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Renatus-Verlag in Lorch (Württemberg) Alle Rechte vorbehalten Copyright by Renatus-Verlag, Lorch (Württ.) 1929

Friedrich Funcke : Christentum als Weltanschauung und Lebenskunst

3. Kapitel

Unsichtbare intelligente Kräfte - Die Seele - Das Entstehen von Lebewesen - Liebe, Weisheit, Gerechtigkeit und Freiheit als Grundlage der moralischen Weltordnung

"Wir wissen jetzt", begann Friedmar, "dass unsere Sinne nicht die ganze Welt wahrnehmen, sondern nur einen Teil von ihr, den Teil, der die grobmateriellen Dinge umfasst. Zu den grobmateriellen Dingen rechne ich auch Luft und Gase, denn sie können verflüssigt werden. Wir wissen, dass die Welt der Materie nicht bei den Atomen aufhört, sondern dass jenseits der Atome eine Welt feinmaterieller Dinge, eine ätherisch-geistige Welt beginnt, eine Welt, die wir mit unseren Sinnen gewöhnlich nicht wahrnehmen, die aber von Menschen mit feinen, empfindlichen Sinnen gefühlt und gelebt wird. Das Jenseits ist also nicht ein anderer Ort irgendwo über den Wolken oder unter der Erde, sondern der andere Teil der Welt jenseits der Wahrnehmungsfähigkeit unserer Sinne. Wir wissen, dass diese feine, fluidische Materie auch im Menschenkörper vorhanden ist, ihn umhüllt und durchdringt, und nun stehen wir vor der Frage, ob dieses Fluidum, von Reichenbach Od genannt, die Seele selbst ist oder ihr angehört, einen Bestandteil von ihr bildet."
"Wenn die Seele wirklich das ist, was der unbefangene Verstand von ihr behauptet, nämlich Träger und Erhalter des Lebens zu sein, so muss sich das in ihrer Tätigkeit zeigen. Das eigentliche Leben des Menschen besteht im Denken, Wollen, Empfinden und Bewegen. Alle vier Tätigkeiten geben Anlass zu interessanten Betrachtungen über das Wesen der Seele, aber um nicht weitschweifig zu werden und die Damen nicht zu ermüden, will ich mich auf einen Kernpunkt beschränken. Der Streit dreht sich darum, ob die Seele ein selbständiges, vom Körper unabhängiges, von ihm trennbares, mit eigenem Leben begabtes Wesen sei, wie die Spiritualisten, die Anhänger der Geistlehre behaupten, oder ob sie nur das Produkt des Körpers sei, mit ihm entstehe und vergehe, wie die Materialisten behaupten. Es gilt also nachzuweisen, dass die Seele intelligent ist, dass sie eine Kraft ist, und dass sie als Kraft intelligent wirkt und unabhängig vom Körper existieren kann. Wie ich euch das Jenseits, die Existenz einer ätherischen Materie gezeigt, also die Bedingungen dargelegt habe, unter welchen die Seele überhaupt existieren kann, so will ich jetzt zu zeigen versuchen, dass unwahrnehmbare, intelligent wirkende Kräfte möglich sind. Sind sie aber möglich, dann muss ihre Wirklichkeit sich aus ihren Äusserungen oder Wirkungen erweisen. Glaubt ihr, dass ein Haus, ein Schiff, eine Maschine sich von selbst baut, oder dass irgend ein Werkzeug von selbst entsteht?"
"Sonderbare Frage", erwiderte Hallerstede, "selbstverständlich glauben wir das nicht, da wir aus Erfahrung wissen, wie diese Dinge gemacht werden."
"Dann glaubt ihr auch, dass der Hersteller dieser Dinge einen Zweck mit ihnen beabsichtigt und sie diesem Zweck entsprechend gestaltet?"
"Gewiss glauben wir das."
"Und was würdet ihr denken von einem Menschen, der ernstlich behaupten würde, ein Schiff, ein Haus baue sich von selbst, ohne Plan, Baumeister und Handwerker?"
"Wir würden zweifeln an der Klarheit seines Verstandes."
"Zweifelt ihr an der Existenz des Baumeisters, wenn er nicht beständig neben seinem Werk steht?"
"Wir zweifeln nicht."
"Ist euch ein einziger Fall aus der Erfahrung bekannt, dass ein Schiff, ein Haus, ein Werkzeug, ein Kunstwerk von selbst entstanden ist?"
"Wir kennen keinen solchen Fall."
"Darf man sagen: je kunstvoller ein Gebilde, um so intelligenter sein Bildner?"
"Mit vollem Recht."
"Haltet ihr die Antworten, die ihr auf meine Fragen gegeben, für richtig und unangreifbar?"
"Wir halten sie so lange für richtig und unangreifbar, bis wir durch Tatsachen eines anderen belehrt werden."
"Haltet ihr es für erlaubt, diese Erkenntnisse auf den Menschen anzuwenden? Der Mensch, als Körperwesen, ist eine Maschine, und zwar eine sehr kunstvolle Maschine, wahrscheinlich die kunstvollste, die es gibt."
Hallerstede überlegte. "Was die mechanische Seite seines Wesens betrifft, so ist der Mensch allerdings eine Maschine, eine sehr kunstvolle sogar, wie ich zugebe. Aber er ist noch mehr als eine Maschine, denn in ihm sind auch chemische, physikalische und geistige Kräfte tätig, er ist ein Organismus."
"Also ein Organismus! Sehen wir nun zu, was dies Wort bedeutet. Organismus kommt her vom griechischen organon, d.h. Werkzeug; ein Organismus bedeutet also eine Vereinigung von Werkzeugen. Dass diese Werkzeuge auch chemische und physikalische Arbeit verrichten - die geistige Arbeit möge zunächst ausser Betracht bleiben - ändert nichts an der Tatsache, dass sie Werkzeuge sind, und als solche sind sie, nach euren eignen Worten, nicht von selbst entstanden, sondern sie sind nach einem vorbedachten Plan und für einen bestimmten Zweck gebaut worden. Und der Bildner dieser Werkzeuge ist um so intelligenter, je kunstvoller das Werkzeug, sagten wir."
"Hier kann ich nicht zustimmen," wandte Hallerstede ein, "die Organe oder meinetwegen auch Werkzeuge des Körpers werden doch nicht so hergestellt, wie man irgend ein Werkzeug macht, sondern sie entwickeln sich aus winzig kleinen Anfängen nach und nach zu der Ordnung, Form und Grösse, die zur Erfüllung ihres Zweckes erforderlich ist. Die Naturforscher haben das Entstehen der Organe beobachtet und kennen die Stufen und Fortschritte ihres Wachstums, wie sie allmählich immer vollkommener und ihrem Zwecke gemäss werden."
"Also die Organe entwickeln sich", wiederholte Friedmar. "Entwickeln! Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein, kann man hier mit Mephisto sagen. Aber wie kann sich etwas entwickeln, das noch garnicht vorhanden ist. Das Mikroskop zeigt auch bei stärkster Vergrösserung menschlicher Keimzellen nichts von den Organen des Körpers, keine Augen, Ohren, Arme, Beine. Die Entwicklung der Organe geschieht also wohl in ähnlicher Weise, wie wenn beim Bauen einer Mauer die Steine ganz von selbst herbeifliegen und sich ohne fremdes Zutun von selbst in Reih und Glied legen, wie die Ordnung der Mauer es erfordert; Werkleute sind dazu nicht nötig, denn die Steine wissen selbst, wohin sie sich zu begeben haben, und sie nehmen auch gleich den Mörtel mit. Die Mauer entwickelt sich, sage ich."
"Das ist ein unpassender Vergleich."
"Nicht so unpassend, wie es dir scheint. Im Gegenteil, dieser Vergleich kann uns auf die rechte Spur bringen. Die Chemiker kennen genau die stofflichen Bestandteile des Menschenkörpers, sie wissen, dass er aus den Atomen und Molekülen von etwa einem Dutzend Elemente besteht. Ich sagte schon, dass die Atome und Moleküle in Bau und Ordnung dem Planetensystem gleichen. Solche Atome und Moleküle sind nun auch die elementaren Bestandteile des Menschenkörpers und seiner Organe, und nun ist die Frage: wer ordnet die Moleküle so wunderbar zu Zellen und kunstvollen, zweckmässig arbeitenden Organen? Dafür gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Moleküle ordnen sich selbst, oder sie werden geordnet. Die erstere Möglichkeit setzt voraus, dass die Moleküle den Plan und Zweck eines Organes kennen, und dass jedes Molekül weiss, an welchen Platz es sich zu begeben habe; andernfalls würden sie sich gegenseitig behindern, es wäre ein Durcheinander, ein Chaos, und es könnte keine Ordnung, kein zweckmässig gebautes Organ entstehen. Noch mehr: da die Moleküle im Kreislauf der Stoffe durch Pflanzen, Tiere und Menschen wandern, müssten sie von allen diesen Lebewesen die Ordnung ihres Baues kennen, weil sie sich sonst nicht richtig ordnen könnten. Stelle dir dies alles recht deutlich vor, und dann sage mir, ob du den Molekülen ein solches Wissen zutraust."
"So habe ich das Leben noch nicht betrachtet", sagte Hallerstede, "ich habe immer nur gehört von Zellen, Zellkernen, Protoplasma, Vererbung, Anpassung, Auslese des Zweckmässigen, Entwicklung und von andern dunklen Worten, die eine noch dunklere Sache erklären sollen. Wenn deine Theorien und Voraussetzungen richtig sind, und sie scheinen mir richtig zu sein, so kann ich allerdings den Atomen und Molekülen ein solches Wissen nicht zutrauen, denn das hiesse ja, ihnen eine Art Allwissenheit beilegen."
"Ich meine auch, dass wir uns mit dieser Möglichkeit nicht weiter zu beschäftigen brauchen. Also bleibt nur die Möglichkeit, dass die Atome und Moleküle zweckmässig geordnet werden. Aber wer ordnet sie? Atome und Moleküle sind unvorstellbar klein und fein, also kann auch die ordnende Kraft fein und unsichtbar sein, muss es sogar sein, weil nur so feine Kraft diese kleinen Körperchen fassen und handhaben kann. Dass diese Kraft wirklich vorhanden ist, sehen wir an ihren Wirkungen, indem sie beim Entstehen eines Organes Molekül an Molekül reiht und so die Masse des Organs allmählich vermehrt, seine Gestalt allmählich vergrössert, seine Form allmählich ausbildet, und dass diese Kraft auch intelligent ist, erleben wir aus der zweckmässigen planvollen Ordnung eines Organs. Kannst du dieser Folgerung zustimmen?"
"Ich muss wohl, sonst kommst du mir wieder mit dem Beispiel von der Mauer, deren Steine von selbst herbeifliegen und sich von selbst ordnen. Aber ich habe ein anderes Bedenken. Wenn ich den Atomen und Molekülen die Kenntnis der Formen und Ordnungen der Organe und Organismen nicht zuschreiben kann, so muss ich diese Kenntnis der vielen Formen und Ordnungen jener unsichtbaren Kraft beilegen, welche die Organe baut."
"Gewiss, das ist unvermeidlich. Und gerade dies ist der Punkt, wohin ich euch führen möchte. Wenn wir den Gedanken erweitern und sagen, dass nicht eine Kraft, sondern viele intelligente Kräfte die Organe und Organismen bauen, so können wir auf dieser Grundlage die Entstehung der Lebewesen verständlich machen. Du bist eine Kraft und bist eine Intelligenz, ich kann auch sagen: eine intelligente Kraft, und als solche bist du begrenzt, bist ein Individuum, durchaus verschieden von anderen Individuen, und du tust eine intelligente Arbeit. Und solcher intelligenten, individuellen Kräfte, wie du eine bist, gibt es Millionen und Billionen. So sind auch die unsichtbaren Kräfte oder Kraftwesen, welche die Organe und Organismen bauen, intelligent, persönlich oder begrenzt und zählen nach Billionen, und je nach den verschiedenen Arbeiten, welche diese unsichtbaren Kraftwesen zu tun haben, steht ihre Intelligenz auf ungleicher Stufe, wie wir es auch an den sichtbaren intelligenten Kraftwesen sehen. Diese Folgerungen ergeben sich aus unbestreitbaren Tatsachen. Nun gehe ich einen Schritt weiter. Wie der Schöpfer früher ist als das Geschöpf, also ein von dem Schöpfer unabhängiges Dasein hat, so existieren auch die intelligenten, unsichtbaren Kraftwesen, welche die sichtbaren Lebewesen bauen, früher als diese und unabhängig von ihnen, ansonst sie die Organe und Organismen nicht bauen könnten. Wie diese unsichtbaren Kraftwesen im besonderen beschaffen sind, wie gross oder wie klein ihre Intelligenz ist, das brauchen wir nicht zu wissen, uns genügt, dass sie vorhanden sind wie die Werkleute, die ein Haus bauen."
Als Friedmar nachdenklich schwieg, sagte Hallerstede: "Seltsam, wie viele Folgerungen sich aus deinen Voraussetzungen ergeben. Wenn ich die unermessliche Verschiedenheit der sichtbaren Lebewesen bedenke, so muss ich annehmen, dass dies sogenannte Jenseits von unsichtbaren Kraftwesen geradezu wimmelt."
"Wimmeln ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber der Gedanke ist richtig. Wenn die Naturforscher die Ergebnisse ihrer Forschungen logisch zu Ende dächten, würde ihre Lebensanschauung sich bedeutend ändern und weniger trostlos sein als sie gegenwärtig noch ist. Aber ich bin noch nicht zu Ende mit meinen Folgerungen. Aus der Betrachtung des Entstehens der Organe und Organismen ergibt sich weiter, dass die Bildner nicht nur früher existieren müssen als ihre Gebilde, sondern dass mit dem Bauen der Lebewesen auch ein Zweck beabsichtigt wird, gleichwie wir Menschen unsere Werke nicht ohne Zweck und Absicht bilden. Zwecke aber setzen einen Zwecksetzer voraus, wie Gesetze einen Gesetzgeber. Und wenn wir Zweck und Zwecksetzer noch nicht kennen, so ist das noch kein Grund, beide zu leugnen, wie es so oft geschieht. Ferner: Organe und Organismen sind nicht alle gleich vollkommen und wohl nur selten absolut vollkommen, aber die absolute Vollkommenheit ist da unnötig, wo eine relative, d.h. eine dem Zweck gemässe Vollkommenheit genügt. Trotz dieser Einschränkung ist nicht zu bestreiten, dass viele, wahrscheinlich die meisten organischen Gebilde eine erstaunliche Vollkommenheit offenbaren, die eine erstaunliche, ja unfassbare Intelligenz des wahren Urhebers verraten. Der gesunde, wohlgebaute Menschenkörper ist ein solches Gebilde, in welchem die Gesetze der Mechanik, Physik, Chemie und Schönheit wunderbar harmonisch ineinander greifen. Auch die grössten Denker verstehen noch nicht die Vollkommenheit und Zweckmässigkeit unseres Organismus, geschweige dass sie fähig wären, ein solches Werk zu erdenken. Und solche Vollkommenheit und Zweckmässigkeit und Schönheit soll allein das Werk der in den Keimzellen versammelten Atome und Moleküle sein? Ein absurder Gedanke."
Eine Fliege hatte sich auf Friedmars Hand gesetzt, um eine Anleihe bei ihm zu machen. Friedmar verscheuchte sie und fuhr fort: "Diese Fliege erinnert mich an ein anderes Beispiel, das ich dir nennen möchte und das gerade für dich als Ingenieur nicht ohne Reiz sein dürfte. Alle Fliegen sind gute Flugkünstler, es gibt aber eine Art Fliegen, die in technischer Hinsicht schlichtweg vollkommen sind. Diese Fliege gleicht in Form, Farbe und Grösse einer Biene. Ihre Flügel sind so gebaut, dass sie in der Luft schwebend an der Stelle zu verharren vermag, sich aber auch blitzschnell entfernen kann. Ich habe den Flugkünsten dieser Tierchen oft zugesehen und die Intelligenz des Urhebers dieses Kunstwerkes bewundert. In dem Körper dieser Fliege sind die Probleme der Mechanik gelöst so einfach und doch so vollkommen - nach dem Gesetz des geringsten Kraftaufwandes - dass ihr Ingenieure noch lange zu tun haben werdet, diese Lösung zu finden. Und ein so einfaches und vollkommenes Flugzeug zu bauen, wird euch wohl nie gelingen. Nun sage, ob ein solches Wunderwerk der Technik von selbst entstehen kann, oder ob es nicht ein bis ins feinste ausgedachter Plan dafür vorhanden sein muss."
"Ich muss gestehen, dass die üblichen Erklärungen hier völlig versagen und dass Sie nur unsere Unwissenheit verbergen. Leider hat man sich an gewisse Worte und Ausdrücke so gewöhnt, dass man ihre Hohlheit gar nicht merkt."
"Ich nenne euch eine näherliegende, greifbare Tatsache als Beweis der Existenz und Wirksamkeit einer geistigen Kraft. Ihr betätigt diese Kraft täglich, stündlich, unaufhörlich, aber wahrscheinlich habt ihr sie nie beachtet noch ihr Wesen zu erklären versucht. So alltäglich diese Kraft ist und so wertvoll ihr richtiges Verständnis für die Lösung der Lebensrätsel, so gleichgültig gehen die Naturforscher an ihr vorüber, ja sie scheinen gar nicht zu wissen, dass hier eins der tiefsten, interessantesten Probleme vorliegt."
"Das scheint eine sonderbare Kraft zu sein, die offen vor aller Augen liegt, sehr interessant sein soll und doch nicht beachtet wird. Du machst mich neugierig."
"Hast du schon darüber nachgedacht, wie es zugeht, dass dein Wille deine Glieder bewegt?"
"Aber das ist doch ganz natürlich", sagte Erna rasch, "was soll man da lange nachdenken?"
"'Natürlich' nennt ihr das? Nun, dann seid so gut, den Vorgang zu erklären, wenn er euch so klar ist. Die Naturforscher werden euch dankbar sein dafür."
Erna schwieg verlegen.
"Das Problem ist mir neu", sagte Hallerstede, "ich entsinne mich nicht, darüber etwas gelesen zu haben. Jetzt, nachdem du das Problem berührst, wundere ich mich, dass die Naturforscher es so vernachlässigen. Zur Entschuldigung kann ich nur sagen, dass es mehr die Ärzte als die Ingenieure und Physiker angeht."
"Es ist gleich interessant für Ärzte, Ingenieure, Physiker und Philosophen. Aber ich will nicht in Einzelheiten des vielseitigen Problems eingehen, sondern nur das herausgreifen, was für uns besonders in Betracht kommt, und das ist die Tatsache, dass die bewusste Muskelspannung - auf diese wollen wir hier das Problem begrenzen - bewirkt wird durch eine Kraft, die sich den bekannten mechanischen, physikalischen und chemischen Kräften nicht zuordnen lässt, daher es kommt, dass weder die Physiker noch die Philosophen sich mit ihr befassen mögen. Am nächsten liegt es wohl, die Elektrizität zur Erklärung heranzuziehen und den Muskel als einen biologischen Elektromagneten zu bezeichnen, aber auch die angenommene Mitwirkung der Elektrizität erklärt nicht die Tatsache, dass die Muskelspannung immer erst einen Willensakt erfordert, dass die Stärke der Muskelspannung abhängt von der Grösse der Willenskraft und ihre Dauer von der Dauer des Willensaktes. Die Willenskraft ihrerseits wird bestimmt durch Denken oder, was in diesem Falle gleichbedeutend ist, durch eine Absicht, sodass Willenskraft und Denken sich bei zielstrebiger, körperlicher Arbeit als untrennbar verbunden erweisen."
"Und die Arbeit des Herzens, die ohne Denken und Absicht geschieht?"
"Sie geschieht wohl dem Gehirn unbewusst, aber nicht ohne Absicht überhaupt. Der Herzmuskel empfängt seinen Antrieb vom Sonnengeflecht, dem Gehirn des Unterleibes, wie man es auch nennt. Aus der Verbundenheit der Willenskraft mit Denken oder Absicht schliesse ich nun, dass die Willenskraft eine geistige Kraft ist, die der geistigen Welt angehört, aber in die materielle Welt hineinwirkt und solchermassen schlagend die Herrschaft des Geistes über den Stoff beweist. Ein Seitenstück zur Muskelspannung durch Willenskraft bildet die Umwandlung von Willenskraft in Elektrizität beim Zitterrochen oder elektrischen Fisch. Dieser Fisch erzeugt die Elektrizität momentan nach Bedarf, er muss sie so erzeugen, da er sie infolge der wässrigen, gutleitenden Beschaffenheit seiner Gewebe nicht auf Vorrat halten kann. Und auch wenn er es könnte, wäre dies ein nicht geringeres Wunder als ihre Erzeugung durch Willenskraft. Wie immer die Naturforscher den Zusammenhang von Willenskraft und Muskelkraft und Elektrizität erklären mögen, einen vorhergehenden, auf ein Ziel gerichteten Willensakt können sie nicht ausschliessen, und gerade dieser Willensakt qualifiziert diese Vorgänge als Wirkungen einer von Absicht gelenkten, noch unerforschten, dem Jenseits angehörende Kraft. An dieser Tatsache ist nicht zu rütteln. Eine derartige Kraft offenbart sich auch bei solchen spiritistischen Phänomenen, die ohne körperliche Mitwirkung der Sitzungsteilnehmer geschehen; ich nenne hier das vielverspottete Tischrücken, das Spielen von Musikinstrumenten, die Erhebung von Gegenständen ohne Berührung, die mystischen Wurfgeschosse, das Eingravieren von Buchstaben und Zeichen auf bereitgelegte Gegenstände bei ungenügendem Licht und in sehr kurzer Zeit, die direkte Schrift und die direkte Stimme. Kurz, die Beweise für die Existenz unbekannter, intelligent wirkender Kräfte sind nicht selten, man muss sie nur zu finden wissen, und sie sind auch stark genug, um als Stützen einer neuen Weltanschauung dienen zu können."
Erna, die sich von der Verlegenheit über ihre voreilige Bemerkung erholt hatte, fragte nun: "Was bedeutet eigentlich das Wort 'Natur', das man so oft hört. Ich habe bisher gemeint, eine Sache sei erklärt, wenn man sie als natürlich bezeichnet, aber nun sehe ich, dass ich seinen Sinn nicht verstehe."
"Im Allgemeinen bedeutet 'Natur' die wahrnehmbare Welt und die Erscheinungen in ihr, die nach gewissen Gesetzen, den Naturgesetzen geschehen. Wenn ich recht unterrichtet bin, heisst das Wort im eigentlichen Sinne 'geboren werden'. Schon aus dieser wörtlichen Bedeutung könnte man entnehmen, dass die Welt, bevor sie 'geboren' wurde, nicht existierte, also einen Anfang gehabt haben muss. Zur Erklärung eines dunklen Vorganges ist dieses Wort sehr beliebt; es besagt aber gar nichts und verrät die Gedankenlosigkeit dessen, der es gebraucht, denn in Wahrheit ist die Welt nicht etwas Selbstverständliches, sondern 'ein Wunder, das nie wird ausgewundert', ein Wunder, das man nur darum nicht als Wunder ansieht, weil man es alle Tage erlebt und sich daran gewöhnt hat. Gewohnheit ist der Tod aller Verwunderung, diese aber ist der Anfang der Philosophie. Der Philosoph wundert sich über alles, der Tor über nichts. Aber bleiben wir bei der Sache. Die Art des Entstehens der Organe und Lebewesen wirft helles Licht auf die alte Streitfrage, ob die Seele ein Werk des Körpers sei oder der Körper ein Werk der Seele. Nachdem wir nun wissen, dass Atome und Moleküle in planvoller Ordnung allmählich aneinander gereiht werden von unsichtbaren, intelligenten Kräften, dürfen wir schliessen, dass solche Kräfte den Körper auch beleben und erhalten. Alle gesunden Organe handeln zweckmässig und zielstrebig nach einer wunderbaren Ordnung. Wenn wir nicht annehmen wollen, dass die Atome und Moleküle alle diese Zwecke und Ziele gleicherweise kennen wie sie Plan und Ordnung der Organe kennen - eine mehr als kühne Annahme -, so bleibt nur die Annahme übrig, dass eine den Organen übergeordnete intelligente Kraft die Arbeit der Organe planvoll lenkt und einem Ziele zuführt, und dieses Ziel heisst: Erhaltung des Lebens zu einem gewissen Zwecke.
Nur die intelligente Seele kann Zwecke verfolgen, wobei der Körper ihr als Mittel zum Zweck dient. Wenn ein Haus gebaut wird, so können die Werkleute das Haus bauen ohne persönliche Mitarbeit des Hausherrn; oder der Hausherr baut es allein ohne Mitwirkung anderer Werkleute, oder endlich arbeiten Hausherr und Werkleute gemeinsam, in jedem Fall aber wird das Haus nach einem Plan gebaut und zu dem Zwecke, vom Hausherrn eine Zeitlang bewohnt zu werden. So verhält es sich auch mit Seele und Körper, wenn wir die Seele als Hausherrn betrachten. Wir brauchen das Verhältnis von Seele und Körper nicht in allen Einzelheiten zu erörtern, denn damit würden wir sobald nicht fertig werden; an den Werken der Technik sehen wir zur Genüge, dass überall das Feine das Grobe treibt und bewegt, und nur bei der Ansicht, dass der Körper das Werkzeug der Seele ist, lassen sich die mannigfaltigen, seltsamen Erscheinungen des organischen Lebens befriedigend erklären. Hervorragende Naturforscher gestehen, dass das Leben aus dem Stoff allein nicht zu erklären sei, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Materialismus als Lebensanschauung endgültig stürzt. Wenn man alle diese Umstände bedenkt, erkennt man, dass die Seele nicht ein Produkt des Körpers ist, sondern nur der Gast desselben; dass sie unabhängig von ihm existieren kann, und dass sie, wie sie sich einmal mit dem Körper verbunden, sich in ihn einverleibt hat, dies auch mehrmals tun kann, wenn dies ihrem Zwecke dienlich sein sollte."
"Aus deiner Voraussetzung ergeben sich sonderbare Folgerungen", bemerkte Hallerstede, "da wären wir also bei der Seelenwanderung angelangt. Der Gedanke ist mir nicht sympathisch."
"Auch ich liebe dies Wort nicht", entgegnete Friedmar, "da es die Vorstellung des Wanderns der Seele durch Tierkörper erweckt, eine Vorstellung, die man in entarteten Religionen des Morgenlandes findet."
"Eine andere Folgerung wäre, dass es Geister gibt, denn Geist und Seele sind ja wohl dasselbe."
"Sie sind dasselbe, wenn man darunter den feinen, unsichtbaren, unvergänglichen Teil unseres Wesens versteht. In diesem Sinne ist eine Seele ohne Körper ein Geist; ein Geist, einverleibt in einen Körper, ist dessen Seele. Seele und Körper sind ein Mensch. Dies ist die allgemeine Bedeutung, im besonderen aber besteht ein Unterschied. Ich sagte, dass die ätherische Materie der uns nicht wahrnehmbaren Welt viele Stufen der Feinheit oder Schwere habe. Wie nun unser sichtbarer Körper aus ungleich schweren und dichten Stoffen besteht, so auch der Geist, derart, dass die dichteren, gröberen ätherischen Stoffe die Seele sind, die feinsten Stoffe aber der eigentliche Geist. Beim Menschen ist der Körper das Gewand der Seele, beim Geiste ist die Seele sein Gewand, seine Erscheinungsform. Wie beim Menschen die Seele den Körper belebt und erhält und gestaltet, so gestaltet und bildet der Geist die Seele. Der Mensch ist eine Dreiheit von Geist, Seele und Körper oder eben Geist, Kraft und Stoff; der Geist ist eine Zweiheit von Seele und Geist. Im Menschen wirkt der Geist auf die Seele, die Seele auf den Körper, das Feinere wirkt in stufenweisen Übergängen auf das Nächstgröbere."
"Vom technischen Standpunkt aus betrachtet", fuhr Friedmar fort, "ist diese Verbindung des Feinsten mit dem Gröbsten ein Wunderwerk, nicht minder erstaunlich wie die Vollkommenheit des Körpers als Maschine. Du als Ingenieur wirst mich verstehen, wenn ich sage, dass eure Maschinen, so kunstvoll sie sein mögen, im Vergleich mit dem gesunden, schönen Menschenkörper doch nur jämmerliche Stümpereien sind. Diese Raumausnützung, diese Anordnung der Teile, auch in ästhetischer Hinsicht, diese sparsame Verwendung der Mittel nach dem Gesetz des geringsten Kraftaufwandes, das harmonische Ineinandergreifen mechanischer, physikalischer, chemischer und geistiger Kräfte offenbaren eine unfassbare Intelligenz und Weisheit, die mich zu Bewunderung und Ehrfurcht zwingt. Und wieder frage ich; dieses Wunderwerk soll von selbst entstanden sein, ohne Plan und Ordnung und ohne Zweck und Absicht, wie man annehmen muss nach der Theorie des Materialismus, der ja ordnende, überstoffliche, geistige Kräfte nicht gelten lässt? Ich habe länger über diesen scheinbar trockenen Gegenstand gesprochen, als den Frauen vielleicht lieb gewesen, aber es geschah nicht ohne Absicht, denn die Frage des Entstehens und des zielstrebigen und harmonischen Arbeitens der Organe ist sehr wichtig, da sie der erste Punkt ist, wo man den Hebel ansetzen kann, um die rein mechanistische Lebensanschauung zu stürzen. Wenn die Atome und Moleküle sich nicht selbst zu Organen und Lebewesen ordnen, so müssten sie geordnet werden durch unsichtbare, intelligente Kraftwesen, und zwar zu einem bestimmten Zweck. Unsichtbare, intelligente Zwecke erstrebende Kraftwesen aber sind nicht denkbar ohne eine geistige Welt, damit aber haben wir das Jenseits und die Geisterwelt. Ingenieure und Architekten kann man diese Anschauung leicht begreiflich machen, da sie konstruktiv zu denken vermögen, die zünftigen Biologen aber kommen gar nicht auf solche Gedanken, da sie ihre Begriffe nicht folgerichtig zu Ende denken, sich in ausgefahrenen Geleisen bewegen und den Dingen nicht auf den Grund gehen."
"Deine Theorie vom Jenseits und der Geisterwelt ist im Grunde eigentlich sehr einfach", gab Hallerstede zu, "so einfach, dass ich mich wundere, warum man sie nicht schon längst gefunden hat und so lange im Dunkeln tappen musste."
"Man braucht die Ursache nicht weit zu suchen", meinte Friedmar, "die Ingenieure denken nicht philosophisch oder haben keine Zeit, sich mit Philosophie zu befassen, die Philosophen aber denken nicht technisch, nicht konstruktiv; sie zerlegten das Problem nicht in seine Ur-Teile und kamen deshalb auch nicht zu einem richtigen Urteil."
Hallerstede brachte das Gespräch wieder auf die Geister. "Einverleibte und nicht einverleibte Geister sind also nicht wesentlich verschieden, sondern nur darin, dass der einverleibte Geist den Menschenkörper trägt als dichtes, schweres Gewand, das ihn von den nicht einverleibten Geistern trennt oder abschliesst."
"Sie sind nicht wesentlich verschieden, wohl aber in der Anschauung der Welt, in welcher sie leben, und durch die Art, wie sie leben. Einverleibt in den Menschenkörper, wahrnimmt der Geist die sichtbare, greifbare Welt des groben Stoffes durch die Sinnesorgane des Körpers, und das Jenseits ist ihm verschwunden. Als freier Geist wahrnimmt er die ätherische Welt durch die ihm gemässe Art der Wahrnehmung, aber unser Diesseits ist ihm verschwunden, und vom Menschen sieht er nur den ätherischen Teil, die Seele. Bei Geburt und Tod ändert der Geist nicht sein Wesen, sondern nur seine Art der Wahrnehmung, daher nannte L. v. Hellenbach (Fussnote 3) Geburt und Tod einen Wechsel der Anschauungsform. Der Geist kann also leben in zwei Zuständen: in der ätherischen Welt als freier Geist und in der Welt des groben Stoffes als ein in den Menschenkörper einverleibter Geist. Das Verhältnis der beiden Welten zu einander und das Verhältnis des Geistes zu beiden Welten muss klar verstanden werden, dann ist das Problem der Unsterblichkeit lösbar in seinen Grundzügen. Bisher scheiterte die Lösung dieses Problems daran, dass man nicht wusste, in welcher Beschaffenheit man sich die Seele und das Jenseits zu denken habe. Die Lösung, die ich euch gegeben habe, ist einfach, so einfach, dass auch ein einfacher Verstand sie begreift, wenn er überhaupt begreifen will, und ich glaube, dass gerade in dieser Einfachheit die Wahrheit liegt."
"Eine Hypothese ist um so besser und brauchbarer", spann Hallerstede den Gedanken weiter, "je einfacher sie ist und je mehr Rätsel sie zu lösen vermag. In dieser Hinsicht kann ich deinen Hypothesen die Einfachheit und Fruchtbarkeit nicht absprechen, und soweit ich bis jetzt beurteilen kann, scheint es, dass sich sowohl vom technischen wie vom naturphilosophischen Standpunkt aus keine stichhaltigen Einwände gegen sie vorbringen lassen. Über die Wahrheit deiner Hypothesen will ich noch nicht endgültig urteilen, aber da sie mir vernünftig scheinen, können wir sie als Grundlage unserer Untersuchung gelten lassen. Am Ende wird sich zeigen, was sie wert sind. Du sagtest vorhin, das Wesen des Geistes ändere sich nicht durch Geburt und Tod. Wenn das richtig ist, so ist der Mensch der getreue Abdruck des Geistes, der sich einverleibt hat, und man kann aus der Verschiedenheit der Menschen auf die Verschiedenheit der Geister schliessen. Nun frage ich: warum ist der eine Geist gut und weise, der andere töricht und böse? Hat ein Schöpfer sie so geschaffen? Überhaupt: wo kommen die Geister her? Wenn ich deine Methode des Untersuchens anwende, so könnte ich drei Möglichkeiten anführen: entweder die Geister wurden erschaffen, oder sie existieren unerschaffen von Ewigkeit her, oder sie entstehen von selbst, sie entwickeln sich. Was ist deine Meinung?"
"Ich meine, dass die Geister erschaffen worden sind, und ich meine dies, weil diese Hypothese dem einfachen, geraden Denken am nächsten liegt, weil sie einfach ist und mehr Rätsel löst als die andern Hypothesen, und schliesslich, weil alles eine Ursache haben muss. Man könnte auch für die andern Hypothesen wohl einige Gründe anführen, aber diese Gründe scheinen mir nicht so stark zu sein, wie die Gründe für die erste Hypothese."
"Diese Hypothese setzt einen Schöpfer voraus."
"Zweifellos."
"Dieser Schöpfer scheint nicht so vollkommen zu sein, wie er ausgegeben wird, wenn ich die vielen Mängel der Schöpfung bedenke, besonders die Torheit der Geister, ich meine die Menschen als einverleibte Geister."
"Weisst Du, ob der Schöpfer, nennen wir ihn Gott, die Geister so erschaffen hat, wie sie sind? Bleiben wir vorerst beim Nächstliegenden, den Menschen oder den Geistern, und suchen wir dies Rätsel zu lösen; es wäre möglich, dass die Lösung des Menschenrätsels uns der Lösung des Welträtsels näher bringt."
"Dass alles eine Ursache haben muss, verstehe ich", sagte Mechthildis, "aber wenn Gott die Ursache sein soll, dann muss er doch auch wieder eine Ursache haben. Kann er denn aus sich selbst, in sich selbst, durch sich selbst bestehen? Priester und Philosophen behaupten es, aber ich habe diese Gedanken nie begreifen können. Vielleicht ist meine Frage töricht, und vielleicht hätte ich besser getan, sie nicht zu äussern, aber wenn ihr mir etwas Gutes darauf sagen könnt, wäre ich euch dankbar."
Hallerstede hatte ähnliche Gedanken. "Auch mir ist diese Frage gekommen; ich glaube, sie kommt allen Menschen, die sich ernsthaft und tief mit den Welträtseln befassen und den Dingen auf den Grund gehen, so weit dies möglich ist."
"Wenn wir annehmen, dass Gott als Schöpfer wieder eine Ursache, einen Schöpfer haben muss, so ergibt sich, dass diese Schöpfer wieder einen Schöpfer haben muss, und so können wir diese Reihe beliebig fortsetzen, ohne mehr zu erreichen, als dass wir schliesslich, nach dem Satze, dass der Schöpfer grösser sein muss als das Geschöpf, bei einem unendlich grossen Gott oder Schöpfer ankommen. Dies ist das Letzte, das wir auf dem Wege der Schlussfolgerung erreichen können. Hier endet unsere Erkenntnis, hier steht sie vor unübersteiglichen Schranken. So weit kann das Denken uns führen, dann beginnt der Glaube. Geibel sagt:
"Studiere nur und raste nie, du kommst nicht weit mit deinen Schlüssen;
Das ist das Ende der Philosophie, zu wissen, dass wir glauben müssen."
"Ist das Dasein Gottes überhaupt beweisbar?"
"Beweisbar im Sinne strengster Logik wohl kaum, es lässt sich nur begründen und ahnen."
"Wenn es sich so verhält, dann ist wohl verständlich, dass Atheisten und Materialisten das Dasein Gottes leugnen, dass sie nicht glauben mögen an einen Gott, der sich in so dichte Schleier hüllt."
"Ich begreife diesen Standpunkt sehr wohl, er ist mir sympathischer als jene Frömmigkeit, die den Namen Gottes auf den Lippen trägt, dabei aber den Gottglauben zu egoistischen Zwecken benutzt. Aber ohne irgend einen Glauben kommen auch die Gottesleugner nicht aus. Sie glauben zwar nicht an Gott, aber sie glauben an Kraft und Stoff, an den Willen, an das "Ding in sich", an das Absolute, an die Energie, oder wie ihre Götter sonst heissen. Sie glauben, dass die Materie sich von selbst zu Geist entwickelte, etwa so, wie der selige Baron von Münchhausen sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf zog; glauben tun sie alle etwas, wenn sie zu den letzten Dingen vordringen wollen. Sie schliessen aus den Wirkungen auf Ursachen, wie die Gottgläubigen, die aus der Existenz der Welt die Existenz des Weltschöpfers folgern. Wenn ich aber glauben muss, dann wähle ich den Glauben, der meine Vernunft am meisten befriedigt, der es mir ermöglicht, mit einfachen Mitteln auf einfache Weise die meisten Rätsel zu lösen, und das ist der Glaube an einen gütigen, weisen und gerechten Schöpfer."
"Leider sehe ich in der Welt nicht viel von seiner Weisheit und von seiner Güte und Gerechtigkeit garnichts, und da stehen wir wieder an der alten Stelle."
"Nur scheinbar, in Wahrheit sind wir weiter gekommen. Wir wissen, dass unsere Sinne nur einen Teil der Welt und zwar den grobstofflichen Teil derselben wahrnehmen; wir wissen, dass es eine ätherische Welt gibt, und wir wissen aus dem Entstehen der Lebewesen, dass es unsichtbare, individuelle, intelligente Kräfte gibt: wie nun, wenn in dieser unsichtbaren Welt die Lösung der Lebensfrage läge? Ist es denkbar, dass der Zweck des Daseins gar nicht in dieser sichtbaren, sondern in jener unsichtbaren Welt liegt? Das sind Möglichkeiten, die beachtet und untersucht zu werden verdienen. Dieses Untersuchen bietet heute viel mehr Aussicht auf befriedigendes Ergebnis als früher, wo man sich mit luftigen Spekulationen befasste, weil man vom Wie und Wo des Jenseits keine klaren Begriffe hatte. Das Problem ist bisher immer falsch gestellt worden und fand darum auch keine richtige Lösung. Es heisst nicht: warum hat Gott die Menschen so unvollkommen geschaffen? sondern es heisst: was ist unser wahres Wesen, ist es Geist oder Materie? Und was hat Gott zuerst geschaffen: Geister oder Menschen? Aus dem Entstehen der Lebewesen wissen wir, dass die Geister früher als die Menschen existierten. Dann lautet die weitere Frage: warum verband sich der Geist mit dem Körper? Was ging da vor?"
"Ich halte eine andere Frage für ebenso wichtig", sagte Hallerstede, "nämlich die Frage, warum Gott die Geister so unvollkommen schuf, dass sie nun, einverleibt in die Menschenkörper, Torheiten und Bosheiten tun, sich gegenseitig plagen wie die Teufel und dadurch alles Leid, alle Ungerechtigkeit hervorbringen. Mir scheint es eine grosse Ungerechtigkeit zu sein, unvollkommene Geister zu schaffen. Dass im Bau der Lebewesen sich eine unfassbare Intelligenz offenbart, kann ich nicht bestreiten, aber ich werde irre an dieser Intelligenz, wenn ich die Unvollkommenheit der Geister sehe."
"Da wir nun einmal dabei sind, Fragen zu stellen, so wollen wir weiter fragen, welchen Zweck der Schöpfer mit der Erschaffung der Geister verfolgte. Da in jedem Gebilde sich eine Idee des Bildners ausspricht und er dabei einen Zweck verfolgt, so dürfen wir dies auch von den Gebilden des Schöpfers der Geister annehmen. Dürfen wir nun annehmen, dass Gott die Geister nur zum Spielzeug seiner Laune geschaffen habe? Hat er sie zum Leid oder zur Glückseligkeit bestimmt? Schiller, der so manche tiefe Erkenntnis hatte, gibt auf diese Frage die Antwort:
"Freudlos war der grosse Weltenmeister,
Fühlte Mangel, darum schuf er Geister,
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit."
Ich für meinen Teil meine, dass Schiller mit diesem Worte eine der grössten Wahrheiten ausgesprochen hat, die je ein Mensch verkündete, ja dass er den tiefsten Grund unseres Daseins ausspricht. Ob er als Erster diesen Gedanken ausgesprochen hat, weiss ich nicht, genial ist der Gedanke in jedem Falle. Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit zu sein ist der einzige Zweck, der des höchsten Wesens würdig ist bei der Erschaffung der Geister, denn in diesem Zweck liegt alles: Weisheit, Liebe, Gerechtigkeit. Wenn das Geschöpf selig ist, hat es keinen Grund zu Unzufriedenheit. Die Bestimmung der Geister zur Seligkeit allein kann darum die Erschaffung der Geister rechtfertigen. Nur Liebe, vollkommene Liebe durfte den Schöpfer veranlassen, die Geister zu erschaffen. Da Gott die Geister nicht fragen konnte, ob sie überhaupt geschaffen sein wollten - sie existierten ja noch nicht -, so durfte er nur aus einer Absicht handeln, die jeden Grund zur Unzufriedenheit ausschliesst; die Geister, wenn sie erschaffen sind, müssen selber zufrieden damit sein, und das können sie nur sein, wenn sie selig sind oder die Seligkeit als Zweck erkennen. Daraus folgt nun aber, dass es nicht verwunderlich ist, dass unvollkommene Geister oder Menschen, die also nicht selig sind oder Ziel und Zweck ihres Daseins nicht erkennen, mit dem Schöpfer hadern oder ihr Dasein verwünschen.
"Wir können die Frage, warum Gott geschaffen habe, auch noch von einer anderen Seite aus betrachten. Wenn Gott ist, so muss er Leben sein - ein toter Gott ist kein Gott - und Leben muss ihn umgeben, muss von ihm ausgehen wie das Licht von der Flamme. Und wenn er vollkommen ist - ich bin geneigt, ihn für vollkommen zu halten, da ich die Vollkommenheit seiner Werke sehe; das scheinbar Unvollkommene aber ist nur vorübergehend und Übergang - wenn er vollkommen ist, sage ich, so müssen selbstverständlich auch Plan und Zweck seiner Schöpfung vollkommen sein und nur die edelste Absicht durfte der Grund seines Schaffens sein. Weisst du nun einen edleren Grund als die Glückseligkeit der geschaffenen Geister?"
"Schiller mag vielleicht recht haben, und gewiss hat er seine Gedanken in schöner Form ausgedrückt; ich möchte sogar wünschen, dass er recht habe, denn ich finde den Gedanken erhaben und den Zweck vernünftig, unbeschadet des Vorbehaltes, dass das Nichtsein vielleicht ebenso wünschenswert wäre. Aber da wir nun einmal existieren, können wir an dieser Tatsache nichts mehr ändern und müssen uns als praktische Lebenskünstler mit ihr abfinden so gut es geht. Eigentlich kommen nur zwei Zwecke in Frage: Gott hat die Geister entweder zur Lust oder zum Leid geschaffen. Dass er die Geister sich selbst und den Geistern zum Leid erschaffen habe, ist ein grausiger, absurder Gedanke, den ich dem Schöpfer nur dann zutrauen dürfte, wenn er mir unwiderleglich bewiesen würde, und selbst dann würde mein Inneres sich dagegen auflehnen. Nehmen wir also an, Gott habe die Geister aus Liebe und zur Lust geschaffen. Aber wie kam bei solch guter Absicht das Leid und das Böse in die Welt? Wie konnte bei der behaupteten Weisheit des Schöpfers das Werk so misslingen, dass von den denkenden Wesen die, wie mir scheint, überaus grosse Mehrzahl bitter unzufrieden ist und das heiss begehrte Glück nicht findet? Hat die Weisheit des Schöpfers doch nicht ausgereicht?"
"Wir dürfen annehmen, dass, wenn Gott, der Vollkommene schafft, er nach den höchsten Prinzipien oder Grundsätzen schafft, d.h. die Grundsätze seines Schaffens sind vollkommen. Sein Plan ist ohne Fehler, und wo wir Fehler und Mängel sehen, da liegen sie nicht im Plan des Schöpfers. Der Plan eines grossen, weitläufigen Hauses kann vollkommen sein, aber wenn die Werkleute den Plan nicht in allen Einzelheiten getreu ausführen, so wird das Haus eben mangelhaft. Kurzsichtige Kritiker pflegen dann den Baumeister zu tadeln, dass er seine Sache nicht verstehe, oder dass er die lüderliche Arbeit der Werkleute dulde. Sie bedenken nicht, dass, wie man so sagt, Umstände die Sache verändern. Es könnte sein, dass der Baumeister die geringen Fähigkeiten der Werkleute mit in Betracht gezogen hat und diese minderen Werkleute mindere Arbeit tun lässt an Teilen des Hauses, wo die Mängel den Zweck und die Harmonie des Ganzen nicht gefährden. So haben auch die Anfänger Gelegenheit, sich nützlich zu machen und zu lernen, während die von den tüchtigen Werkleute gebauten Teile des Hauses keinen Anlass zu Tadel geben. Der Baumeister liefert den Plan und das Material und die Werkzeuge und sorgt dafür, dass alle Räume ihren Zweck, Obdach und Schutz zu sein, erfüllen, im übrigen aber überlässt er es den Werkleuten, die Räume nach ihren Fähigkeiten schön und behaglich einzurichten. Wenn nun die Werkleute die von ihnen und für sie selbst geschaffenen Räume bewohnen, so ist gegen solche Ordnung nichts einzuwenden. Dies nur als Gleichnis. Weiter: Wenn man mit der Nase auf einem Gemälde liegt, sieht man nur ein sinnloses Nebeneinander von Farben, das sich aber in Harmonie auflöst, wenn man es aus gehörigem Abstand betrachtet. Je höher die Erkenntnis, der Standpunkt, um so grösser der Gesichtskreis, um so klarer erkennbar die Ordnung. Die Weltordnung denke ich mir so: Gott schafft aus vollkommener Liebe, dass jeder Geist die höchstmögliche Seligkeit erlange, und dass er sie auf die möglich angenehmste Art und Weise erlange, also ohne Leid. Gott schafft nach vollkommener Gerechtigkeit, dass jeder Geist bekomme, was ihm gebührt und keiner benachteiligt wird. Und Gott schafft in vollkommener Weisheit, dass die Mittel dem Zweck entsprechen und ihn auch bewirken."
"Die Frage nun", fuhr Friedmar fort, "wie das Leid und das Böse in die Welt kam, ist bisher unbeantwortet geblieben, an dieser Klippe scheiterte der Witz [der Vorwitz, Anm.d.Erf.] der Philosophen und Theologen. Die Lösungen, die sie bieten, befriedigen nicht. Sie wissen das auch selbst. Vernunft und Gefühl sträuben sich gegen die Annahme, dass das Leid und das Böse das Werk Gottes sei. Wenn nun diese Annahme mit unsern Anschauungen vom Wesen Gottes unvereinbar ist und wir unsern Glauben an die Existenz Gottes nicht aufgeben wollen, so müssen wir eine Theorie finden, die das Leid und das Böse nicht auf Gott zurückführt, sondern es auf andere Weise erklärt. Eine solche Erklärung ist möglich, die Frage ist aber, ob ihr sie als befriedigend anseht. Bestandteile dieser Erklärung finden sich in der Theologie und Philosophie, aber man hat sie nicht richtig verbunden und das Fehlende nicht hinzu getan. Die Philosophie hat das Problem der Willensfreiheit und die Theologie das Dogma vom Sündenfall."
"Lieber Freund", unterbrach hier Erna, "ich erinnere euch an euer Versprechen, nicht trocken und langweilig zu sein. Lasst den Gelehrten etwas zurücktreten, macht nicht soviel Umstände. Mein Mann ist zwar ein Grübler und will alles gründlich haben, aber wir Frauen sind weniger anspruchsvoll in dieser Hinsicht, wir nehmen es nicht so genau mit der Logik, wir sind schon zufrieden mit dem Ergebnis ohne grosse Umschweife, wir urteilen mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand."
Über Friedmar's Antlitz glitt ein Lächeln. "Ich vergesse nicht, habt nur noch etwas Geduld. Auch ich bin des trocknen Tons bald satt. Was ich sagte, war aber nötig, eine Grundlage zu schaffen, auf der wir unsere Lebensanschauung errichten können. Dabei bemühe ich mich, euch dies Gedankengebäude nur in grossen, klaren, einfachen Umrissen und Linien zu zeigen und euch nicht das Verständnis zu erschweren durch unnütze Einzelheiten und Nebensachen. Wenn man sich vorher nicht einigt über gewisse Dinge, redet man meist aneinander vorbei, ereifert sich unnütz und erreicht nichts. Also hört. Die biblische Erzählung vom Sündenfall ist nicht wörtlich zu nehmen, sie ist ein Gleichnis von Vorgängen in der geistigen Welt. Gott, der Urgeist, schuf Geister, nicht Menschen. Die Geister waren rein, sündlos, schuldlos, begabt mit Intelligenz, freiem Willen und Liebe. Sie waren rein, aber nicht vollkommen."
"Warum nicht auch vollkommen?" unterbrach Hallerstede. "Der vollkommene Schöpfer hätte doch auch vollkommene Geister schaffen können, dann wäre der Zweck, nämlich die Seligkeit der Geister, sofort und vollkommen erreicht worden. Konnte er nicht, oder wollte er nicht?"
"Gewiss konnte er, aber wenn er es nicht tat, so dürfen wir annehmen, dass er gewichtigen Grund dafür hatte. Ich masse mir zwar nicht an, die Absichten Gottes genau zu kennen, aber eine Vermutung darf ich doch äussern, wenn ich mich dabei an die Grundsätze der Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit halte und darauf achte, dass meine Vermutung sich ungezwungen und logisch aus ihnen ergibt. Schiller sagte: der Weltenmeister "fühlte Mangel." Als er die Geister schuf, hat er wohl nicht nur an deren Seligkeit, sondern auch an sich selbst gedacht."
"Ein Gott, der Mangel fühlt, ist nicht vollkommen", widersprach Hallerstede.
"Da seid ihr wieder ins Haarspalten geraten", sagte Erna. "Ich kann mir wohl denken, was Schiller gemeint hat. Er meinte, dass Gott auch die Gegenliebe seiner Geschöpfe wünscht. Ich meine, dass Gott gross genug ist, auf die Liebe seiner Geschöpfe verzichten zu können, dass es aber seiner Vollkommenheit keinen Abbruch tut, wenn er sie wünscht. Seid ihr denn imstande, seine Vollkommenheit haargenau in Einzelheiten zu bestimmen? Ist es denn verwunderlich, dass Liebe sich nach Gegenliebe sehnt? Ich finde das selbstverständlich."
"Sehr menschlich von Gott gedacht", erwiderte Hallerstede.
"Lieber Freund, wir können wohl nicht anders als menschlich denken. Wir suchen eine Welt- und Lebensanschauung für Menschen und müssen uns dazu menschlicher Begriffe und Vorstellungen bedienen, denn nur solche sind uns fassbar, aber wir müssen sie uns in höchster Vollkommenheit denken. Mir scheint, Erna hat recht. Gott braucht die Liebe seiner Geschöpfe nicht, denn er ist vollkommen, aber ich glaube, er empfindet ihre Gegenliebe angenehm. Darin liegt kein Widerspruch, auch keine Herabsetzung seiner Eigenschaften. Nun liegt es im Wesen der Liebe, dass sie frei sein und frei gegeben werden muss, denn Liebe erträgt keinen Zwang. Zwang erzeugt Abneigung und Hass, jedenfalls keine Liebe. Wenn die Geschöpfe den Schöpfer lieben sollen, so müssen sie die Freiheit haben, ihm ihre Liebe geben oder versagen zu können. Wenn er sie nun so geschaffen hätte, dass sie ihn lieben mussten, so wäre das ein Zwang gewesen, keine freiwillige Liebe, die Geister wären dann unfreie Automaten gewesen. Gott wollte aber freie Wesen, denn zum Glück und zur Vollkommenheit gehört auch die Freiheit. Die Schaffung von Automatengeistern scheint mir der Weisheit und Grösse Gottes nicht würdig zu sein, und auch vom Standpunkt des Geschöpfes wäre einiges dagegen einzuwenden. Vernünftige Wesen lieben die Freiheit, hassen den Zwang. Freiheit ist neben der Seligkeit das höchste Gut des Geistes, ohne Freiheit wäre seine Seligkeit nicht vollkommen. Schon wir unvollkommenen Menschen empfinden, dass Freiheit zum Glück gehört: sollten vollkommene Wesen das nicht auch und noch viel mehr empfinden? Woher so viele endlose, heftige Kämpfe auf der Erde? Weil die Menschen und Völker ihre Freiheit gegenseitig nicht achten, weil sie einander zu beherrschen, zu unterdrücken suchen. Wir brauchen nicht weiter darüber zu reden, dass Freiheit dem Vernunftwesen nötig ist. Nehmen wir nun an, dass der vollkommene Schöpfer seiner Schöpfung, einschliesslich der Geister, vollkommene Gesetze gegeben habe, so liegt in der Freiheit der Geister die Möglichkeit, die Gesetze zu missachten, zu übertreten, also eigene Wege zu gehen. Wenn nun, wie gesagt, die Gesetze Gottes weise und gut sind für die Geschöpfe, so folgt daraus, dass ein Übertreten dieser Gesetze für die Geister ungute Folgen haben muss. Das Übertreten des Gesetzes ist Fall in die Sünde, Sündenfall mit seinen leidvollen Folgen."
Hallerstede war noch nicht zufrieden. "Warum hat Gott die Geister nicht vollkommen erschaffen und mit voller Freiheit? Das wäre doch eine einfache Lösung des Problems gewesen, ohne üble Folgen."
"Ganz so einfach liegt das Problem nicht. Anerschaffene Vollkommenheit, so dass die Geister nicht fallen könnten, wäre eine Beschränkung der Freiheit. Erlaubt mir hier ein Wortspiel: Soll die relative Vollkommenheit frei sein und die relative Freiheit vollkommen, so muss die Vollkommenheit eigenes, selbstgewähltes Werk des Geistes sein, und das ist nur möglich, wenn er unvollkommen erschaffen wird, aber mit der Möglichkeit zur Vollkommenheit. Die Freiheit aber kann nur vollkommen sein, wenn sie die Möglichkeit zum Fall und zur Vollkommenheit enthält. Gott gab das Dasein und die Mittel, Sache des Geistes ist es, die Mittel richtig zu gebrauchen. Indem Gott den Geist unvollkommen, aber vervollkommnungsfähig erschafft, gibt er ihm die Möglichkeit zu selbstschöpferischer Arbeit, nimmt er ihm nicht die Freude, die Vollkommenheit sich selbst zu verdanken. Es zeigt sich schon jetzt, dass kein zwingender Grund vorliegt, Gott für das Böse und das Leid verantwortlich zu machen."
"Das klingt allerdings anders als die kindische Erzählung vom Sündenfall, womit die Theologen uns langweilen. Aber über die Theorie von der vollkommenen Freiheit bin ich mir noch nicht klar, da liegen noch Steine des Anstosses. Ich verstehe unter Willensfreiheit: sich entschliessen aufgrund eigenen Denkens, in geistiger Gesundheit und unbeeinflusst durch äusseren Zwang. Nun behaupten neuere Philosophen, dass der Wille des Menschen überhaupt nicht frei sei im strengen Sinne des Wortes, sondern dass er sich bestimmen lasse von Gründen und Neigungen. Auch da, wo der Mensch aufgrund logischen Denkens sich völlig frei zu entschliessen glaube, folge er einem inneren geistigen Antrieb und zwar dem stärksten, nämlich dem stärksten Schluss oder der stärksten Erkenntnis, wie immer wir das Ergebnis seines Denkens nennen mögen, und er folge nicht einem beliebigen Einfall, den er irgendwie haben könne. Ja, er könne nicht einmal beliebige, willkürliche Einfälle haben, denn seine Einfälle, wie auch sein Denken und seine Neigungen, ergeben sich aus seinem Charakter, dieser aber sei von Geburt an bestimmt, sei also auch nicht frei. Und wie sehr unsere Triebe und Leidenschaften unser Denken bestimmen, das wissen wir ja alle. Andere Forscher sagen, der Mensch sei beschränkt frei, wie der Vogel im Käfig. Aber wie dem auch sei, jedenfalls widersprechen diese Ansichten deiner Theorie. Und wenn es auch richtig zu sein scheint, dass Gott das Böse nicht in die Welt gebracht hat, so duldet er es doch darin, was mir nicht weniger schlimm dünkt."
"Die Forscher, die dem Menschen nur eine beschränkte oder bedingte Willensfreiheit zugestehen, haben recht; wir aber sprechen jetzt nicht vom Menschen, sondern vom neugeschaffenen Geist. Nur dieser ist ein unbeschriebenes Blatt, während der Mensch als einverleibter Geist schon eine Vergangenheit hat, aus welcher er irgendeinen Charakter in sein Erdenleben mitbringt. Dieser angeborene Charakter ist also schon vor der Geburt des Menschen vorhanden und ist eigenes Werk des Geistes. Die Freiheit, um die es sich hier handelt, ist so zu verstehen, dass Gott den Geist oder den Menschen nicht zwingt, weder zum Guten noch zum Unguten. Er lässt ihm die Freiheit der Wahl; er gibt ihm die Freiheit, die er braucht, um sich als freies Wesen zu empfinden, nämlich die Art des Weges zur Vollkommenheit - Gesetz oder Willkür - und die Zeit selbst zu bestimmen. Es ist wahr, die Bestimmung des Geistes zur Vollkommenheit beschränkt seine Freiheit, sie ist aber geboten durch die Liebe, da nur sie die Erschaffung des Geistes rechtfertigt. Von absoluter Freiheit kann bei geschaffenen, bedingten Wesen also nicht die Rede sein, so wenig wie von absoluter Vollkommenheit, was aber nicht ausschliesst, dass der Geist auch bei relativer Freiheit und relativer (ihm möglicher) Vollkommenheit sich dennoch vollkommen glückselig fühlt. Und das ist die Hauptsache."
"Weiter. Aus der Freiheit ergibt sich auch, warum Gott das Leid und das Böse duldet. Die Geister und die Menschen haben das Böse in die Welt gebracht durch ihr Abweichen vom Gesetze Gottes; das Leid und das Böse ist ihr Werk, und da sie es aus eigenem Willen geschaffen haben, so müssen sie, wenn sie davon loskommen wollen, es aus eigenem Willen beseitigen, indem sie, wie der verlorene Sohn im Gleichnis, wieder zu Gott zurückkehren, wo es kein Leid, kein Böses gibt. Das ist ein langer, ein mühsamer Weg, aber er ist möglich, und er führt an's Ziel, allerdings nicht in einem Erdenleben, wie ja auch der Geist oder Mensch seine Untugenden nicht auf einmal erworben hat."
"Könnte Gott die Folgen der Sünden nicht beseitigen durch seine Allmacht?" fragte Hallerstede, "und gehört es nicht auch zur Freiheit, dass Gott dem Geiste, den er ohne dessen Willen in's Leben gerufen hat, die Möglichkeit gibt, sein Dasein zu vernichten, wenn dieses ihm nicht gefällt?"
"Ob Gott die Folgen der Sünde vernichten könnte, weiss ich nicht; aber angenommen, er täte es, so würde er dadurch auch die Freiheit des Geistes aufheben, denn der Geist würde nicht mehr die Früchte seines Tuns ernten; diese Früchte sind sein Eigentum, und sie ihm zu nehmen wäre nicht gerecht. Wenn du mir die Früchte meines Tuns nimmst, so nimmst du mir auch den Zweck meines Tuns; ohne solchen Zweck habe ich keinen Grund mehr etwas zu tun, und wenn auch nicht theoretisch, so doch praktisch beschränkst du die Freiheit meines Tuns. Schon wir unvollkommenen Menschen empfinden es als ungerecht, wenn man uns die Früchte unseres Tuns nimmt, gleichgültig ob diese Früchte gut oder ungut sind; wir halten sie jedenfalls für gut, sonst würden wir sie nicht schaffen, und da sie unser Werk sind, wollen wir sie behalten. Gottes Gerechtigkeit kann aber nicht geringer sein als unserige, darum nimmt er uns nicht die Früchte unseres Tuns. -
Nun die andere Frage. Die Freiheit des Geistes, sein Dasein zu vernichten - und die Möglichkeit dazu - widerspricht dem Rechte Gottes. Wir haben uns nicht selbst geschaffen, weder als Menschen noch als Geister, sondern wir sind das Werk Gottes, und folglich hat Gott ebenso ein Eigentumsrecht an uns, wie wir es haben an unseren Werken, und Gott duldet nicht die Vernichtung seiner Werke ebenso wenig, wie wir die Vernichtung unserer Werke billigen. Ausserdem würde die Selbstvernichtung unseres Geistes bedeuten - vom Selbstmord des Menschen rede ich hier nicht -, dass Gott nicht fähig wäre, einen vollkommenen Plan zu ersinnen, und auch nicht fähig, seinen Plan auszuführen. Die Selbstvernichtung des Geistes widerspräche also der Weisheit und der Macht Gottes. Zweifellos hat der Geist ein gewisses Recht an sich, aber ebenso gewiss hat auch Gott ein Recht an den Geist. Das Recht des Geistes besteht in der Freiheit der Selbstbestimmung, wie wir sie vorhin klar gestellt haben; das Recht Gottes besteht darin, dass er sein Eigentum nicht will verderben lassen. In der moralischen Weltordnung sind die Rechte des Geistes und des Schöpfers genau bestimmt und absolut weise und gerecht verteilt. Überlegt die Verknüpfung der Grundsätze, die Rechte und Umstände nach allen Seiten, wie sie sich gegenseitig stützen, bedingen, beschränken, so werdet ihr finden, dass Gott "alles wohlgemacht" hat. Dies Wort ist dann keine leere Phrase mehr, wie bei vielen Menschen, sondern es ist klare, tiefe Erkenntnis, eine stete, unerschütterliche Grundlage, auf welcher ihr eine gediegene Lebens- und Weltanschauung bauen könnt. Ich weiss, dass dies Bauen keine leichte Arbeit ist, aber sie bringt Früchte für die Ewigkeit."


Fussnote 3: L. v. Hellenbach: Geburt und Tod als Wechsel der Anschauungsform. - Hellenbach war österreichischer Aristokrat, verkehrte in hohen Kreisen und vertrat in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts [19. Jhrd., Anm.d.Erf.] mutig und geschickt die Tatsache des Spiritismus gegen ein Heer von Zweiflern und Ignoranten.


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"