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Renatus-Verlag in Lorch (Württemberg) Alle Rechte vorbehalten Copyright by Renatus-Verlag, Lorch (Württ.) 1929

Friedrich Funcke : Christentum als Weltanschauung und Lebenskunst

2. Kapitel

Der sinnliche nicht wahrnehmbare Teil der Welt ist das Jenseits - Die Welt der Fluide

"Unser Urteil über eine Sache, welche es auch sei, hängt ab von dem, was wir von ihr wahrnehmen und wie wir sie wahrnehmen. Wenn wir sie nicht vollständig wahrnehmen oder nicht getreu wahrnehmen, so muss auch unser Urteil unvollständig und ungenau sein. Die Gerichte fällen ungerechte, also unrichtige Urteile, weil sie den Sachverhalt nicht so genau kennen, wie dies zu einem gerechten Urteil nötig ist. Und fast alle Menschen werden von ihren Mitmenschen falsch beurteilt, weil ihr Seelenleben, ihr Denken, Wollen, Wissen und ihre Kraft nicht genau bekannt sind. Dies Verhältnis gilt aber nicht nur von Sachen und Menschen, sondern auch von der Weltanschauung, diese im weitesten, allgemeinen Sinne verstanden."
"Was ist eigentlich eine Weltanschauung?" fragte Mechthildis. "So ungefähr weiss ich es wohl, aber ich bin mir über den Begriff doch nicht genügend klar; ich weiss nur, dass man viel darüber spricht und dass die Weltanschauungen der Menschen nur selten übereinstimmen."
"Nun, die Anschauung, die Ansicht, die man von der Welt hat; genauer ausgedrückt, die Summe aller Erkenntnisse, die man von Gott, Welt und Menschen hat, und diese Erkenntnisse logisch und harmonisch geordnet. Von der Weltanschauung kann man abzweigen die Lebensanschauung, die sich mit dem Woher? Wohin? Wozu? des Menschen befasst.
Gewöhnlich versteht man unter der Weltanschauung auch die Lebensanschauung, da ja die Welt das Leben einschliesst, aber es vermehrt die Deutlichkeit, wenn wir beide Anschauungen klar unterscheiden. Denn wenn die Lebensanschauung richtig ist, wenn sie den Menschen durch Gefahren und Irrtümer zuverlässig seinem Ziele zuführt, so hat der Mensch, was er braucht, und es bedeutet wenig, ob seine Weltanschauung auf Ptolemäus oder Kopernikus fusst. Eine richtige Lebensanschauung ist also wichtiger als eine richtige Weltanschauung und ist, scheint mir, auch leichter zu erlangen. Trotzdem bestreite ich nicht den Wert einer gediegenen Weltanschauung, sie kann uns behilflich sein beim Bau der Lebensanschauung, wie denn überhaupt beide Anschauungen sich berühren und sich nicht scharf trennen lassen. - Ich sagte also, dass unser Urteil über eine Sache davon abhängt, ob wir sie vollständig kennen und wie wir sie wahrnehmen. Die Frage ist nun: Kennen wir die Welt vollständig und kennen wir sie so, wie sie ist? Jeder Naturforscher weiss, dass wir die Welt nur zum Teil, zum geringen Teil kennen, trotz der räumlichen Erweiterung unseres Weltbildes durch Mikroskop und Fernrohr. Die Grenzen sind weiter hinausgerückt, aber hinter jeder Grenze liegt unbekanntes, vielleicht unermessliches Gebiet, auch auf der Seite des Kleinen und Kleinsten. So sehr man auch das Mikroskop verbessert hat, es zeigt uns doch noch nicht die Atome, jene winzigen, unvorstellbar kleinen Körperchen, von welchen Millionen und Milliarden auf ein Kubikmillimeter gehen und die bis vor einigen Jahrzehnten als die äusserste Grenze des Stoffes galten. Wir wissen heute, dass die Atome selbst wieder aus einer grossen Anzahl von noch kleineren Körperchen bestehen, den Elektronen und wir wissen auch, dass sie nicht unbeweglich neben oder aneinander liegen wie Kartoffeln im Sack, sondern dass sie durch verhältnismässig weite Zwischenräume von einander getrennt sind und sich unaufhörlich um einander bewegen, in Millionen von Umläufen in der Sekunde, etwa so, wie die Planeten sich um die Sonne bewegen."
"Millionen und Milliarden?" sagte Erna. "Hat man denn das gezählt? Vorstellen kann ich mir das nicht."
"Ist auch nicht nötig", bemerkte Hallerstede, "und gezählt im gewöhnlichen Sinne hat man das nicht; man hat es berechnet aus gewissen Tatsachen und Erscheinungen in der Natur. Ich will euch das gelegentlich genauer erläutern."
"Tue das, es wird nützlich sein, und ich kann fortfahren. Aber auch die Elektronen sind noch nicht die kleinsten Körperchen oder Teilchen des Stoffes, man kann auch sie wieder geteilt denken in zahllose noch kleinere Körperchen, und diese wieder ebenso in beliebiger Fortsetzung, so dass es theoretisch für die Teilbarkeit des Stoffes keine Grenze gibt. Was hast du einzuwenden gegen diese Theorie?"
"Dass sie eben nur Theorie ist", erwiderte Hallerstede. "Bis zu den Elektronen gehe ich mit, weiter nicht."
"Weiss ich. Aber wie steht es mit dem Äther, dessen Existenz die Naturforscher behaupten, behaupten müssen, weil sie ohne ihn die Naturvorgänge nicht erklären können? Der Äther ist doch streng genommen auch nur Theorie, und doch behaupten viele Naturforscher seine Existenz, obwohl sie über seine Beschaffenheit verschiedener Meinung sind und seltsame Behauptungen darüber aufstellen. Nun meine ich: wenn es jenseits der Atome einen Stoff von ätherischer Feinheit geben kann, so sind auch mehrere Stoffe von verschiedener ätherischer Feinheit möglich, ja sogar soviel Stufen der Feinheit ätherischer Stoffe, als es Stufen der Teilbarkeit des Stoffes gibt. Wie es diesseits der Atome etwa 92 chemische Elemente gibt, soviel bis jetzt bekannt ist, und wie die Atome dieser Elemente eine fast unendliche Anzahl von Verbindungen mit einander eingehen können, so darf man sich jenseits der Atome ähnliche Verhältnisse in der ätherischen Materie denken, und diese ätherischen Elemente können unter sich gerade so verbindungsfähig sein wie die uns bekannten chemischen Elemente. Hast du etwas dagegen einzuwenden?"
"Der Gedanke ist mir neu, aber logisch und theoretisch lässt sich gegen ihn nichts einwenden."
"Nehmen wir weiter an, diese unsichtbaren ätherischen Stoffe seien gestaltungsfähig wie die sichtbaren groben Stoffe, so hätten wir in der ätherischen Welt ein Abbild oder Gegenstück der stofflichen Welt."
"Wenn es eine solche Welt gibt, so können wir mangels sinnlicher Erfahrung nichts von ihr wissen, und sie wird also wohl immer theoretisch für uns bleiben; sie ist möglich, aber nicht beweisbar."
"So scheint es, aber diese Ansicht stimmt nicht ganz. Diese Welt ist allerdings nicht beweisbar in dem Sinne, dass jedermann sie mit Händen greifen kann, aber ihre Existenz ist durch Tatsachen doch so wahrscheinlich zu machen, dass sie als gewiss gelten kann. Die Naturforscher selbst liefern diese Tatsachen, sie ziehen aber nicht die Folgerungen daraus. Wir wissen heute bestimmt, dass unsere Sinnesorgane nicht die ganze Welt wahrnehmen, sondern nur den Teil von ihr, auf dessen Wahrnehmung sie eingerichtet sind. Die Länge der kürzesten Schwingungswellen wird auf Millionstel von Millimetern berechnet, die Länge der längsten Schwingungswellen beträgt viele Meter. Zwischen diesen Extremen liegt eine ganze Welt von Schwingungen mit Wellen von verschiedener Länge. Schwingungen von einer gewissen Wellenlänge hören wir als Töne, andere sehen wir als Licht und Farbe, wieder andere empfinden wir als Wärme, aber die Schwingungen von Ton, Licht und Wärme sind nur ein geringer Teil der vielen Schwingungen, die wir nicht wahrnehmen, weil wir keine Organe dafür haben. Für unsere Wahrnehmung klaffen grosse Lücken zwischen den Schwingungen von Wärme, Schall, Licht und Elektrizität. Sollten diese scheinbaren Lücken wirklich leer sein, sollte die Natur, die nach einem bekannten Wort keine Sprünge macht, hier doch Sprünge gemacht haben? Bedeutende Naturforscher halten das für unwahrscheinlich und nehmen an, dass die Lücken nicht in der Natur, sondern nur in unserer Wahrnehmungsfähigkeit bestehen. [siehe Immanuel Kant: Anm.d.Erf.] Der Mensch hat 5 Sinne, die ihm ermöglichen, sich zurecht zu finden in der materiellen Welt. Er hat nur die Sinne, die er braucht, mehr nicht. Hätten wir aber sechs oder sieben Sinne, so würden wir mehr und andere Schwingungen wahrnehmen, und unser Weltbild wäre reicher in einer Art und Weise, die wir uns nicht vorstellen können. Ein Mensch mit sechs oder mehr Sinnen könnte einem Menschen mit nur vier oder fünf Sinnen noch so viel sagen von seiner reicheren Welt: der andere würde ihn nicht verstehen, und wenn seine Vernunft schwach wäre, würde er wahrscheinlich alle die Einwände vorbringen, die man heute vorbringt gegen Tatsachen, die über das Alltägliche, sogenannte Normale hinausgehen."
"Danke!" sagte Hallerstede.
"Ich führe dies an", fuhr Friedmar fort, "um darauf hinzuweisen, dass man sich auf die Sinne nicht unbedingt verlassen kann. Sie orientieren uns in der Stoffwelt, in welcher wir leben, aber sie genügen nicht, uns über die Welt im Ganzen zu orientieren. Sie zeigen uns nur einen Teil der Welt, und zwar die grobstoffliche Welt; die andere Seite der Welt, ihren ätherischen Teil, zeigen sie uns nicht."
"Wie gross mag dieser Teil sein?"
"Wenn wir annehmen, dass die scheinbaren Lücken zwischen den Schwingungen von Wärme, Ton, Licht und Elektrizität auch Schwingungen enthalten, wenn wir also die wahrnehmbare und die nicht wahrnehmbare Welt in ein quantitatives Verhältnis setzen, so glaube ich sagen zu dürfen, dass die unsern Sinnen nicht wahrnehmbare Welt um ein Mehrfaches reicher ist, als die wahrnehmbare Welt. Mit andern Worten: wir wahrnehmen von der wirklichen Welt nur den dritten oder vierten Teil, vielleicht noch weniger; ich kann es nicht genau sagen, dies Verhältnis ist nicht genau zu bestimmen, gewisse Tatsachen sprechen aber dafür, dass diese ätherische Welt unserer grobstofflichen Welt an Reichtum oder Inhalt nicht nachsteht. Diese Erkenntnis genügt für unsere Betrachtungen. Existiert nun diese ätherische Welt nicht nur theoretisch in unseren Gedanken, sondern existiert sie wirklich, so ist klar, dass eine Weltanschauung, die nur den einen, uns wahrnehmbaren Teil der Welt umfasst, unvermeidlich einseitig, unvollständig und unrichtig sein muss und hinsichtlich Sinn und Zweck des Lebens führen muss zu all den Irrtümern, die eine klare und wahre Lebensanschauung verhindern. Wenn ein Teil unseres Daseins sich in dem verborgenen Teil der Welt abspielt, was wir mit guten Gründen vermuten dürfen, so muss bei den Versuchen, die Lebensrätsel zu lösen, auch dieser verborgene Teil berücksichtigt werden. Ist doch einleuchtend."
"Das ist zweifellos richtig. Von dieser Seite habe ich die Welt noch nicht gesehen. Hier scheint sich eine unermessliche Aussicht zu eröffnen. Aber lieb wäre mir doch, noch mehr Beweise für die Existenz dieser anderen Welt zu bekommen. Wenn ich eine andere, bessere Anschauung von Welt und Leben gewinnen soll, so muss die Grundlage, auf der ich baue, so fest sein, dass sie allen Angriffen standhält."
"Die Bausteine, also Tatsachen und Erkenntnisse, kann ich dir geben, bauen musst du selbst. Die Kraft und Schärfe des Geistes, womit du die Tatsachen und Erkenntnisse ordnest und verbindest, sind der Mörtel, der die Bausteine fest zusammenhält. Nun zu den Beweisen, die du verlangst. Als Ingenieur weisst du, dass man durch chemische und physikalische Mittel eine Anzahl von Schwingungen und Kräften nachgewiesen hat, die man vorher nicht kannte, und als denkender Mensch wirst du dir selber sagen, dass kein Grund vorliegt, die Reihe der neuen Entdeckungen für abgeschlossen zu halten. Alle diese Entdeckungen bereichern und erweitern unser Weltbild und verändern es so, dass altgewohnte, scheinbar fest begründete Anschauungen und Theorien zu stürzen drohen. So erging es der Atomtheorie, die eine Grundlage der materialistischen Weltanschauung bildete. Was ist daraus geworden? Führende Physiker neigen dazu, dem Atom jede Körperlichkeit abzusprechen und es in einen Wirbel kreisenden Äthers aufzulösen. Das Axiom von der Unzerstörbarkeit der Materie wankt, und ich möchte annehmen, dass die Zukunft es als Irrtum erweisen wird. [wie wahr! - Anm.d.Erf.] Ob du nun den Äther zum geistigen Teil der Welt rechnen willst, überlasse ich dir, ich rechne ihn zu dem verborgenen Teil der Welt. Und da das Atom eines chemischen Elements sein spezifisches Gewicht hat, das seiner Dichte oder Masse entspricht, so muss folglich auch jeder Ätherwirbel der Atome verschiedener Elemente verschiedene Dichte oder Masse haben, wenn jene Ansicht richtig ist. Die Welt der Materie wäre also nur Schein, nicht in dem Sinne, dass sie unwirklich wäre, sondern durch die Art ihrer Erscheinung, also durch die Art, wie sie unsern Sinnen erscheint. Es ist ein alter Gedanke, dass Materie verfestigter Geist sei; die moderne Naturwissenschaft, in ihren besten Vertretern, ist auf dem Wege, die Wahrheit dieses Satzes zu beweisen, die Tatsachen drängen sie in diese Richtung."
"Ich habe nicht alles verstanden", sagte Erna, "vieles war mir zu hoch, wie man sagt; fragen mochte ich nicht, um euch nicht zu unterbrechen."
"Ich habe das vermutet, solche Gedankengänge sind den Frauen ungewohnt und langweilig. Aber der Schaden ist nicht gross und ist leicht zu beheben. Der langen Rede kurzer Sinn ist: es gibt eine verborgene Welt aus unendlich feinem Stoff, aus Stoff, viele millionenmal feiner als die Luft, so fein, dass unsere Sinnesorgane und die feinsten Instrumente der Physiker diesen ätherischen Stoff nicht ohne weiteres wahrnehmen. Aber unleugbare Tatsachen zeigen uns, dass diese verborgene Welt wirklich existiert. Diesen Gedanken habe ich vorhin ausführlicher dargelegt und ihn durch Tatsachen und Schlussfolgerungen zu beweisen versucht, so gut das in einer solchen Unterhaltung eben geht. Karl nimmt es genauer als ihr, ihn kann ich mit einer kurzen, einfachen Behauptung nicht abfertigen. Und ich bitte auch zu bedenken, dass meine Ausführungen trotz ihrer scheinbaren Länge in Wahrheit doch nur kurze Andeutungen sind, die den Gegenstand nur in seinen gröbsten Umrissen zeigen, ohne auf die Einzelheiten einzugehen, die zu einer umfassenden Beweisführung nötig wären."
"Aber wo ist denn diese Welt?"
"Sie ist hier und überall, wir sind darin, sie umgibt uns. Sie ist das sogenannte Jenseits, von dem man viel redet und nichts weiss. Das Jenseits ist also kein anderer Ort, irgendwo über den Wolken, wie man bisher meinte, sondern es ist der uns verborgene Teil der Welt. Es gibt nur eine Welt, aber diese Welt existiert in verschiedenen Zuständen. Genauer sollte ich sagen: es gibt nur einen Weltraum, aber die Materie in diesem Weltraume existiert in sehr verschiedenen Stufen der Feinheit oder Dichtigkeit. Wir mit unsern groben, schweren Körpern wahrnehmen von der Materie nur den gröberen Teil, den Stoff im festen, flüssigen und gasigen Zustande, sowie eine Anzahl von Schwingungen, die in uns die Empfindung von Schall, Wärme, Licht und Elektrizität erregen. Die über den gasigen Zustand hinaus verfeinerte Materie, also die ätherische Materie und zahllose Schwingungen derselben wahrnehmen wir nicht, aber sie bilden den verborgenen Teil der Welt, das Jenseits. Wir leben also zugleich in zwei Welten, von welchen wir aber nur den gröberen Teil wahrnehmen, und nur unter besonderen Umständen haben gewisse Menschen eine Wahrnehmung eines beschränkten Teiles der andern Welt. Macht euch das Verhältnis der verborgenen zur wahrnehmbaren Welt so klar wie möglich, es ist wichtig für das Verständnis der Fragen über Unsterblichkeit und was damit zusammenhängt. Denn diese andere Seite der Welt, dieses Jenseits, ist die Heimat der Seele. Früher dachte man sich den Himmel in der Höhe, über den Wolken, die Hölle in der Tiefe der Erde. Seitdem aber die Astronomen zeigen, dass es einen Himmel in diesem naiven Sinne nicht gibt, dass überall, nach allen Seiten der unendliche Weltraum sich ausdehnt, in dem es Oben und Unten nicht gibt, seitdem besteht auch für die Seele eine Wohnungsnot, und die über diese Verhältnisse nicht unterrichteten Anhänger des Unsterblichkeitsglaubens geraten in Verlegenheit, wenn man sie nach dem Wohnort der Seligen oder Unseligen fragt. Den Tatsachen der Astronomie können sie nicht widersprechen, ein Jenseits aber in dem eben bestimmten Sinne als ätherischen Teil der Welt kennen sie nicht. Man kann auch sagen: es gibt nur eine Welt, aber sie wird von den verschiedenen Wesen verschieden gesehen, je nach ihrer Beschaffenheit: die grobstofflichen Wesen sehen nur den grobstofflichen Teil, ätherische oder geistige Wesen sehen den ätherischen Teil der Welt. Ausnahmen gibt's auf beiden Seiten, aber diese ändern nichts an dem allgemeinen Verhältnis der Welten und Wesen zu einander."
"Das Wo und Wie des Jenseits hast du verständlich gemacht, jedenfalls die wichtigsten Einwände gegen den Glauben an ein Jenseits beseitigt", sagte Hallerstede. "Deine Beweisführung beruht hauptsächlich auf der Meinung von der unbegrenzten Teilbarkeit der Materie und den daraus gezogenen Folgerungen, sowie auf einigen Tatsachen der Physik. Gegen die Theorie lässt sich vom naturwissenschaftlichen Standpunkt nichts weiter einwenden, als dass sie eben nur Theorie ist. Und die physikalischen Beweise sind noch so dürftig, dass sie mir nicht genügend scheinen, die Theorie fest zu begründen. Weitere Beweise sind mir darum erwünscht."
"Bei solchen Untersuchungen," sagte Friedmar, "kommt es weniger auf die Menge als auf die Qualität der Beweise an. Wenn zehn Tatsachen die Existenz eines Jenseits beweisen, so können hundert Tatsachen nicht mehr beweisen als diese zehn. Aber noch etwas anderes ist zu bedenken. Es handelt sich nicht nur um eine Weltanschauung und um das Jenseits, sondern auch um die Seele, um die Lebensanschauung. Wenn wir das Wesen und Leben der Seele richtig verstehen, ergeben sich daraus weitere wichtige Beweise für das Jenseits; eins stützt das andere. Untersuchen wir also, ob die Theorie richtig ist, die da sagt, die Seele sei kein selbständiges, vom Körper trennbares und unabhängiges Wesen, das den Tod des Leibes überdaure, sondern sie sei nur das Ergebnis der Kräfte und Eigenschaften des Stoffes, sie sei also vom Stoffe abhängig und zerfalle mit dem Tod des Leibes. Diese Ansicht findet sich am meisten bei den Ärzten und Naturforschern, sie sagen: wenn die Seele als selbständiges Wesen existiert, muss sie gasiger Natur sein und chemisch nachweisbar. Ein solcher Seelenstoff ist aber bisher nicht gefunden worden, also existiert eine solche Seele nicht. Am schroffsten hat Häckel [Fussnote 30] diese Theorie vertreten. Die Theorie von der unendlichen Teilbarkeit und Feinheit der Materie über die Atome hinaus ist diesen Forschern anscheinend nicht bekannt oder nicht angenehm, weil sie zu wenig philosophisch denken. Und doch kann ein einfaches Experiment uns überzeugen, dass die Ansicht der Naturforscher falsch ist. Hartogg zeigte sie mir. Er war, wie gesagt, Heilmagnetiseur. Theorie und Praxis des Heilmagnetismus beruhen darauf, dass der Heilmagnetiseur eine Kraft auf den Kranken überträgt, dadurch dessen eigene Lebenskraft stärkt und sie befähigt, die Unordnung im Stoffkörper zu beseitigen. Diese Theorie ist einfach und vernünftig und tausendfach bestätigt durch die Praxis. Jede Kraft muss aber einen Träger haben, wie du als Ingenieur weisst, und wenn kein Träger vorhanden ist, kann keine Kraft übertragen werden. Wenn also der Heilmagnetiseur einen Kranken heilt, so überträgt er ihm eine Kraft, und zwar eine Kraft, die den Physikern noch unbekannt ist. Wäre eine solche Kraft nicht vorhanden, so hätten wir eine Wirkung ohne Ursache, was gegen Vernunft und Erfahrung spräche. Wenn die Ärzte die Heilungen mit Einbildung erklären, was sie gern tun, so kommen sie damit nicht weiter, denn auch die Einbildung, wenn sie materielle Veränderungen bewirkt, muss dann selber eine Kraft sein und bedarf als solche eines Trägers, einer Substanz oder wie wir den Überträger oder Vermittler der Kraft sonst noch benennen wollen. Ich versteife mich nicht auf Worte."
Hallerstede nickte zustimmend, und Friedmar fuhr fort: "Übrigens sind wir nicht auf den indirekten Beweis der Existenz dieser Kraft beschränkt, indem wir sie aus der Wirkung folgern. Wir können diese Kraft auch direkt nachweisen durch ein persönliches Experiment, wenn ihr dazu disponiert [bereit: Anm.d.Erf.] seid, ein Experiment, das für den, der es richtig macht, vollauf genügt, wenn er nicht gerade ein Fanatiker des physikalischen Experiments ist und nur ihm allein Beweiskraft zugesteht. Halte, bitte, die Spitzen der ausgestreckten Finger gegen die meinigen, ohne sie zu berühren, so."
Friedmar hielt nun seine Finger gegen die des Ingenieurs, so dass die Finger beider Hände gegeneinander gerichtet waren, in zwei bis drei Zentimeter Abstand und fragte dann:
"Fühlst du etwas?"
"Ein Kribbeln, Prickeln, Ziehen in der Hand."
"Wie weit?"
"Bis zur Handwurzel."
"Nun die andere Hand, damit du gewiss bist, dass es keine Täuschung ist."
Das Resultat war das gleiche.
"Nun will ich den Versuch auch mit den Damen machen. Bitte, Frau Erna. Nun?"
"Mir geht es bis an den Ellbogen", sagte Erna verwundert.
"Die andere Hand."
"Ebenso."
"Welche Empfindung habt Ihr?"
"Wie wenn ein warmer Hauch oder Dampf durch die Hand zöge. In der linken Hand war es etwas kühler als in der rechts und schien mir auch angenehmer zu sein. Aber unangenehm war es auch rechts nicht."
Der Versuch mit Mechthildis ergab ein gleiches Resultat, und als weitere Versuche genügend erwiesen hatten, dass keine Täuschung vorlag, sagte Friedmar:
"Ihr alle habt etwas von dem, was ich den sechsten Sinn nennen möchte, nämlich die Fähigkeit, die Existenz eines anderen Körpers oder Wesens auf andere Art als durch die bekannten Sinne wahrzunehmen."
"Haben das nicht alle Menschen?"
"Nein. Ich habe viele Versuche gemacht und dabei gefunden, dass vielleicht jeder achte oder zehnte Mensch diese Fähigkeit hat, allerdings in ungleichem Masse. Frauen sind meist empfindlicher und haben diese Fähigkeit auch häufiger als Männer, doch gibt es auch Männer, die sehr empfindlich sind. Hartogg war es in hohem Grade. Ohne dass die Kranken ihm ihre Beschwerden nannten, fand er richtig den Ort der Störung, einfach dadurch, dass er in zehn bis zwanzig Zentimeter Abstand mit der Hand langsam über den Körper fuhr. War z.B. die Leber krank, so fühlte er an der betreffenden Stelle eine andere Strahlung als am gesunden Körper, und so vermochte er auch vom allgemeinen Zustand des Kranken ein zutreffendes Bild zu geben, ja er nannte scheinbar gesunden Menschen eine verborgene Krankheit, nachdem er seine Empfindlichkeit noch weiter gesteigert hatte. Diese Empfindlichkeit ist persönliche Begabung, die wohl ausgebildet, aber nicht künstlich erzeugt werden kann. Ich habe wiederholt gesehen, dass hochempfindliche Magnetiseure, auch ohne körperliche Untersuchung der genannten Art, auf ein bis zwei Meter Entfernung die Störungen und Beschwerden eines Kranken genau bezeichneten. Wenn man so etwas nicht selbst gesehen hat, mag man es nicht glauben, und doch ist es Tatsache."
"Wodurch wird nun diese Empfindung erzeugt?" fragte Hallerstede. "Da muss doch etwas vorhanden sein, denn von nichts kommt nichts."
"Gewiss ist etwas vorhanden, und zwar das, dessen Existenz ich euch zu beweisen versucht habe: ein feiner ätherischer Stoff, dessen Feinheit weit jenseits der Feinheit der Atome liegt und der darum durch chemische und physikalische Mittel nicht nachweisbar ist, der aber von überempfindlichen Nerven wahrgenommen werden kann, wie ihr euch eben überzeugt habt."
"Wird diese Empfindung nicht durch die natürliche Körperwärme bewirkt?"
"Nein, sonst müssten alle Menschen sie wahrnehmen, auch würde sie dann nur an den Fingerspitzen wahrgenommen werden und nicht die ganze Hand oder gar den Arm durchströmen."
"Ist es nicht Elektrizität?"
"Die würde nur bei körperlicher Berührung übertragen werden, wäre auch durch Apparate leicht nachweisbar."
"Hat jeder Mensch solche Ausstrahlung?"
"Jeder, aber sie ist ungleich in Art und Stärke. Am stärksten ist sie bei tüchtigen Magnetiseuren, am schwächsten bei alten, siechen oder schwachen Menschen. Der Magnetiseur überträgt seine Kraft auf den Kranken, und wenn die Umstände günstig sind, kann der Kranke genesen. Eine einfache Sache, weder Betrug noch Täuschung."
"Warum aber benutzen die Ärzte dies Heilmittel nicht, wenn es so einfach ist?"
"Sie wissen nichts davon, und was sie darüber hören, erweckt in ihnen die Meinung, dass es sich um Täuschung oder Betrug handle. Auf den Hochschulen wird der Magnetismus beharrlich geleugnet, seit vor etwa 150 Jahren der Arzt Mesmer [Fussnote 31] ihn wieder entdeckte; er wird geleugnet, obwohl angesehene Forscher sich für ihn einsetzten. Diese Leugnung liegt einerseits in der Richtung der materialistischen Hochschulmedizin, die so feine, ätherische Kräfte nicht gelten lassen will und nur chemische, physikalische und mechanische Kräfte kennt. Zum anderen liegt es an der geistigen Steifheit der Gelehrten, die nicht umlernen mögen, was schon Schiller ihnen zum Vorwurf macht. Ein weiterer Umstand ist, dass die allermeisten Ärzte keine überschüssige, magnetische Kraft haben, denn der Besitz dieser Kraft ist natürliche Begabung und an kein Patent gebunden, und da die Ärzte Geschäftsleute sind, sehen sie es nicht gern, dass ein nicht approbierter Heiler mit einem Mittel, das ihnen selbst fehlt, Erfolge erzielt und ihnen dadurch die Einnahmen schmälert. Daher ihre Abneigung gegen den Heilmagnetismus. "Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!" Überall Brotneid, der aber seine wahren Gründe und Absichten geschickt zu verbergen weiss. Doch zurück zur Sache. Verschieden, wie die Menschen sind auch ihre ätherischen Ausstrahlungen, so dass, streng genommen, nicht zwei Menschen genau gleich ausstrahlen, wie sie ja auch nicht genau gleich duften. Am spezifischen Duft erkennt der Hund seinen Herrn unter hunderten von Menschen, und geleitet vom spezifischen Duft des Verbrechers folgt der Polizeihund der Spur des Verbrechers. Im allgemeinen werden die Ausstrahlungen der Menschen von den Mittelsensitiven als kalt, kühl, warm unterschieden, während Hochsensitive noch andere, feinere Unterschiede finden. Du bist schwach sensitiv, Erna und Mechthildis sind mittelsensitiv."
"Nun glaube ich zu verstehen, warum ich gewissen Menschen nicht gern die Hand gebe oder es in ihrer Nähe nicht lange aushalte", sagte Mechthildis.
"Gewiss, solche Abneigung und ebenso die Zuneigung ist nicht nur rein geistig, es liegt ihr auch etwas Feinstoffliches zugrunde. Denn die Ausstrahlung, die ihr fühlt, geht nicht nur von den Händen aus, obwohl sie sich hier am stärksten zeigt. Der ganze Körper ist durchdrungen von diesem feinen Fluidum wie ein Schwamm von Wasser oder Luft, es umgibt ihn wie eine Dunstwolke, und wenn diese Dunstwolke eines Menschen der unsrigen harmonisch ist, so empfinden wir diesen Menschen als angenehm, im gegenteiligen Falle als unangenehm. Das bekannte Wort "ich kann den Menschen nicht riechen" ist buchstäblich zu verstehen, jedoch mit der Ergänzung, dass auch das ätherische Fluidum des Menschen mitwirkt. Ich erinnere euch an den Rassenduft der Gelben und Schwarzen, der sich durch keine Reinlichkeit vertreiben lässt und für viele Weisse unerträglich ist. Der bekannte Professor Jaeger, der Wolle-Jaeger, hielt diesen Körperduft für die Seele des Menschen und fügte durch diese Einseitigkeit seiner sonst vortrefflichen Lebenslehre grossen Schaden zu, und dazu hatte er noch den Spott. Was er, abgesehen vom Namen, fachlich über die Bedeutung der Duftstoffe sagte, halte ich im allgemeinen für richtig, aber sie als Seele auszugeben war ein grosser Irrtum. Sie sind der gröbste, niederste Bestandteil der Seele, sozusagen, aber nicht die ganze Seele. Diese besteht aus der Gesamtheit der den Körper durchdringenden und ihn umgebenden Fluide. Der Gesamtheit sage ich. Denn was aus den Händen ausströmt, ist kein einheitliches Fluidum, sondern ein Gemisch mehrerer Fluide von verschiedener Feinheit und bei jedem Menschen verschieden."
"Ich sagte schon", fuhr Friedmar fort, "dass wir entsprechend der Abstufung der groben chemischen Elemente auch eine Abstufung in der Feinheit des ätherischen Stoffes annehmen dürfen. Dass dies keine blosse Theorie ist, mögt ihr ersehen aus den Tatsachen des Hypnotismus und der Gedankenübertragung. Ich nehme an, dass ihr diese Tatsachen kennt und anerkennt. Also gut. Hypnotismus ist wesentlich Gedankenübertragung und besteht darin, dass der Hypnotiseur seine klar und energisch gedachten Gedanken auf einen anderen Menschen überträgt, ohne ihn körperlich zu berühren, mit der Wirkung, dass der andere den Gedankenbefehl ausführt. Zur Erklärung dieser Tatsache gibt es keine andere Annahme, als dass seine Schwingungen oder ein feines Fluidum von einem Gehirn zum andern gehen, ähnlich so wie beim Telegraphieren der elektrische Strom die Verbindung vermittelt. Will man kein Fluidum, keinen Gedankenäther zugestehen, alles mit Schwingungen erklären, so entsteht die Frage, was denn schwingt. Zum Schwingen ist doch irgend ein Äther, ein Fluidum nötig, denn ein reines Nichts kann nicht schwingen, nicht wirken. Gute Gründe sprechen dafür, dass dieser Gedankenäther, entsprechend den feinen Leistungen, die er im Geistesleben zu vollbringen hat, auch soviel feiner ist als das den Händen entströmende Fluidum. Diese beiden Fluidarten mögen hinsichtlich ihrer Feinheit so verschieden sein wie Luft und Blei. Zwischen diesem feinen und diesem groben Fluidum sind nun aber zahllose Stufen der Feinheit möglich, so gut wie zwischen Luft und Blei, und ebenso zahllose Mischungen dieser Fluide. Jedenfalls liegt kein Grund vor, zwischen diesen extremen Fluidarten eine leere Kluft anzunehmen."
"Du baust da ein Gebäude luftiger Hypothesen, lieber Freund."
"Ich benutze keine Hypothese, die nicht auf Tatsachen beruht. Dass die Naturforscher nicht die Folgerungen ziehen, die ich ziehe, und dass sie mit geschlossenen Augen an vielen Tatsachen vorbeigehn, sodass meine Hypothesen und Folgerungen sie seltsam, fremd und unglaublich anmuten, das ist ihre Schuld, nicht die meine. Ich vermute schon lange, dass sie gewisse Tatsachen nicht sehen wollen, weil die Folgerungen ihnen unbequem sind."
"Das mag sein", erwiderte Hallerstede, "Schiller hat uns ja darüber belehrt. Aber es ist doch so, dass deine Hypothesen und Folgerungen mich seltsam berühren, womit ich übrigens nichts gegen ihre Brauchbarkeit sagen will. Es würde dir wohl auch so ergehen, wenn du unvorbereitet auf ein ganz neues Gebiet geführt würdest. Und dann meine ich, dass Zweifel und Einwände eine strittige Sache klären können. Du kennst doch das Verslein von Lessing:
Man würze, wie man will, mit Widerspruch die Rede,
Wird Würze nur nicht Kost und Widerspruch nicht Fehde.
Ich bin Ingenieur und als solcher an harte Tatsachen und nüchternes Denken gewöhnt."
"Könnt ihr ganz ohne Hypothesen auskommen?"
"In der Praxis können wir sie nicht brauchen, in der Theorie leider nicht entbehren; aber sind wir sparsam damit. In der eigentlichen Naturforschung dagegen wimmelt es von Hypothesen, die eine Weile ein zweifelhaftes Dasein führen und dann wieder verschwinden. Nur wenige erheben sich zum Rang einer Wahrheit. Ein kluger Mann sagte: Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen, und die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte von Irrtümern."
"Ein wahres Wort", sagte Friedmar, "das gefällt mir. Wenn es mehr bekannt wäre, könnte mancher Gelehrtenstreit unterbleiben, könnte manchem ehrlichen Forscher der Leidensweg der Verkennung und Verfolgung erspart bleiben und die Wahrheit könnte leichter durchdringen. Was ich jetzt über die Fluide sagte, ist nämlich keine neue Wahrheit. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts [19.Jhd.; Anm.d.Erf.] hat der Naturforscher Karl von Reichenbach [Fussnote 32] dies Gebiet gründlich untersucht und das Ergebnis seiner Arbeit niedergelegt in einer Anzahl von Schriften, besonders in dem zweibändigen Werk: "Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Od." Mit etwa 150 Sensitiven aller Arten und Grade hat er 12'000 Experimente gemacht mit aller erdenklichen Vorsicht und die Existenz der Fluide so gut nachgewiesen, dass ein ehrlicher, unbefangener Forscher sie nicht mehr bezweifeln kann. Und der Erfolg? Die Gelehrten schweigen das Werk Reichenbach's noch heute tot, einige ehrliche Forscher ausgenommen."
"Das verstehe ich nicht."
"Ich verstand es zuerst auch nicht, heute verstehe ich es, und auch du wirst es noch verstehen. Der Fall Reichenbach ist ein klassischer Beweis der Schiller'schen Charakteristik des Brotgelehrten. Ich könnte auch noch den Professor G. Jäger nennen, dem es ebenso erging; ferner Hahnemann [Fussnote 33] und Mesmer. Um aber gerecht zu sein, möchte ich den Worten Schillers noch hinzufügen, dass bei manchen Brotgelehrten weniger der gute Wille zur Wahrheit zu fehlen scheint als die Fähigkeit, selbständig original zu denken, eigene Wege zu gehen und sich frei zu machen vom Autoritätsglauben. Bedenke doch, dass sie von Kindheit an bis zum Abschluss des Studiums immer der Autorität eines anderen folgten, folgen mussten, weil sie sonst die Examina nicht bestanden oder die erstrebten Vorteile nicht erreicht hätten. Ist aber das Ziel erreicht, so halten zwingende äussere Umstände den jungen Mann auf dem einmal betretenen Wege fest, und nur selten findet einer den Mut und die Gelegenheit, überlieferte Vorurteile abzuschütteln und seine Lebens- und Weltanschauung von Grund auf neu zu bauen. Originales, selbständiges Denken ist selten, unbeirrbare Wahrheitsliebe wohl noch seltener; da ist es kein Wunder, dass die Erkenntnis der wichtigsten Lebensfragen sich so sehr langsam verbreitet. Auf den Hochschulen erfahren die Studenten nicht, was Aussenseiter der Wissenschaft, wie Reichenbach, Jäger und andere auf dem Gebiet der Lebenslehre geleistet haben, das wird ihnen sorgfältig verschwiegen, oder die Lehrer wissen es selbst nicht. Wird aber der Name mal genannt, so geschieht es meist in herabsetzendem Tone. So können Werke voller Wahrheit und blühendem Leben jahrzehntelang unbekannt bleiben, weil ihre Schöpfer das Missgeschick hatten, Jahrzehnte zu früh zu kommen. Ich will hier keinen Tadel aussprechen, was ja keinen Sinn hätte, sondern nur eine Tatsache feststellen, und dazu bemerken, dass es in dieser unvollkommenen Welt wohl nicht anders sein kann."
"Kehren wir zur Sache zurück. Das ätherische Fluidum offenbart sich nicht nur dem Gefühl. Unter den Sensitiven Reichenbachs gab es welche, die es auch mit den Augen wahrnahmen, besonders wenn sie sich in absoluter Finsternis befanden. Dann sahen sie ein feines, zartes Licht von den Gegenständen ausströmen, die Menschen schienen ihnen wie von einer leuchtenden Nebelwolke umgeben, graublau rechts, braunrot links. Je höher die Menschen geistig und moralisch stehen, um so heller und feiner sind die Farben, je tiefer sie geistig und moralisch stehen, um so bunter die Farben, die Aura, wie man diese Lichterscheinung nennt. Bei bösen Menschen ist diese Aura grau bis schwarz. Du zweifelst, wie ich sehe, aber kann die Netzhaut des Auges nicht ebenso überempfindlich sein wie die Nerven der Finger es sind? Das ist kein wesentlicher Unterschied, nur ein Unterschied des Ortes. Hellfühlen und Hellsehen sind nur verschiedene Formen des sechsten Sinnes. Wohl sind Hellseher seltener als Hellfühler, aber die Tatsache des Hellsehens steht fest. Der Heiligenschein ist keine Täuschung. Die Aura sehr guter, frommer, reiner Menschen leuchtet so hell, dass sie von guten Hellsehern auch bei Tageslicht wahrgenommen wird. Allerdings nur von Hellsehern, daher kommt es, dass die Aufgeklärten, die das Leuchten nicht sehen, diese Behauptung auf Täuschung oder Halluzination zurückführen. Die Tatsache des Hellfühlens und Hellsehens ist durch viele ehrliche, urteilsfähige Menschen so gut bezeugt, dass ein Zweifel daran jede menschliche Aussage entwerten heisst."
"Ich verstehe immer noch nicht, dass man diese Tatsachen so hartnäckig totgeschwiegen hat", sagte Hallerstede. "Hier eröffnen sich ja Aussichten von so unermesslicher Bedeutung, dass nur reine Wahrheitsliebe die Forscher leiten sollte und alle anderen Rücksichten schweigen müssten."
"So denkst du, und diese Gesinnung ehrt dich, aber wir wissen doch, dass die Menschen in erster Linie nicht die Wahrheit suchen, sondern Brot, Amt und Ehre. Seien wir ehrlich: haben nicht auch wir studiert um materieller Vorteile willen? Dass ich schliesslich ganz wo anders gelandet bin als meine Kollegen, habe ich in der Studienzeit nicht vorausgesehen, und dich hat die Art deines Berufes davor bewahrt, mit der Wahrheit in Konflikt zu kommen. Verstehe alles rein menschlich, so wirst du dich über nichts mehr wundern. Es menschelt überall, auch in der sogenannten Gelehrtenrepublik, und gerade dort so sehr, dass ein witziger Kopf das bekannte Wort Hamlet's so umkehrte: "In der Schulweisheit gibt es Dinge, von welchen Himmel und Erde sich nichts träumen lassen." Das Totschweigen neuer Wahrheiten ist ein solches Ding. Hierüber wäre noch viel zu sagen, aber wir wollen nicht abschweifen. Du hast recht, Reichenbach's Forschungen sind von grosser Bedeutung, sie eröffnen eine neue Welt und führen in das Gebiet der Seele, der immer behaupteten und immer bezweifelten Seele, deren Existenz man mit den Mitteln der Physik und Chemie nicht finden konnte. In dies Land der Seele wollen wir uns jetzt begeben."
"Lieber Freund," sagte Erna, "für heute wollen wir schliessen. Wir haben viel Neues gehört und müssen das erst verarbeiten, bevor wir weitergehen können."


Fussnote 30: Haeckel, Ernst, geb. 16.2.1834 Potsdam, gest.  1919; Zoologe und Philosoph; wurde 1862 Prof. in Jena und spezialisierte sich auf vergleichende Anatomie, Entwicklungsgeschichte, Histologie und Paläontologie. Seine Forschungen betreffen grösstenteils das Gebiet der niederen Seetiere und vor allem jene tiefsten und dunkelsten Regionen, in denen das Leben mit den einfachsten und unvollkommensten Organismen beginnt. Das Material zu diesen Untersuchungen sammelte H. auf Reisen nach den Küstengebieten der Nordsee und des Mittelmeers, den kanarischen Inseln und dem stillen Ozean. Als Früchte derselben erschien u.a. die "Entwicklungsgeschichte der Siphonophoren" (Utrecht 1869). Seine grundlegenden Arbeiten bildeten die Basis für H.'s allgemeine, in das Gebiet der Naturphilosophie fallende Hauptarbeiten und insbesondere für die Leistungen im Gebiete des Darwinismus und der Entwicklungstheorie überhaupt. Aufgrund der Vorlesungen, welche er 1867/68 in Jena hielt, entstand die "Natürliche Schöpfungsgeschichte" (Berlin 1868), die in viele Kultursprachen übersetzt wurde. In der Schrift "Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" (Bonn 1892) legte er sein "Glaubensbekenntnis eines Naturforschers" nieder, welches auch in der Anthroposophie als Anregung diente.

Fussnote 31: Mesmer, Dr. med. Franz Anton (zuweilen wird auch Friedrich als Vorname genannt), geb. 23.5.1734 Iznang bei Radolfzell, gest. 1815; berühmter Arzt, der die praktische Anwendung des magnetischen Fluidums des Menschen, welches er animalischen Magnetismus nannte, wiederentdeckte; studierte 1750 bis 1760 Theologie, Philosophie und Jura, ab 1760 auch Medizin. Von seiner Doktorarbeit "De influxu planetarum" (Vom Einfluss der Planeten) sind nur noch 2 Exemplare bekannt, die sich beide in Wien befinden. Seine geistigen Vorgänger sind Paracelsus, van Helmont, Robert Fludd, William Maxwell. 1777 behandelte M. ein Frl. Paradis, das seit dem 3. Lebensjahr blind war und eine staatliche Rente bezog; durch M. sehend geworden, verzichtete sie fortan auf den Bezug der Rente. Mit den Schulmedizinern lag M. ständig im Streit, so dass er mehrfach seinen Wohnsitz wechseln musste. Mesmers Thesen lauten zusammengefasst: 1. Es gibt eine das ganze Weltall durchdringende und verbindende Kraft, einen vollkommenen, beweglichen Stoff von unvergleichlicher Feinheit. 2. Alle Krankheiten sind eine Folge der Tatsache, dass im Körper der von ihnen befallenen Personen Gleichgewichtsstörungen dieser Kraft entstehen (d.h. eine unharmonische Verteilung der besagten Kraft innerhalb des Körpers). 3. Heilen bedeutet, das gestörte Geichgewicht wiederherstellen. 4. Die Herstellung des Gleichgewichts hat durch Zufuhr dieser geheimnisvollen Kraft in den Körper des Kranken zu erfolgen. 5. Die Zufuhr sollte durch einen Magnetiseur-Arzt geschehen. Dieser muss aber nicht nur mit der medizinischen Lehre vertraut sein, sondern auch mit der Technik des Magnetisierens und den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, die Ströme des Stoffes, den er an seine Patienten abzugeben hat, in sich aufnehmen, durch sich selbst hindurchfliessen lassen und sie vor der Abgabe je nach Bedarf zu verstärken oder abzuschwächen.

Fussnote 32: Freiherr Dr. Carl Ludwig von Reichenbach (12.2.1778 bis 19.1.1869). Naturforscher und Industrieller; entdeckte das Kreosot und Paraffin; später wurde er auch durch seine Untersuchungen über das Od berühmt (und von den Physikern angefeindet); hierzu unternahm er in jahrelanger, mühevoller Arbeit 13'000 Versuche. Du Prel bezeichnete R.'s Odforschung als wichtigste Erkenntnis, mit deren Hilfe man die physikalischen Grundlagen des Gesamtgebietes Okkultismus verstehen kann.

Fussnote 33: Hahnemann, Samuel Friedrich Christian, geb. 1755, gest. 1843, Arzt, Begründer der Homöopathie.

[Fussnoten 30-33 stammen vom Erfasser und sind  zitiert aus Horst E. Miers, Lexikon des Geheimwissens und aus dem Bertelsmann Lexikon.]


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"