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Renatus-Verlag in Lorch (Württemberg) Alle Rechte vorbehalten Copyright by Renatus-Verlag, Lorch (Württ.) 1929

Friedrich Funcke : Christentum als Weltanschauung und Lebenskunst

1. Kapitel

Das Wiedersehen - Die mangelhafte Weltordnung - Der Brotgelehrte und der philosophische Kopf

Der Dampfer verliess den Hafen. Auf dem Promenadedeck wandelte gemessenen Schrittes ein älterer Herr mit seinen vergeistigten Zügen und betrachtete prüfend die Reisenden, die an Bord gekommen waren und nun für einige Zeit seine Weggenossen sein würden. Er sah meist unbedeutende Gesichter und nur wenige Köpfe, die Geist und Energie verrieten, und eben wollte er sich setzen und sich wieder in seine Lektüre vertiefen, als sein Blick auf einen stattlichen Mann fiel, der in Begleitung zweier Damen, anscheinend Frau und Tochter, näher kam. Das Gesicht schien ihm bekannt, und bei genauerem Betrachten bemerkte er an der Nase eine eigenartige Narbe, die wie ein unauslöschlicher Steckbrief das Gesicht kennzeichnete, doch ohne es zu entstellen. Er dachte nach. Kein Zweifel, diese unverkennbare Nase gehörte seinem Freund und Studiengenossen, von dem er seit vielen Jahren nichts vernommen und den hier auf dem Schiff wieder zu sehen er am wenigsten erwartete.
"Hallerstede!"
Der Angeredete blickte fragend auf den Sprecher.
"So heisse ich, aber ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen."
"Wirklich nicht? So ganz vergessen ist der Mann, der zufällig zugegen war, als die Narbe an der Nase entstand?"
"Friedmar! Du? Verzeih, dass ich dich nicht sofort erkannte, aber in einigen Jahrzehnten verändert sich der Mensch und dann ist auch deine Nase nicht so wohlgeschmückt, wie die meinige. Zunächst aber erlaube, dass ich dich mit meiner Frau Erna und meiner Tochter Mechthildis bekannt mache. Und nun sage, welch seltsames Geschick uns hier zusammenführt."
"Ich suche Erholung von den Folgen einer Grippe, die mir übel mitgespielt hat, und hoffe, dass eine längere, behagliche Seereise die letzten Nachwehen beseitigen wird. Ich fahre nach Rio de Janeiro und vielleicht noch weiter südlich, je nach den Umständen, und mit einem der nächsten Dampfer wieder zurück. Und du?"
"Mich führen Geschäfte nach Südamerika. Meine Firma sucht neue Absatzgebiete für ihre Spezialmaschinen für Minenbetrieb, und da hat sie mich beauftragt, das Feld zu bearbeiten. Frau und Tochter bleiben derweilen in Montevideo bei einem Geschäftsfreund, einem Landsmann von uns, und wenn sie auf dieser Reise noch nicht Wasser genug gesehen haben oder gar eine kräftige Brise lieben, dann mögen sie um Kap Horn fahren, wo Wind im Überfluss ist, und mich in Chile treffen. Den Heimweg gedenken wir über Panama zu nehmen oder mit der neuen Bahn über die Anden zu fahren nach Buenos-Ayres, je nach den Umständen. Mechthildis verspricht sich einen besonderen Genuss von der Andenfahrt mit einem Ausflug zum Aconcagua."
"Ja, Väterchen, jetzt ist dort noch unberührte Natur, aber wie lange wird es dauern, dann werden Autos, Flugzeuge und andere Landplagen auch dort die Natur entweihen."
"Hat noch gute Weile, Kind, die Bäume wachsen auch dort nicht in den Himmel."
"Der Aconcagua entgeht uns nicht, über den können wir sprechen, wenn wir ihn sehen", meinte Frau Erna. "Ich würde lieber hören, wenn der Freund uns aus seinem Leben erzählt, vorausgesetzt, dass er diesen Wunsch nicht als unziemliche Neugier empfindet."
"Durchaus nicht, der Wunsch beruht auf Gegenseitigkeit. Drei Jahrzehnte können den Menschen tüchtig umtreiben."
"Das lässt vermuten, dass wir ein langes Garn spinnen werden", sagte der Ingenieur. "Ich schlage vor, dass wir uns zu dieser Arbeit durch einen guten Tropfen stärken, und dann gehört es sich auch, dass Wiedersehen gebührend zu feiern. Ich bin sonst kein Freund des Alkohols, aber bei einer solchen Gelegenheit mache ich eine Ausnahme."
Der Wein kam, und hell erklangen die Gläser.
"Wer beginnt?" fragte Friedmar.
"Das Alter hat auch hier den Vorrang."
Friedmar lehnte sich bequem in den Sessel und begann: "Die erste Zeit meiner seelsorgerischen Tätigkeit ist dir wohl noch bekannt, glaube ich, da wir damals noch Briefe wechselten. Sie brachte mir nichts besonderes, aber alle die Erfahrungen, die der junge Theologe macht, wenn er vom hoffnungsgrünen Baum der Theorie hinabsteigt ins graue Leben, wo der Menschheit ganzer Jammer ihn anfällt. Mephisto hat ganz recht mit seinem Spruch. So vergingen einige Jahre. Ich wechselte mehrmals die Stelle und kam dann an einen Ort, einem Mittelding zwischen Dorf und Stadt, wo in mein Leben das Ereignis trat, das mich aus meiner Bahn warf."
"Geheiratet?" fragte Erna.
Friedmar lächelte. "Nein, noch nicht, aber später. Im Leben des Weibes ist die Heirat meist das grosse Ereignis, aber der Mann hat grössere Auswahl. Das Schicksal trat mir entgegen in der Gestalt eines Lehrers, der mir allerlei verfängliche Fragen stellte, Fragen, welchen die grosse Mehrzahl meiner früheren Amtsbrüder gern ausweicht, denen ich aber nicht ausweichen konnte und auch nicht ausweichen mochte. Ihr wisst vielleicht, dass zu jener Zeit der Geistliche die Aufsicht führte über den Religionsunterricht in der Schule, in dieser Hinsicht also gewissermassen der Vorgesetzte des Lehrers war. Dies Verhältnis war von je her unerquicklich. Wenn beide Teile den Frieden wünschten, fünf gerade sein liessen, gab es keinen Streit, und das Verhältnis war erträglich. Aber oft entstanden Spannungen und Reibungen, weil der eine oder andere Teil zu sehr auf seiner Ansicht bestand oder den nötigen Takt vermissen liess, und die Folge war Unfriede, Groll und Hader. Wer am meisten darunter litt und wer die grösste Schuld trug, will ich nicht untersuchen, ich beschränke mich auf mein Erlebnis. Hauptlehrer Hartogg war ein angenehmer Mann von vornehmer Gesinnung und verbindlichen Umgangsformen, ein Hüne von Gestalt, mit dem Herzen eines Kindes, dabei von nicht gewöhnlicher philosophischer Bildung. Er war noch nicht lange am Orte, als ich kam, vielleicht ein Jahr, hatte sich aber schon beliebt gemacht und Ansehen erworben durch sein freundliches, gediegenes Wesen, vielleicht mehr noch dadurch, dass er einige vom Arzte aufgegebene Kranke wieder herstellte durch heilmagnetische Behandlung. Da er für seine Hilfe kein Geld nahm, im Gegenteil bedürftige Kranke auch noch materiell unterstützte, so wuchs seine Beliebtheit immer mehr, zumal er die seltene Gabe besass, sich in die Seelen der Menschen einzufühlen und mit jedem auf seine Art zu verkehren. Gegen diesen Mann hatte ich einen schweren Stand. In der ersten Zeit verkehrten wir förmlich und korrekt. Hartogg war ein Jahrzehnt älter als ich, er war sich seiner Würde und Wertes bewusst und glaubte keinen Grund zu haben aus seiner Zurückhaltung herauszutreten, und ich als Pfarrer und Respektsperson glaubte ebenfalls zurückhalten zu müssen. Wir hatten keine Abneigung gegen einander, im Gegenteil, wir waren uns eher sympathisch, und doch stand etwas zwischen uns, das die Annäherung verhinderte. Vielleicht hätte dieser Zustand noch lange angedauert, wenn ich nicht sozusagen amtlich gegen Hartogg hätte vergehen müssen. Hartogg gab auch Religionsunterricht, und die Ansichten, welche die Kinder von ihm hörten, widersprach so sehr den Kirchenlehren, dass ich mich genötigt sah, mit ihm darüber zu sprechen. Er hörte mich ruhig an und fragte mich dann, ob ich die wunderliche Arithmetik, dass drei mal eins nur eins sei, für richtig halte und ob ich die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen fest glaube. Auf diese Fragen war ich nicht vorbereitet und als ich nicht sofort antwortete, fragte er weiter, ob ich die ewige Hölle mit der Liebe eines gütigen und gerechten Gottes in Einklang bringen könne.
Meine Lage war nicht angenehm. Einen Augenblick fühlte ich mich versucht, die Unterhaltung schroff abzubrechen, dann aber kam die Überlegung, dass man Fragen wie diese durch Schweigen nicht beantworten könne. Und Zweifel, die ich mühsam unterdrückt hatte, wurden wieder lebendig. In dieser Verlegenheit kam Hartogg mir zu Hilfe. Er sagte, dass diese Probleme auch ihm schwer zu schaffen gemacht hätten, dass er aber glaubte, mir eine annehmbare Lösung bieten zu können, wenn ich ihm gestatten wolle, mir ausserdienstlich seine Meinung mitzuteilen. Ich konnte seine Bitte nicht abschlagen und willigte ein. Die nun folgende Unterredung wurde der Wendepunkt meines Lebens."
Friedmar schwieg nachdenklich.
"War es nicht eine bedenkliche Sache, dich einzulassen in einen Streit über Dogmen, die du nicht ändern konntest?"
"Ich sah wohl, dass am Dogma nicht zu rütteln sei, ich sah aber auch, dass Hartogg als Mitglied der Gemeinde das Recht hatte, seine Zweifel zu äussern und Klarheit und Belehrung von mir zu fordern. Ich konnte also nicht ausweichen, ohne in ihm die Meinung aufkommen zu lassen, dass ich meiner Sache nicht gewiss sei und seine Kritik zu fürchten habe. Meine Autorität stand auf dem Spiele. Wie ich den Fall auch betrachten mochte, die Lage war unbehaglich, und mit einiger Unruhe erwartete ich den Besuch, zugleich aber war ich auch gespannt, welche Lösung er mir anbieten würde. Die Unterhaltung verlief anders, als ich befürchtet hatte. Ich bemerkte bald, dass Hartogg, was ich damals noch nicht wusste, ein vornehmer Mensch und ein Philosoph war. Er begründete seine Ansicht so vortrefflich, dass ich dagegen nichts Wesentliches sagen konnte. Die Vernunftgründe waren auf seiner Seite, auch in der Theologie war er nicht unbewandert und in der Dialektik war er mir ebenbürtig. Ich erlitt also eine Niederlage, und sie wäre empfindlich gewesen, wenn Hartogg mit seinem Takt nicht alles vermieden hätte, sie mir sehr fühlbar zu machen. Wir schieden als Männer, die sich schätzen und achten trotz verschiedener Ansichten. Und diese Achtung wurde später zu herzlicher Freundschaft."
"Und die Lösung des Problems?"
"War etwas ungewöhnlich. Hartogg meinte, die heutige Theologie, und besonders die protestantische, habe das Verständnis verloren für Erscheinungen, die früher als unzweifelhafte Tatsachen galten, heute aber umstritten sind und in der Theologie keinen rechten Platz mehr finden, nämlich das Wunder. Er erbot sich, mir das Wunder verständlich zu machen. Das rechte Verständnis der Wunder erleichtere auch das rechte Verständnis der zu Dogmen erstarrten Lehren, und wie immer ich mich entscheiden möge, ich würde Klarheit gewinnen. Das war ein lockendes Versprechen, denn das Wunder, einst eine Stütze der Kirchenlehre, ist heute zum Hindernis geworden, seitdem die Naturwissenschaft die Weltanschauung geändert und das kritische Denken geschärft hat. In der römischen Kirche steht das Wunder noch unangetastet da und ist noch ein wichtiger Bestandteil des Systems, die liberale protestantische Theologie empfindet das Wunder als lästig, man betrachtet es als überwundenen Standpunkt. Das Volk freilich erfährt nichts oder nur wenig von dem zähen, stillen Kampfe der liberalen und orthodoxen Richtung der führenden Theologen, der Geistliche aber muss ihn für sich auskämpfen, und dieser Kampf endet nur zu oft mit einem unschönen Kompromiss zwischen Vernunft und Amt."
"Gelang dem Freund das Kunststück, das gesetzlose Wunder mit dem Naturgesetz in Einklang zu bringen?" fragte Hallerstede.
"Es gelang. Aber das ist eine lange Geschichte, und ich glaube nicht, dass Ihr so viel Geduld haben werdet, sie anzuhören."
"Ich möchte jetzt lieber wissen, wie die Sache ausging", meinte Erna, "sie ist doch noch nicht zu Ende?"
"Nein, sie fing erst an. Aber sehr aufregend ist sie nicht. Ich will mich also nicht aufhalten bei theoretischen Erklärungen und will nur den Hergang erzählen. Hartogg brachte mir Bücher, die mir die verborgenen Kräfte der Natur zeigten und mich bekannt machten mit Erscheinungen, die den biblischen Wundern im Wesen gleichen und sich nur dem Grade nach von ihnen unterscheiden. Es waren die Werke des C. du Prel (Fussnote 1), die das weite, schwierige Gebiet der sogenannten Geheimwissenschaften mit musterhafter Klarheit behandeln und mir eine ganz neue Welt erschlossen, eine Welt, in der auch Platz ist für Wunder. Ich sah, dass das Wunder nicht in Widerspruch steht mit den Naturgesetzen, sondern dass es nach den Gesetzen einer anderen, der geistigen Welt geschieht, und diese geistige Welt ist der materiellen Welt übergeordnet. Ich lernte sozusagen das Prinzip der Wunder verstehen, und wenn mir auch noch nicht alles klar war und noch manches Rätsel ungelöst blieb, so brauchte ich doch das Wunder nicht mehr nur zu glauben; ich durfte hoffen, auf diesem Wege seinem vollen Verständnis noch näher zu kommen. Noch mehr. Das sagenhafte Jenseits, das den liberalen Theologen zu einem leeren Wort geworden war, das Jenseits, das die orthodoxen Theologen zwar behaupten, aber nicht beweisen konnten: hier erschien es mir als natürliche Sache, an welcher nur das eine wunderlich war, dass man diese einfache Lösung eines grossen Problems nicht schon längst gefunden hatte."
"Dann wundert mich", sagte Hallerstede, "dass die Theologen von diesen wertvollen Werken anscheinend nichts wissen. Wenn das Jenseits so leicht beweisbar ist, könnten die Theologen doch nichts besseres tun, als sich dieser Beweise zu bedienen, um den wankenden Glauben zu stützen."
"Gar nicht wunderlich für den, der da weiss, dass die Theologie in erster Linie ein Amt, ein Geschäft ist. Jedes Amt hat seine Ehre, seinen Stolz, und der Stolz des Gelehrten besteht in seiner Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit und in dem Bestreben und dem Schein, recht zu haben, nicht zu irren. Man ist der gelehrte Herr, hat Ehren und Titel und Würden, und da versteht es sich von selbst, dass man auch im Besitz der Wahrheit ist. Die Wissenschaftlichkeit ist die empfindliche Stelle des Gelehrten, die man nicht unsanft berühren darf, am besten gar nicht berührt, wenn man den Frieden liebt. Den Beweis des Jenseits würde man sich ja gern gefallen lassen, aber damit ist die Sache nicht abgetan; der Beweis hat ernste Folgerungen, die man scheut. Aber ich will nicht vorgreifen. Ich studierte eifrig. Hartogg, der meinen Eifer bemerkte, sagte, dass er mir keine Schwierigkeiten machen und das Dogma in Ruhe lassen wolle. Wenn ich Klarheit gewonnen habe, möge der Kampf beginnen, wenn ich ihn dann noch wünschen sollte. Der Kampf kam, aber wir kämpften nicht gegeneinander. Als ich die Fragen des Wunders und der Unsterblichkeit der Seele von der philosophischen und naturwissenschaftlichen Seite untersucht und festen Grund gefunden hatte, wandte ich mich der religiösen Seite derselben zu, wobei wieder Hartogg mir behilflich war, indem er mir wertvolle Literatur gab. Ich las die Werke von Allan Kardec,(Fussnote 2) die mir das Christentum in ganz neuem Lichte zeigten, nämlich im Lichte der wiederholten Einverleibungen des Geistes, Seelenwanderung nennt man sie mit einem schlechten, irreführenden Wort. Ich war entzückt von der Klarheit und Wahrheit dieser Lehre, die mit den Dogmen der Kirche zwar nicht übereinstimmt, mit dem Wesen des Christentums sich aber recht wohl vereinigen lässt. Später erfuhr ich, dass Kardec's Lehren noch nicht das höchste waren, dass es noch Besseres gab, aber mir waren sie eine Erlösung von Zweifel und Dogma; ich schätze sie auch heute noch sehr und empfehle sie allen, die vom Christentum und der Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit Gottes einen reineren Begriff haben möchten, als die dogmatischen Kirchen ihnen geben können. Es berührte mich angenehm, dass eins dieser Bücher von einem evangelischen Pfarrer a.D. übersetzt und mit einer Einleitung versehen worden war. So stand ich doch nicht allein auf weiter Flur. Die Entscheidung rückte näher. Ich sah mich vor die Wahl gestellt, der Stimme der Vernunft und des Gewissens zu folgen und die neue Wahrheit zu verkündigen oder aus Menschenfurcht, Bequemlichkeit und Sorge ums Brot im alten Gleise zu bleiben, gegen die bessere Erkenntnis zu handeln und dadurch jene Sünde zu tun, die nicht vergeben werden kann. Glücklicherweise war ich noch nicht durch Weib und Kind ans Amt gebunden, besass auch noch ein bescheidenes Vermögen, und so fiel mir die Wahl nicht schwer. Ich lehrte das Christentum, wie ich es erkannt hatte und der Geist mir eingab. Da ich mich nicht an weltfremde, beschränkte Dogmen hielt und eine viel reichere Lebens- und Weltanschauung besass, als man sie sonst von den Kanzeln zu vernehmen pflegt, so erregten meine Predigten Aufsehen auch über die Grenzen des Ortes hinaus - "
"denn er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten", bemerkte Erna schalkhaft.
"Ungefähr so, und ich erlangte einen mässigen Ruhm, der nicht ohne Reiz für mich war. Aber ich wusste wohl, dass meine selbstgenommene Freiheit nicht lange dauern würde. Die Kirchenbehörde erfuhr bald, dass da ein Hirte seine Schafe auf verbotene Weide führte; es kamen Anfragen, Ermahnungen, Warnungen, und als ich darauf nicht in der gewünschten Weise reagierte, wurde ich meines Amtes entsetzt. Ich war frei. Erst verdross mich die Engherzigkeit der Kirchenbehörde, bald aber hatte ich Grund, Gott zu danken, dass ich von diesem engen, unwahren Christentum befreit worden war. Das war ein Gewinn. Und ich hatte gesehen, was ein freier Pfarrer seiner Gemeinde sein kann, und ich sehe heute immer mehr, wie sehr das Dogma den Pfarrer behindert."
"Und Hartogg, der das Unheil angerichtet hatte, was wurde mit ihm?"
"Er blieb noch einige Zeit im Amte, zum Verdruss meines Nachfolgers, dem er durch ketzerische Äusserungen das Leben schwer machte. Da er sich nichts zu Schulden kommen liess und in der Gemeinde sehr beliebt war, konnte man ihm nichts anhaben, und mein Nachfolger hatte Mühe, das beschädigte Dogma wieder auszubessern. In Hartogg fand er einen überlegenen Gegner, der, in der Bibel und Theologie gleichermassen bewandert, dem hochwürdigen Herrn im Geisteskampf keine Antwort schuldig blieb. Aber er war nicht der Mann, der sich in diesen engen Verhältnissen dauernd wohl fühlen konnte. Er betrachtete sein Amt nur als Mittel zur Vorbereitung auf einen anderen Beruf, den er für seinen wahren Beruf hielt. Er legte sein Amt nieder, wurde Heilmagnetiseur und homöopathischer Arzt und erzielte glänzende Erfolge, was ihm den Neid und Hass der orthodoxen Ärzte eintrug, die ebenso von der Krankheit der Menschen leben, wie die Theologen von ihrer Unwissenheit und die Juristen von ihrer Schlechtigkeit."
"Habt Ihr nie bereut, diesen Schritt getan zu haben?", fragte Erna. "In der Ruhe des reifen Alters sieht manches anders aus als in der Begeisterung der Jugend."
"Ich habe es nicht bereut, im Gegenteil, später habe ich immer mehr gesehen, dass ich recht gehandelt. Ich bin sogar meinen Kollegen dankbar, dass sie mir das Amt nahmen, denn nun konnte ich in Freiheit forschen und wirken und hatte Gelegenheit, Erkenntnisse zu sammeln, die ich als Pfarrer wahrscheinlich nicht erworben hätte, weil dann eben die Umstände nicht in dieser Richtung gewirkt haben würde. Aber betrübt hat es mich damals, dass von dem Geiste Luthers, der sich gegen das Dogma auflehnte und mannhaft sagte, "hier stehe ich, ich kann nicht anders", dass von diesem protestierenden Geiste im heutigen Protestantismus kein Hauch mehr zu spüren ist. Die Folgen dieser Untreue gegen den Geist der Wahrheit werden nicht ausbleiben. Ich war also frei, und nun galt es, eine neue Existenz zu gründen. Zunächst machte ich meinen philosophischen Doktor, dann war ich Redakteur, dann Privatsekretär bei einem Grossindustriellen und zuletzt Hauslehrer bei einem österreichischen Grafen. Dass ich den Mut gehabt, den orthodoxen Theologen zu trotzen, erwarb mir die Achtung redlicher Männer, ich fand überall Wohlwollen und Hilfe, und so erlitt ich auch materiell keinen Schaden durch den Verlust des Amtes. Die Stellung als Hauslehrer hatte ich mir nur als Übergang gedacht, ich wollte das Leben von verschiedenen Seiten und in mancherlei Kreisen kennen lernen, aber nun erlebte ich das andere grosse Ereignis. Ich fand sie, die von Ewigkeit her zu mir gehörte. Baronesse Elsa war eine Verwandte des Grafen, eine jener edlen, reichen Frauennaturen, denen die Welt nicht viel geben kann. Sie hatte alle Bewerber abgewiesen, da sie eine bloss standesgemässe Ehe ohne Liebe nicht eingehen wollte. Die Verwandten dachten schon, dass sie unvermählt bleiben würde, und die Kirche begann schon Fäden zu spinnen, um das Vermögen zu erschleichen - im Nehmen war sie immer gross -, da bewirkte die Verlobung mit mir unliebsames Aufsehen. Elsa liess sich nicht beirren, sie war finanziell unabhängig und geistig selbständig genug, ihren Willen durchzusetzen. Der Graf war so vernünftig, ihre Partei zu ergreifen, und der Sturm im Wasserglas legte sich bald. Nur die Kirche verzieh nicht; sie drohte mit Ausstossung und verwirklichte ihre Drohung, als wir uns in Deutschland bürgerlich trauen liessen. Wir sind auch ohne den Segen der Kirche glücklich, sehr glücklich geworden, unsere Ehe war im Himmel geschlossen schon vor Ewigkeiten, und kein Priester vermochte was daran zu ändern. So war ich auch materiell unabhängig geworden, nicht sehr reich, aber genügend für ein sorgenfreies Leben. Wir lebten in Wien und Budapest, bereicherten dort unsere Lebensanschauung um seltene, köstliche Erkenntnisse, machten auch einige Reisen und lebten dann, infolge eines Wahrtraumes meiner Frau, in der Schweiz, wo wir uns naturalisieren liessen. Im letzten Kriegsjahr ist meine Frau gestorben an der Grippe. Ihre Aufgabe auf der Erde war vollendet."
"So haben die Schrecken des Krieges euch nicht getroffen?"
"Wir waren im sicheren Hafen und sahen das grausige Drama menschlichen Aberwitzes an uns vorüber gehen. Materiell blieben wir verschont, aber geistig haben wir mit unserem Volke gefühlt und gelitten, und geholfen haben wir, wo wir konnten, wie sich das von selbst versteht. Nun kennt ihr mein Leben in seinen Umrissen. Es war äusserlich nicht auffällig, wohl aber reich an innerem Erleben."
"Und deine Lebensanschauung, hat sie standgehalten vor den Greueln des Krieges und den fast noch schlimmeren Greueln des sogenannten Friedens? Hast du nicht den Glauben verloren an einen gütigen Gott und an eine ausgleichende Gerechtigkeit?"
"Meine Lebensanschauung hat standgehalten, und den Glauben an Gott und die Gerechtigkeit habe ich nicht verloren."
"Du sprichst ein grosses Wort gelassen aus", sagte Hallerstede. "Diese Lebensanschauung muss allerdings ungewöhnlicher Art sein, wenn sie solche Belastungsproben aushält. Ich bin total gescheitert in diesem Glauben und kann keine Ordnung in dies Chaos bringen, da verstehst du, dass ich deine Anschauung kennen lernen möchte. Ich habe die Weisen an den hohen Schulen gefragt. Einige sahen mich verlegen an und stotterten allgemeine Phrasen; andere kamen mit ausführlichen Theorien, die gelehrt und tiefsinnig schienen, aber den Kern des Problems gar nicht berührten. Wieder andere sprachen von Gottes unerforschlichem Ratschluss, bei dem man sich beruhigen müsse. Einfache, bescheidene Gemüter mögen sich damit abfinden können, mir genügt es nicht und ich möchte bessere Auskunft haben. Vor einiger Zeit war ich in einer Freidenkerversammlung. Der Redner sprach über "Naturkatastrophen und Gottesglaube" und berichtete einen packenden Fall aus dem Leben. Bei einem Ausbruch des Vesuv hatten die Bewohner eines Dorfes am Fusse des Berges sich in die Kirche geflüchtet und flehten zu Gott, er möge das Unglück von ihrem Dorf abwenden. Unterdessen kam die glühende Lava rasch näher, umschloss die Kirche, und alle Beter fanden den Tod in der Glut. Wo war da der gerechte, liebende Vater, rief der Redner, dass er seine Kinder, die ihn gläubig um Hilfe anriefen, so elend umkommen liess? Und er folgerte aus diesen und anderen Tatsachen, dass es einen gerechten, gütigen und weisen Gott und Vater nicht gebe. Wie die Theologen sich mit diesem Fall abfinden, weiss ich nicht, jedenfalls dürfte es ihnen schwer werden, ihn befriedigend zu erklären und ihn mit der Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit Gottes in Einklang zu bringen. So ist's mit all dem unermesslichen Leid, das die Menschen drückt. Warum? Wozu?"
"Mein Mann ist seit dem Kriege oft in einer so verbitterten, trüben Stimmung, dass es mich beunruhigt und ich fast eine Gemütskrankheit befürchte. Der Tod unserer beiden Söhne hat ihn fast umgeworfen. Wir hoffen nun viel Gutes von der Seefahrt und der heiteren Natur, die wir sehen werden und worauf wir uns sehr freuen."
"Ja, der Tod unserer beiden Jungen, die im Felde fielen, das ist wieder so ein Unsinn in der Weltordnung, der aller vernünftigen Erklärung spottet. Da hat die Natur blühende, vielversprechende Wesen hervorgebracht, und gerade als sie sich zu entfalten beginnen, da sinken sie ins Grab. Einerseits sehe ich im Bau eines Menschenkörpers eine unfassbar hohe Intelligenz wirksam, andererseits sehe ich das Werk dieser Intelligenz vernichtet durch den blödesten Unverstand. Wozu also der Aufwand von Kraft und Intelligenz, wenn doch alles seinen Zweck hat, wenn vom Bettler, Weisen und König am Ende doch nur ein Häufchen Asche übrig bleibt? Hat die Welt, hat unser Dasein überhaupt einen Zweck? Zweck! Ein schlimmes Wort, geeignet, dem Menschen das Leben zu verbittern. Das Tier kennt keinen Zweck und ist glücklich; der Mensch, ein Zweckwesen, ist unglücklich, wenn er für sein Dasein keinen Zweck sieht. Einige meinen, Lust sei der Zweck des Daseins, und so suchen sie die Lust mit allen Mitteln zu erjagen, aber sie sehen nicht aus, als ob die Lustjagd besonders lustig und ergiebig für sie sei, und das Ende der Jagd ist oft recht bitter. Diese Lebensphilosophie kann also nicht stimmen. Überhaupt scheint die Philosophie unfähig zu sein, das Lebensrätsel zu lösen. Die Philosophen, die berufenen Löser der Lebensrätsel, wie man meinen sollte, sind sich durchaus nicht einig, einer widerspricht dem anderen, und am Ende weiss keiner was rechtes. David Hume hat in seinem Werk "Dialoge über natürliche Religion" verschiedene Ansichten einander gegenübergestellt, aber man hört nur Worte und Ansichten ohne positives Ergebnis und ist nachher so klug wie zuvor. Leibnitz behauptet, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, Schopenhauer aber meint, sie könne nicht schlechter sein als sie ist, ohne ihren Bestand zu gefährden. Wie denkst du darüber?"
"Ob wir in der besten oder schlechtesten aller möglichen Welten leben, weiss ich nicht, wohl aber in einer Welt, wie wir sie brauchen."
"Mit allem Leid und allem Unsinn? Mit allen Fragen und Problemen, worauf wir keine Antwort haben?"
"Mit all' dem!"
"Du scheinst mit der Welt zufrieden zu sein?"
"Die Zufriedenheit wächst in dem Masse als man Ordnung und Zweck der Welt erkennt. Dabei kann man persönlich doch noch allerlei zu wünschen haben. Aber das Leid verliert seinen schlimmsten Stachel, wenn man die Weltordnung als gerecht erkennt."
"Könnt ihr nicht auch meinem Manne zu solcher Zufriedenheit verhelfen, wie Ihr, lieber Freund, sie zu besitzen scheint? Und auch uns Frauen könnte es nützen, über Dinge belehrt zu werden, die doch jeden Menschen angehen. Mein Mann steckt uns an mit seinem ewigen Zweifeln und Grübeln, wir verlieren den Boden unter den Füssen, wenn wir nicht bald neuen, festen Grund finden."
"Was ich vermag, will ich gern tun, vorausgesetzt, dass der Freund selber einverstanden ist."
"Das bedarf keiner besonderen Versicherung", sagte Hallerstede. "Schon als Studenten haben wir uns unterhalten über Fragen der Weltanschauung, wie ich mich entsinne, und zwar ziemlich ernsthaft. Freilich waren es nur akademische Betrachtungen, wie man so sagt, um anzuzeigen, dass man eben nur Worte gemacht hat, die keine praktische Bedeutung haben. Wir hatten beide das Leben noch nicht kennen gelernt und bewegten uns nur im Theoretischen. Nun hat das Leben uns gepackt und uns vor Probleme gestellt, die wir lösen müssen, jeder auf seine Art. Du scheinst deine Aufgabe gelöst zu haben, vielleicht nur für dich persönlich und in einer Art, die einem anderen nicht zusagen möchte. Ich bin leider nicht fertig damit, hatte allerdings auch nicht so die Zeit und die Gelegenheit wie du. Die Arbeit eines Ingenieurs in leitender Stellung ist so anstrengend, dass man keine Zeit hat für Dinge, die nicht unmittelbar den Beruf angehen; bestenfalls kann man sich nur so nebenbei damit beschäftigen."
"Du erinnerst mich daran, dass ich noch nicht weiss, wie dein Leben verlaufen ist."
"Da ist nicht viel zu berichten. Ich machte die Laufbahn eines Ingenieurs, reiste viel für die Firma, und hatte insofern mehr Erfolg als viele meiner Kollegen, dass ich jetzt Mitinhaber der Firma bin. Vielleicht beneidet man mich darum, aber der Erfolg musste durch harte Arbeit errungen werden, und nun er da ist, stehe ich vor der Frage: wozu die Mühe, da doch alles zwecklos scheint? Zwangvolle Plage, Müh' ohne Zweck, könnte ich mit Mime sagen. Gewiss, ich habe für Frau und Kind zu sorgen, aber wie wäre es, wenn ich sie verlöre oder wenn ich ledig geblieben wäre? Vielleicht würde ich das Leben bei einer anständigen Gelegenheit wegwerfen, dann wäre eine Sinnlosigkeit weniger in der Welt."
Erna sah ihn betroffen an. "Spielst du schon mit diesem Gedanken?"
"Beruhige dich, ich spiele nicht mit ihm. Aber wenn das Leben nicht mehr lebenswert ist, wenn das Leid überwiegt wie so oft, wenn mit dem Tode alles aus ist, wie gesagt wird, dann hat das Leben ja keinen Zweck, dann drängt sich von selbst der Gedanke auf, ob es nicht vernünftiger sei, dem Dasein ein Ende zu machen als es sinnlos, zwecklos fortzuleben. Da scheint mir der Freitod die endgültige und einzig vernünftige Lösung aller Probleme zu sein. Einige sagen, man solle für das Ganze leben. Aber was geht das Ganze mich an, wenn ich nicht mehr bin? Kann mir doch sehr gleichgültig sein. Wozu bin ich in die Welt gekommen? Man hat mich nicht gefragt, ob ich dies Leben wünsche. Was nützt ein Krüppel, ein Idiot der Gesellschaft? Liegt ihr ja nur zur Last und ist sich und anderen eine Plage. Hat nicht dieser Krüppel, dieser Idiot das gleiche Recht auf Glück? Überhaupt diese ungleiche Verteilung der Gaben unter den Menschen, wenn sie alle angeblich Kinder Gottes sind! Diese und andere bittere Gedanken drängen sich auf, wenn man Sinn und Zweck des Lebens nicht kennt. Vom freiwilligen Tode habe ich bisher nicht gesprochen, um euch nicht zu beunruhigen, aber nachdem wir uns auf dies dunkle Gebiet begeben haben, stelle ich solche Fragen, und ich bin gespannt, ob Friedmar diese Nüsse knacken kann, ob er eine annehmbare Lösung zu geben vermag."
"Versuchen will ich es. Für mich sind diese Fragen und Probleme gelöst, ob aber meine Lösung auch euch gefällt, ist eine andere Frage und hängt davon ab, welchen Wert, welche Kraft ihr meinen Gründen und Beweisen beilegt [beimesst: Anm.d.Erf.]. Man kann nicht allen Menschen alles beweisen und begründen. Wer auf eine bestimmte Geistesrichtung eingestellt ist, wer sich nicht frei machen kann von Vorurteilen und fremden Meinungen, wer nicht logisch zu denken vermag, wer gar Ehre, Amt und materielle Vorteile von gewissen Anschauungen hat, an dem pflegen Gründe und Beweise abzuprallen. Er kann nicht begreifen oder er will nicht begreifen, da ist alle Belehrung nutzlos. Wer nicht kann, ist entschuldigt durch sein Unvermögen; schlimmer ist es, wenn jemand nicht will, wenn er Schaden an Amt, Ehre oder Vermögen befürchtet. Dieses Sich-verschliessen gegen die Wahrheit ist sehr häufig. Schiller hat es vortrefflich gezeichnet in der Vorlesung, womit er sein Amt als Professor der Geschichte in Jena begann. Schillers Urteil über die Brotgelehrten ist wenig bekannt. Kennt ihr es?"
"Nein. Man liest Schillers Gedichte und Dramen, aber seine Prosaschriften zu lesen, hat man weder Zeit noch Lust."
"Vielleicht finde ich Schillers Werke in der Schiffsbibliothek, dann will ich euch seinen erquickenden Vortrag nicht vorenthalten. Er ist nicht lang, und geschrieben mit dem hinreissenden Schwung dieses Dichters."
"Ich gehe, sie zu holen", sagte Mechthildis, "ich kann mir nicht denken, dass Schiller in der Schiffsbibliothek fehlen sollte."
"Das neue Deutschland kennt und liebt Schiller nicht so, wie er es verdient", meinte Friedmar. "Form und Inhalt seiner Werke gefallen nicht mehr und gelten als veraltet. Aber mir scheint, dass seine Verächter ihn überhaupt nicht verstehen. 'Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstossen und es klingt hohl: muss da die Schuld immer an dem Buch liegen?' fragte der witzige Lichtenberg. Schiller ist nicht veraltet, sondern unsere Zeit ist flach und hohl geworden."
"Richtig", stimmte Hallerstede zu. "Aber man kann diese Flachheit und Hohlheit dem Einzelnen nicht sehr zum Vorwurf machen. Der Kampf ums Dasein spannt den Menschen so an, dass er kaum noch Zeit findet zur Pflege des Schönen und Grossen, wie Schiller es verkündete. Ich denke, dass diese Zeit mit ihrer Hast und Flachheit und Genussucht nur ein Übergang ist zu einer edleren Kultur, wo die Maschine nicht mehr den Menschen, sondern er sie beherrscht. Diese Hoffnung auf eine bessere Zeit gibt mir Trost in dem Unsinn der Gegenwart."
Mechthildis kam zurück und überreichte Friedmar den gewünschten Band, und Friedmar las:
"Anders ist der Studierplan, den sich der Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorgezeichnet. Jener, dem es bei seinem Fleiss einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann, der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen finanziellen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen: ein solcher wird beim Eintritt in eine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen letzteren widmete, würde er seinem künftigen Berufe zu entziehen glauben und sich diesen Raub nie vergeben. Seinen ganzen Fleiss wird er nach den Forderungen einrichten, die von dem künftigen Herrn seines Schicksals an ihn gemacht werden, und alles getan zu haben glauben, wenn er sich fähig gemacht hat, diese Instanz nicht zu fürchten. Hat er seinen Kurs durchlaufen und das Ziel seiner Wünsche erreicht, so entlässt er seine Führerinnen - denn wozu noch weiter sie bemühen? Seine grösste Angelegenheit ist jetzt, die zusammengehäuften Gedächtnisschätze zur Schau zu tragen und zu verhüten, dass sie in ihrem Werte sinken; jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusendet oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über die Reformatoren mehr geschrieen als der Haufe der Brotgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf als eben diese? Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehilfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotgelehrte. Je weniger seine Kenntnisse durch sich selbst ihn belohnen, desto grössere Vergeltung heischt er von aussen; für das Verdienst der Handarbeiter und das Verdienst der Geister hat er nur einen Massstab, die Mühe. Darum hört man niemand über den Undank mehr klagen als den Brotgelehrten; nicht bei seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlägt ihm dieses fehl: wer ist unglücklicher als der Brotgelehrte. Er hat umsonst gelebt, gewacht, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.
"Beklagenswerter Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst nichts Höheres will und ausrichtet als der Taglöhner mit dem schlechtesten; der im Reiche der vollkommenen Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt. - Noch beklagenswerter aber ist der junge Mann von Genie, dessen natürlich schöner Gang durch schädliche Lehren und Muster auf diesen traurigen Abweg gelenkt wird, der sich überreden liess, für seinen künftigen Beruf mit dieser kümmerlichen Genauigkeit zu sammeln. Bald wird seine Berufswissenschaft als ein Stückwerk ihn anekeln; Wünsche werden in ihm aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein Genie wird sich gegen seine Bestimmung auflehnen. Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles, was er tut; er sieht keinen Zweck seines Wirkens, und doch kann er Zwecklosigkeit nicht ertragen. Das Mühselige, das Geringfügige in seinen Berufsgeschäften drückt ihn zu Boden, weil er ihm den frohen Mut nicht entgegensetzen kann, der nur die helle Einsicht, nur die geahnte Vollendung begleitet. Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das grosse Ganze der Welt anzuschliessen. Dem Rechtsgelehrten entleidet seine Rechtswissenschaft, sobald der Schimmer besserer Kultur ihre Blösse ihm beleuchtet, anstatt dass er jetzt streben sollte, ein neuer Schöpfer derselben zu sein und den entdeckten Mangel aus innerer Fülle zu verbessern. Der Arzt entzweit sich mit seinem Beruf, sobald wichtige Fehlschläge ihm die Unzuverlässigkeit seiner Systeme zeigen; der Theologe verliert die Achtung für den seinigen, sobald sein Glaube an die Unfehlbarkeit seines Lehrgebäudes wankt.
"Wie ganz anders verhält sich der philosophische Kopf; ebenso sorgfältig als der Brotgelehrte seine Wissenschaft von allen übrigen absondert, bestrebt sich jener, ihr Gebiet zu erweitern und ihren Bund mit den übrigen wieder herzustellen - herzustellen, sage ich, denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften von einander geschieden. Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Früh hat er sich überzeugt, dass im Gebiete des Verstandes wie in der Sinnenwelt alles ineinandergreife, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet; seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick überschaut. Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den Brotgelehrten niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, ein neu entdecktes Gesetz in der Körperwelt den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt, als sein System, und gern wird er die alte mangelhafte Form mit einer neueren und schöneren vertauschen. Ja, wenn kein Streich von aussen sein Ideengebäude erschüttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der erste, der es unbefriedigt auseinanderlegt, um es vollkommener wiederherzustellen. Durch immer neue und immer schönere Gedankenformen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortrefflichkeit fort, wenn der Brotgelehrte in ewigem Geistesstillstand das unfruchtbare Einerlei seiner Schulbegriffe hütet.
"Kein gerechterer Beurteiler fremden Verdienstes als der philosophische Kopf. Scharfsinnig und erfinderisch genug, um jede Tätigkeit zu nutzen, ist er auch billig genug, den Urheber auch der kleinsten zu ehren. Für ihn arbeiten alle Köpfe, - alle Köpfe arbeiten gegen den Brotgelehrten. Jener weiss alles, was um ihn geschieht und gedacht wird, in sein Eigentum zu verwandeln, - zwischen denkenden Köpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes; was einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er allen erworben. Der Brotgelehrte verzäunt sich gegen alle seine Nachbarn, denen er neidisch Licht und Sonne missgönnt, und bewacht mit Sorge die baufällige Schranke, die ihn nur schwach gegen die siegende Vernunft verteidigt. Zu allem, was der Brotgelehrte unternimmt, muss er Reiz und Aufmunterung von aussen her borgen; der philosophische Geist findet in seinem Gegenstand, in seinem Fleisse selbst Reiz und Belohnung. Wie viel begeisterter kann er sein Werk angreifen, wieviel lebendiger wird sein Eifer, wieviel ausdauernder sein Mut und seine Tätigkeit sein, da bei ihm sich die Arbeit durch die Arbeit verjüngt. Das Kleine selbst gewinnt Grösse unter seiner schöpferischen Hand, da er dabei immer das Grosse im Auge hat, dem es dient, wenn der Brotgelehrte in dem Grossen selbst nur das Kleine sieht. Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, gehandelt, unterscheidet den philosophischen Geist. Wo er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt des Ganzen; und so weit ihn auch das Objekt seines Wirkens von seinen übrigen Brüdern entferne, er ist ihnen verwandt und nahe durch einen harmonisch wirkenden Verstand; er begegnet ihnen, wo alle hellen Köpfe einander finden."
Hallerstede nickte zustimmend. "Vortrefflich! Ganz vortrefflich! Sollte mehr bekannt sein. Gilt heute noch ebenso, wie es damals galt. Ist besonders für die Theologen gesprochen, die mit Sorge die baufällige Schranke bewachen, die das Dogmengebäude nur schwach gegen die siegende Vernunft verteidigt. Man versteht gewisse Erscheinungen im Geistesleben besser, wenn man ihre geheime Ursache kennt. Aber von uns hast du nicht zu befürchten, dass wir uns gegen die Wahrheit verzäunen. Wir sind auf keine Meinung festgelegt und können frei wählen, was uns gefällt. Ich jedenfalls würde mich freuen, frei zu werden von meinen Skrupeln und Zweifeln, und Erna und Mechthildis werden sich gewiss auch freuen, etwas Neues zu hören, das nicht in der Zeitung steht."
"Ja, wir bitten euch nur, nicht gar zu gelehrt zu sprechen, lieber Freund. Wenn Ihr in schlichtem Deutsch sprecht, wie der Seelsorger zur Gemeinde, werden wir verstehen, und sollte etwas unklar sein, so werden wir uns erlauben zu fragen."
"Ich will mich bemühen, klar und einfach zu sprechen, will aber im voraus bemerken, dass man auch mit einfachen Worten Dinge sagen kann, die dem mit solchen Dingen nicht vertrauten Menschen nicht sofort oder leicht verständlich sind."


Fussnote 1: Dr. C. du Prel: Die Philosophie der Mystik. - Monistische Seelenlehre. - Die Entdeckung der Seele. Fernsehen und Fernwirken. - Studien aus dem Gebiet der Geheimwissenschaften (zwei Bände). - Magie als Naturwissenschaft (zwei Bände). - Zur Einführung eignen sich besonders zwei Bändchen aus Reclams Universalbibliothek: Das Rätsel des Menschen; und: Der Spiritismus.
Scharfe Kritik, strenge Logik, Achtung vor Tatsachen, unbefangenes Urteil und volle Beherrschung des Stoffes sind seltene Vorzüge dieser Werke und machen sie zu einer reichen Quelle von Wissen und Belehrung. Du Prel verarbeitet ein so reiches Material, dass seine Werke eine ganze Bibliothek ersetzen, besonders von älteren, heute schwer zugänglichen Werken.
Eine kritische Untersuchung der mediumistischen Phänomene gibt Staatsrat N. Aksakow in seinem grossen, zweibändigen Werke: Animismus und Spiritismus, worin er untersucht, ob diese Phänomene von Medien oder von Geistern stammen. Die Kenntnis dieses Werkes ist unerlässlich für jeden, der in dieser wichtigen Frage mitsprechen will. - Dem gleichen Zwecke dient die seit 1873 erscheinende Monatsschrift: Psychische Studien. (Verlag O. Mutze, Leibzig).
Vortrefflich sind auch zwei Werke von G.W. Surya: Moderne Rosenkreuzer; und: Geistiger Monismus.

Während du Prel und Aksakow die Unsterblichkeitsfrage philosophisch und wissenschaftlich untersuchen, behandelt
Fussnote 2: Allan Kardec (Professor Hippolyt Rivail) ihre ethische Seite in den Werken: Das Buch der Geister. - Der Himmel und die Hölle.
Die ethische Seite im neu-christlichen Sinne behandeln auch St. V. J.: Die Entschleierung göttlicher Schriften (Verlag O. Mutze, Leibzig) und: Kundgebungen des Geistes Emanuel (Verlag E. Mühlthaler, München), eins der besten Werke über Ethik und Philosophie des Christentums im Lichte des Spiritismus.


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"