilthey (1833 - 1911) setzt der erklärenden die verstehende Psychologie entgegen, begründet mit ihr das Eigenrecht der Geisteswissenschaften und Strukturpsychologie. Die Charakterologie erneuert LUDWIG KLAGES (1872 - 1956); Gustave Le Bon (1841 bis 1931) untersucht die Psychologie der Masse. Wegweisend wird die Psychoanalyse von Sigm. Freud (1856-1939).
Theologie: FERD. CHRISTIAN BAUR (1792 bis 1860) und die Tübinger Schule betreiben Bibelforschung mit hist.-krit. Methoden. ALBRECHT RITSCHL (1822-89) führt sie weiter, aber mit Betonung der Eigenständigkeit der Religion. ADOLF VON HARNACK (1851 - 1930) trennt im >Wesen des Christentums< (1900) die Religion Jesu vom altkirchl. Dogma. - Kath. Kirche und prot. Orthodoxie wehren sich gegen die lib. Theologie; PIUS X. verpflichtet 1910 den Klerus zum »Antimodernisten-Eid«. Aufschwung der äusseren Mission, aber kirchl. Entfremdung der Massen in Europa. - Moderne Verkündigungsformen sucht die 1878 von WILLIAM BOOTH gegründete Heilsarmee.

Zeitalter der Nationalstaaten / Sozialismus

Der Sozialismus im 19. Jh.

Der Sozialismus (lat. socius: Genosse; 1832 in Frankreich auftretender Begriff; bis ins 20. Jh. gleichbedeutend mit Kommunismus), die Gegenbewegung zum Liberalismus bzw. Kapitalismus erstrebt eine gerechte Eigentums- und Gesellschaftsordnung, Gleichberechtigung und Wohlstand auch für soz. schwache Klassen (Proletarier), allg. Frieden und Völkerversöhnung. Durch Sozialreformen, Klassenkampf oder Revolutionen sollen diese Ziele erreicht werden. - Vor dem 19. Jh. finden sich sozialist. Gedanken in den Utopien von MORUS, CAMPANELLA, HARRINGTON (>Oceana<, 1656), MORELLI u.a.
Utopischer (Früh-)Sozialismus: Er entwirft sozialkrit. Idealvorstellungen und hofft auf ihre Verwirklichung durch Appelle an Einsicht und Gewissen der Besitzenden. ETIENNE CABET (1788 - 1856) und WILHELM WEITLING (1808 - 71) werben für eine komm. Ordnung, wie sie schon Babeuf in der Franz. Rev. mit Gewalt durchsetzen will. - Gf. Claude Henri de Saint Simon (1760 bis 1825) sieht - wie COMTE - im ökonom. Fortschritt die Triebkraft der Geschichte; Industrialisierung, Kapitalismus und Arbeit sollen durch eine neue relig. Gesinnung gefördert und technokrat. organisiert werden. Das soz. Problem liegt in der Eingliederung der »Müssiggänger« (Adelige, Militärs, Priester) in den Kreis der »Producteurs« (Unternehmer, Arbeiter, Bauern, Gelehrte, Künstler).
SAINT SIMONS Schüler ENFANTIN und BAZARD erwarten von der Aufhebung des Erbrechtes eine Verstaatlichung des Kapitals. Die Güter sollen nach Fähigkeit und Leistung für das Gesamtwohl verteilt, die Menschen durch eine Diesseitsreligion geführt und erzogen werden. - Charles Fourier (1772 bis 1837) glaubt an eine Befreiung der Arbeit von Zwang, Elend und Ausbeutung durch Phalanstères: freiwillige Genossenschaften mit Landwirtschaft, Industrie und gemeinsamer Beteiligung an Verwaltung, Produktion und Konsumtion. - Nach Louis Blanc wird der volle Arbeitsertrag durch »Produktiv-Assoziationen« (Nat.-Werkstätten) garantiert. In ihnen verfügen die Arbeiter in demokrat. Selbstverw. über Produktion und Profit, der in Dividende, Sozialausgaben und Investitionen geteilt werden soll. - Als erster sieht Moses Hess (1812 bis 1875) im Proletariat die Macht der Zukunft.
Anarchismus (griech. Herrschaftslosigkeit): MAX STIRNER (1806 - 56) und Pierre Joseph Proudhon (1809 - 65) erwarten von einer Abschaffung jeder Zwangsordnung (Staat, Gesetze) durch friedl. Mittel ein genossenschaftl., sozial gerechtes Zusammenleben (Mutualismus). Ohne Arbeitsleistung oder durch Ausbeutung gewonnenes »Eigentum ist Diebstahl« für PROUDHON. - Bakunin will die Anarchie mit Attentaten, Georges Sorel (1847 - 1922) durch »direkte Aktionen« proletarischer Eliten (Generalstreik) erreichen.
WissenschaftI. Sozialismus: Im >Komm. Manifest> (1847) verkünden Karl Marx (Hauptwerk: >Das Kapital<, 1867f.) und Friedrich Engels (1820-95) die Prinzipien des histor. Materialismus mit ihrer Auswirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft und zeigen Strukturgesetze auf, nach denen sich der Kapitalismus entwickelt: Die Ausbeutung des Lohnarbeiters trägt dem Besitzer von Produktionsmitteln einen Mehrwert (Profit) ein, der zur Akkumulation (Ansammlung) seines Kapitals führt und den techn.-industriellen Fortschritt ermöglicht. Dieser bewirkt aber 1. die Freisetzung von Arbeitern, die die »industrielle Reservearmee« verstärken, den Lohndruck erhöhen und die allg. Verelendung fördern; 2. durch den Konkurrenzkampf eine Abnahme der Kapitalisten, eine Zunahme des klassenbewusst werdenden Proletariats und damit 3. eine Kapitalkonzentration (Monopolbildung); 4. Überproduktionskrisen zur Steigerung der Profitrate oder durch sinkende Kaufkraft (Verelendung). Innere Widersprüche treiben das kapitalist. System in die sozialist. Revolution: Machtergreifung und Diktatur des Proletariats mit »Expropriation der Expropriateure«. Enteignung (Sozialisierung) der Produktionsmittel hebt den Klassengegensatz auf; Planung und Verteilung der Produktion durch die Produzenten garantieren im Endzustand des Kommunismus Gerechtigkeit, Freiheit und Humanität.
Bedeutung: Der Marxismus wird zur »Ersatz-Religion« der Arbeitermassen, die sich den Kirchen entziehen, und zur polit. Ideologie sozialist. Parteien; er wandelt den »Lumpenproleten« zum selbstbewussten »Proletarier«.
Christl. Sozialismus: In Anlehnung an sozialist. Theorien appellieren vor allem in England Theologen wie Maurice (1805 - 72) und Schriftsteller wie Kingsley (1819 - 75), CARLYLE u. a. an Besitzende und Gebildete, das Elend der Massen überwinden zu helfen. Christl.-soz. Gedanken vertreten in Frankreich LAMENNAIS und LEROUX (1791 - 1871), in Deutschland Adolf Wagner (1835-1917), STOECKER, FRIEDRICH NAUMANN - Die kath. Soziallehre, verbindlich niedergelegt in der Sozialenzyklika >Rerum novarum< (1891) LEOS XIII. [1878 - 1903], betont das Recht auf Privateigentum, auf Solidarität (Verantwortung aller für den einzelnen und des einzelnen für alle) und Subsidiarität (Privatinitiative unter Mithilfe grösserer Gemeinschaften bzw. des Staates bei soz. Überforderung des einzelnen oder kleiner Gemeinschaften). - Der Bf. von Mainz, Wilh. Emanuel Frh. von Ketteler (1811 - 77) tritt für staatl. Sozialreformen aus christl. Verantwortung ein. - Staatl. Eingriffe zur Lösung soz. Probleme fordern auch die sog. Kathedersozialisten, undoktrinäre lib. Nationalökonomen um Gustav von Schmoller (1838 - 1917). Sie knüpfen an staatssozialist. Ideen des Genfers SISMONDI (1773 - 1841), von Karl Rodbertus (1805-75) bzw. an die Lehre vom soz. Königtum des LORENZ VON STEIN an.

Zeitalter der Nationalstaaten / Arbeiterbewegung, Sozialpolitik

Die Anfänge der Arbeiterbewegung

Ohne Besitz von Produktionsmitteln ist die Arbeiterklasse (»Vierter Stand«) in der lib. Industriewirtschaft auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft (Lohnarbeit) angewiesen und wird als soz. schwache Schicht ausgebeutet (soz. Frage). Existenzunsicherheit und Verelendung wecken das Gefühl der Solidarität. Die Arbeiter schliessen sich zusammen (MARX: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!«) zum Kampf um polit. und wirtschaftl. Macht (»Vereint sind auch die Schwachen mächtig!«). Formen und Stärke der Arbeiterbewegung richten sich nach Struktur und jeweiligem Entwicklungsstand der Industriestaaten. Führend wird England.
Gewerkschaften (engl.: Trade-Unions, franz.: Syndicats):
Nach Berufen gegliederte örtl. Arbeiter- oder Gewerkvereine erstreben mit wirtschaftl. Mitteln (Verhandlungen, Streiks) bessere Arbeits- und Lohnbedingungen durch Kollektiv-Verträge über Löhne (Tarife), Arbeitszeit und Arbeitsschutz (Kündigung, Urlaub). - Einrichtung von Hilfskassen für Notfälle und von Vereinen zur Arbeiterfortbildung. Mit dem erkämpften Koalitionsrecht - 1824 in England, 1864 in Frankreich, 1869 in Deutschland - fällt das Verbot von Gewerkschaften: sie entwickeln sich zu regionalen und nat. Zentralverbänden und werden seit Ende des 19. Jhs. von Staat und Unternehmer als Sozialpartner anerkannt. Nach dem Vorbild der Industriearbeiter organisieren sich Angestellte, Beamte, Land- und Heimarbeiter.
Genossenschaften: Förderer von Einrichtungen zur Selbsthilfe gegen die Konkurrenz der Grossbetriebe ist Robert Owen (1771 - 1858), der in seinem Musterbetrieb New Lanark wegweisende Sozialreformen durchführt (10-Stunden-Tag, Kranken- und Altersversicherung). Experimente mit komm. Produktiv-Genossenschaften (1825 - 29 in New Harmony/USA) scheitern ebenso wie die franz. Versuche zur Verwirklichung von : Phalanstères und Nat.-Werkstätten, seit 1844 auch von amerikan. Gruppen. - Zu einem Wirtschaftsfaktor dagegen entwickeln sich die nach OWENS Ideen seit 1844 gegr. Konsumvereine mit niedrigen Preisen (Ausschaltung des Zwischenhandels), Rabatt- und Dividendenvergütung. In Deutschland anfangs nur zögernde Verbreitung. da der Arbeiterführer Lassalle die Lösung der soz. Frage von Produktions-Genossenschaften erwartet. Er bekämpft den Liberalen Hermann Schulze-Delitzsch (1808-93), den Begründer der gewerbl. Genossenschaften (Einkaufs-, Verkaufs-, Vorschussvereine für Handwerker), und Friedrich Wilh. Raiffeisen (1818 - 88), der die bäuerl. Genossenschaftshilfe anregt. Ab 1854 Spar- und Darlehenskassen zur Finanzierung von Saatgut, Maschinen u. a. (Starke Wirkung auf das Ausland.)
Folgen: Verbände und ihre Funktionäre vertreten mehr und mehr die Interessen des einzelnen, der in der Verbandsdemokratie seine eigene Initiative zugunsten von »Pressure groups« (auf Staat und Gesetzgebung) aufgibt oder einbüsst.

Die soz. Tätigkeit der Kirchen

England: Christl. Sozialismus, auch die Oxford-Bewegung (»Ritualismus«: EDWARD PUSEY, 1800 - 82) wandeln das »Sonntagschristentum«. Gründung von (weibl.) Pflegeorden.
1844 Christl. Jugendvereine (YMCA) leisten Arbeit in den Slums. Gründung von Arbeiterheimen. In Ostlondon wirkt seit
1865 William Booth (1829 - 1912).
Deutschland: THEODOR FLIEDNER (1800 - 64) eröffnet in Kaiserswerth die erste Diakonissenanstalt (l836), Johann Hinrich Wichern (1808 - 81) ein Heim für verwahrloste Jugendliche (Rauhes Haus, 1833) sowie ein Brüderhaus für männl. Diakonie (I 843). Zusammen gründen sie die
1848/9 Innere Mission zur Jugend-, Alters-, Kranken-, Gefährdetenhilfe. Friedrich von Bodelschwingh (1831 - 1910) übernimmt
1872 die Betheler Anstalten (Krankenfürsorge, Diakonie, Arbeiterkolonien).
1877 Zentralverein für Sozialreform (WAGNER), von STOECKER 1890 im Evang. Soz.-Kongress weitergeführt. Seit
1882 Evang. Arbeitervereine. - Leo XIII. empfiehlt die
1884 Einrichtung von kath. Arbeitervereinen nach dem Vorbild der
1846f. Kath. Gesellenvereine des Priesters Adolf Kolping (1813 - 65).

Die staatl. Sozialpolitik

England: Die soz. Missstände in der Textilindustrie zwingen das klass. Land des Liberalismus zu Schutzgesetzen:
1833 1. Fabrikgesetz; 1842 Verbot der Untertagearbeit für Frauen; 1847 10-Stunden-Tag für Frauen und Jugendliche (ab 1850 allg. verbindlich).
Frankreich führt in der Sozialpolitik auf dem Kontinent: 1813 Verbot von Kinderarbeit in Bergwerken.
Preussen: Seit 1828 setzen sich die Milit.-Behörden (Sorge um die Gesundheit der Rekruten) für Schutzgesetze ein.
1839 Verbot von Kinderarbeit, zunächst unter 9 J., seit 1854 unter 12 J.
Deutschland wird nach 1871 führend in der Sozialgesetzgebung,
1872 Verein für Sozialpolitik der Kathedersozialisten; er beeinflusst mit den Sozialpolitikern des Zentrums (GEORG VON HERTLING, F. HITZE) und der christl.soz. Bewegung die
1883f. Sozialversicherungsgesetzgebung - seit 1894 von Frankreich, 1908 von England nachgeahmt.
1891 Fortführung der Schutzgesetzgebung (Sonntagsruhe, Lohnschutz) durch den Handels-Min. HANS FRH. VON BERLEPSCH (1843-1926),

Folgen: SoziaIpolitik und -fürsorge wandeln den lib. Freiheitsstaat im 20. Jh, zum soz. Wohlfahrtsstaat. Eine anonyme Bürokratie verwaltet die ständig wachsenden Steuern, Soziallasten und -beiträge.


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"