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Geisteswissenschaften - Religion - Katholische Kirche

Beiträge zum Mea-Culpa-Bekenntnis der katholischen Kirche vom 12. März 2000

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Die Kirche hat Fehler gemacht

Die grosse Vergebungsbitte des Papstes

Aus dem katholischen Pfarrblatt, 5312 Döttingen/CH, Nr. 11 vom 12.3.2000

(Kipa/cs) Papst Johannes Paul II. wird bei seiner für den 12. März vorgesehenen Vergebungsbitte schwere Vergehen der Kirche in ihrer Geschichte ansprechen. Die «Anwendung von Gewalt im Dienste der Wahrheit», die schmerzliche Geschichte des christlichen Verhältnisses zu den Juden bis hin zur Schoa sowie die Spaltung der Christen sind drei zentrale Themen.

Das geht aus der Stellungnahme der Internationalen Theologenkommission unter dem Titel «Erinnern und Versöhnen - Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit» hervor. Die Theologenkommission ist das führende Beratergremium des Vatikans in theologischen Grundsatzfragen und wird von Kardinal Ratzinger geleitet.
Wenn sich Papst Johannes Paul II. am ersten Fastensonntag in seiner Vergebungsbitte mit der Vergangenheit Kirche auseinandersetzt, wagt er die vielleicht bemerkenswerteste Geste während des Heiligen Jahres. Bereits im Apostolischen Schreiben «Tertio Millennio Adveniente» zur Vorbereitung auf das Heilige Jahr 2000 hatte der Papst 1994 die «Gewissensprüfung» thematisiert.

Bisher einmalig
In der Vergebungsbitte wendet sich der Papst zuerst an Gott. Damit wird die Verfasstheit der Kirche ausgedrückt, die zugleich heilig und sündig ist. Mit der Veröffentlichung am Beginn der Fastenzeit bekräftigt Johannes Paul II. zudem den Akzent der Reue. Diese «vom Lehramt selbst formulierte Vergebungsbitte» für Verfehlungen der Vergangenheit ist, so die Theologenkommission, in der Kirchengeschichte einmalig, historisch und theologisch ohne Beispiel.
Die Kirche, so der Münchener Dogmatiker Ludwig Müller, Mitglied der Kommission, bekenne, dass es im Laufe ihrer Geschichte «persönliche Sünden, erschreckendes Versagen, unangemessenes und unverantwortliches Handeln ihrer Glieder und ihrer Repräsentanten gegeben hat». In diesem Sinne könne man «auch von Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden der Kirche sprechen».

Ungewohnt deutlich
Das ist für einen kirchlichen Text ungewohnt deutlich. Für drei Bereiche konkretisiert die Kommission dieses Eingeständnis:

Bei der Vergebungsbitte geht es nicht um eine pauschale Aburteilung. Die Theologenkommission warnt vor Verallgemeinerungen, mahnt zu Einfühlungsvermögen und einer bestmöglichen Reflexion des Vorverständnisses. Trotzdem gelte: Auch wenn subjektive Verantwortlichkeit mit dem Tode des Akteurs erlösche, gebe es für eine objektive Verantwortung geschichtliche Kontinuität. Wenn diese Verantwortung zum Thema gemacht werde, fördere das auf jeden Fall das Zusammenleben der Menschen und Gemeinschaften. Der Papst, so die Kommission, will dabei den ersten Schritt geben.


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«Nur einige wenige Vergehen»

Mea Culpa / Römisch-katholische Kirche bekennt sich zu Sünden ihrer Vergangenheit

Papst Johannes Paul II. wird am Sonntag in einem in der katholischen Kirche einmaligen Bussakt um die Vergebung der historischen Sünden seiner Kirche bitten. Das jetzt vom Vatikan vorgelegte Grundsatzdokument soll Vorgabe und Interpretationshilfe geben.

Aus der Aargauer Zeitung (AZ) vom 8. März 2000, geschrieben von Sabine Seeger-Baier, Rom

«Der Aschermittwoch 2000 wird die Welt in Erstaunen setzen»: Grosse Worte stehen im Vorwort des gut 100 Seiten umfassenden Dokuments «Erinnern und Versöhnen - Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit». Das von einer internationalen Theologen-Kommission erarbeitete Papier ist Vorgabe für das «Mea Culpa», das Schuldbekenntnis, mit dem sich Rom erstmals zu den Sünden seiner Vergangenheit bekennt.

«Keine Verantwortung der Kirche»
Kirchenspaltung und Judenverfolgung, Zwangsmission und Inquisition - der Papst bittet am Sonntag im Petersdom um Vergebung für die dunklen Kapitel katholischer Kirchengeschichte. Aber das Papier, das vorgibt, Interpretationshilfe für die päpstliche Bussbitte zu sein, unterscheidet scharf zwischen den Sünden der «Söhne und Töchter» und der Kirche selbst. Sie bleibt trotz der schweren Last «heilig und unbefleckt». «Die Sünde ist immer der Person eigen, auch wenn sie die ganze Kirche verletzt», so steht es im ersten des sieben Kapitel umfassenden Grundsatzpapiers. In Berufung auf apostolische Schreiben heisst es deutlich, dass die «Gewissensreinigung», die Johannes Paul II. in den Mittelpunkt des Heiligen Jahres stellt, nicht den Anspruch Roms aufhebt, im Besitz der Wahrheit zu sein. So wird auch die durch das Erste Vatikanische Konzil (1869-1870) eingeführte Unfehlbarkeit des Pontifex nicht angetastet.
«Was wir aufgeführt haben, sind einige wenige Vergehen, wir hätten auch eine unendlich lange Liste erstellen können», meinte das Schweizer Mitglied der Kommission, Jean-Louis Bruguès (Fribourg). Rom erkennt die Mission mit Mitteln der Gewalt, die Christianisierung zur «höheren Ehre Gottes», die unendliches Leid über Eingeborenen-Völker und -Stämme brachte, als Fehler an, verwirft die Inquisition wie «jede Form der Gewalt im Kampf gegen Irrtümer», die Galileo Galilei ins Gefängnis und Giordano Bruno auf den Scheiterhaufen brachte. Rom beklagt die Kreuzzüge der christlichen Ritter, die mit dem Schwert gen Südosten zogen, um das Heilige Land zu befreien, und gleich denen den Tod brachten, die ihren Religionsgründer auf dem Gewissen haben sollten. Die Judenprogrome - auch sie gehören zu den Abgründen der Kirchengeschichte. Unterlassungen räumen die Experten zudem ein bei den Kirchenspaltungen, den bis heute nicht überwundenen Brüchen zwischen griechischer Ostkirche und lateinischer Westkirche, zwischen Katholizismus und Protestantismus.
Die Autoren bedauern den «Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit vieler Christen angesichts fundamentaler Verletzungen der Menschenrechte» und die Unterlassungen während des Holocaust. Gläubige haben - bis auf Ausnahmen «mutiger Männer und Frauen» - nicht das getan, was man «von einem Jünger Christi erwarten durfte», heisst es in dem Papier. Bereits 1998 hat. der Vatikan zur Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten Stellung genommen: «Wir bedauern zutiefst die Fehler und Versäumnisse der Söhne und Töchter der Kirche», heisst es in der Dokumentation «Wir erinnern: Nachdenken über die Shoah». Es war ein wichtiger Schritt für den Vatikan, ging aber der jüdischen Welt nicht weit genug. Die Kirche schiebe ihren Gläubigen die Verantwortung zu, anstatt sie selbst zu übernehmen, so die Kritik. Auch zum Mea-Culpa-Papier meinte der christlich-jüdische Wissenschafter David Kertzer jetzt: «Die Kirche als solche kann keine Verantwortung übernehmen. Dogmen und die Unfehlbarkeit des Papstes hindern sie daran.» Tatsächlich war auch Johannes Paul II. nicht besonders glücklich über das Schreiben zur Shoah. Er setzte mindestens seine Unterschrift nicht unter das Dokument, sondern fügte ihm lediglich ein Begleitschreiben bei. Dennoch hielt auch er an der Seligsprechung Pius XII. fest - ausgerechnet jenes Papstes, dem man klägliches Versagen im Widerstand gegen den Holocaust vorwirft. Nur die heftigen Einwände von jüdischer beziehungsweise israelischer Seite brachten den Vatikan dazu, auf die Seligsprechung - vorläufig - zu verzichten. Vergebung und Verzeihung sind der Leitgedanke Johannes Pauls II. für das Jubeljahr seiner Kirche, das er an Weihnachten mit der Öffnung der Heiligen Pforte einleitete. Schon 1994 hatte er in seinem apostolischen Brief «Tertio Millennio Adveniente» die «Reinigung des Gedächtnisses der Kirche» angekündigt. Die von seinem Vorgänger Paul VI. 1969 einberufene internationale Theologenkommission, ein Expertengremium, dessen 30 Mitglieder von den nationalen Bischofskonferenzen vorgeschlagen und vom Papst für fünf Jahre bestellt werden, machte sich an die Ausarbeitung des Schuldbekenntnisses. Die Leitung hatte der Chef der einflussreichen Glaubenskongregation, Kurienkardinal Josef Ratzinger. Dem konservativen Moraltheologen und Glaubenshüter, der das Dokument jetzt zur Veröffentlichung freigab, nachdem er es dem Papst überreicht hatte, wird nachgesagt, nicht zu den Befürwortern eines grossherzigen Schuldeingeständnisses zu gehören

Päpstliche Überraschung
Was nun vorliegt, bezeichnen Kritiker denn auch eher als kleinmütig und eng. Sie hoffen, dass der Oberhirte sich bei seiner Bussbitte am Sonntag nicht an das hält, was ihm jetzt unterbreitet wurde. Der katholische Oberhirte, dem Bekenntnis zur Schuld, Aussöhnung mit der Vergangenheit und Reinigung von Sünden in diesem Heiligen Jahr ganz besonders am Herzen liegen, war schon immer für Überraschungen gut. Lange schon zielt der Papst auf dieses Schuldbekenntnis zur «Gewissensreinigung» seiner Kirche - und hat damit bei den konservativen Kardinälen in der Kurie alles andere als Begeisterungsstürme ausgelöst. So hat das 100-Seiten-Dokument denn auch Grenzen: Es ist eine Entschuldigung, allerdings keine ganze, sondern eine halbe - eben nur eine halbe Sache. Denn wie schon im Shoah-Schreiben weist Rom auch jetzt wieder Schuld dem Kirchenmitglied zu, nicht der Gesamtkirche: Verbrechen haben Katholiken begangen, nicht die katholische Kirche.


Meldung zum selben Thema von der schweizerischen Depeschen-Agentur:

Mea Culpa
Der Begriff «Mea Culpa» (Meine Schuld) geht auf eine alte Formel in der römisch-katholischen Liturgiefeier zurück: «Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa» - meine Schuld, meine Schuld, meine übergrosse Schuld. Dies beten die Gläubigen zum Zeichen der Reue und schlagen sich dreimal an die Brust.

Zum ersten Mal
Ein ganz anderes Gewicht hat das grosse Mea Culpa von Papst Johannes Paul II.: Zum ersten Mal bittet ein Oberhaupt der katholischen Kirche in einem feierlichen Akt für die historischen Sünden der Vergangenheit um Vergebung - für Gewalt in Religionskriegen, für Inquisition, Judenfeindlichkeit und Versäumnisse in der Zeit des Nationalsozialismus.
Symbolträchtiges Datum für den «Tag der Reue» ist der erste Sonntag (12. März) in der Fastenzeit, die für Katholiken eine Zeit der Busse und der Umkehr sein soll. «Die Kirche und die Schuld der Vergangenheit - Erinnern um zu versöhnen» lautet der Titel des Dokuments für das Mea Culpa des Papstes. Drei Jahre lang arbeiteten daran sieben internationale Theologen unter Leitung des deutschen Kardinals Joseph Ratzinger, Präsident der vatikanischen Glaubenskongregation.

Galilei und die Shoah
Bislang gab es einzelne Schuldbekenntnisse, insbesondere im Pontifikat von Johannes Paul II.: 1992 rehabilitierte er den als Ketzer verurteilten Gelehrten Galileo Galilei (1564-1642). 1998 wurde in Rom das Dokument «Wir erinnern: Nachdenken über die Shoah» veröffentlicht. Der Vatikan gestand erstmals offiziell ein, dass sich Katholiken nicht entschieden genug gegen die Judenverfolgung gewehrt haben. Das Jahrtausend-Mea-Culpa geht auf eine Initiative des Polen-Papstes Karol Wojtyla zurück. (sda)


Kommentar aus der Aargauer Zeitung vom 8. März 2000 von Gaudenz Baumann

Das «Heilige Jahr 2000» bietet Johannes Paul II. eine willkommene Gelegenheit, sündige Altlasten über Bord des Kirchenschiffes zu werfen, die dem Vatikan an der Schwelle zum dritten Jahrtausend im Wege stehen. Der bevorstehenden Entschuldigung des Papstes für historische Verfehlungen der römisch-katholischen Kirche von den Kreuzzügen bis in unsere Zeit eilt denn auch der Ruf einer Entschuldung voraus. Vorausgegangen war die Verkündigung eines päpstlichen Jubiläumsablasses für die Gläubigen. Auch wenn man nicht unbedingt so weit gehen will wie der britische Historiker William E. H. Lecky, der unterstellt, dass die römisch-katholische Kirche «den Menschen ein grösseres Mass an unverdientem Leid zugefügt hat als irgend eine andere Religion»: Es bleibt fraglich, ob sich alle Untaten, die in der 2000-jährigen Kirchengeschichte von Menschen im Namen der Kirche und ihres Glaubens begangen wurden, in einem Aufwisch aus der Welt schaffen lassen. Auch die plötzliche Eile wirkt verdächtig - immerhin dauerte es 359 Jahre, bis der 1633 von der Inquisition zum Widerruf seiner «Irrlehre» gezwungene Galileo Galilei (1564-1642) rehabilitiert wurde. Nicht minder ungnädig wirkt, dass ausgerechnet Kardinal Joseph Ratzinger, als Präsident der vatikanischen Glaubenskongregation eine Art heutiger Oberinquisitor, die Kommission präsidierte, die das päpstliche «Mea Culpa» vorbereitete. Womit wieder einmal der Bock zum Gärtner gemacht wurde, was der Glaubwürdigkeit gerade dieses Unterfangens Abbruch tut.
Auch wenn die römisch-katholische Kirche mit dem Reuebekenntnis ein neues Kapitel aufschlägt: Vom «Blutrausch» der Kreuzfahrer über die im Jahr 1252 von Papst Innozenz IV. erlaubte Folter zur Erpressung von «Geständnissen» bis hin zum heute als historischer «Anti-Judaismus» verbrämten Antisemitismus, der schliesslich den millionenfachen Judenmord zumindest erleichtert hat, kann sich eine Kirche nicht einfach selber exkulpieren. Allerdings gilt auch dies: An der langen Blutspur durch die Geschichte der Christenheit ist nicht allein «Rom» mitschuldig.


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Erinnern ohne Erneuern?

Aus dem Wochenmagazin "Der Spiegel", Nr. 11 vom 13.3.2000.

Der Theologe Karl-Josef Kuschel über das Schuldbekenntnis des Papstes. Der 52-jährige Autor ist Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und lehrt dort Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs.

Die Ankündigungen klangen euphorisch. Eine Rede ohne "historische Vorläufer" werde Johannes Paul II. am ersten Fastensonntag halten und darin in nie da gewesener Offenheit die Sündigkeit der Kirche bekennen.
Doch ist das Schuldbekenntnis des Papstes vom Wochenende wirklich etwas "Einzigartiges", "Einmaliges"? Einmalig sei, heisst es, dass ein Papst für Verfehlungen in der Geschichte der Kirche, für Versagen und Schuld öffentlich in aller Form um Vergebung bitte; dass er eine "Reinigung des Gedächtnisses" anstrebe - eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen, sündigen Kirchen-Vergangenheit.
Ist das nicht in der Tat "sensationell", zumal diese Vergebungsbitte flankiert wird durch ein gewichtiges Dokument der internationalen päpstlichen Theologenkommission unter dem Titel "Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit", bestätigt durch Joseph Kardinal Ratzinger persönlich? Wird hier nicht das "Jubiläumsjahr" 2000 in einzigartiger Weise genutzt, um aller Weit die Fähigkeit der katholischen Kirche zu demonstrieren, nicht nur Schuldübernahme und Busse nach aussen zu predigen, sondern auch an sich selbst zu praktizieren?
In Wahrheit ist die selbstkritische Bitte um Vergebung für im Namen der Kirche begangenes Unrecht etwas selbstverständlich Christliches. Wer dem Papst hier etwas "Neues und Einmaliges" zuschreibt, räumt unfreiwillig ein, wie sehr das Papsttum bisher von dieser Selbstverständlichkeit entfernt war. Wer darin etwas Sensationelles wähnt, dokumentiert nur, wie tief entfremdet der "Stellvertreter Christi" vom jesuanischen Geist ist: Das päpstliche Lehramt wird ja bisher weniger mit Selbstkritik, Schuldeinsicht und Vergebungsbereitschaft in Verbindung gebracht als mit unnachsichtiger juristischer Strenge, Verurteilung von Andersglaubenden und Versöhnungsunfähigkeit gegenüber Dissidenten.
Wird das alles nun anders? Zweifel sind angebracht. 21 Jahre kennen wir nun schon diesen Papst. Wir kennen seinen Stil, seine Rhetorik und Gestik, seine Inszenierungen, die einladenden und die befremdlichen Seiten seines Pontifikates. Und die Vergebungsbitte? Auch die kennen wir seit Jahren. Wie viel an Schuldbekenntnissen hat dieser Papst nicht im Verlauf seiner Amtszeit der Öffentlichkeit vorgetragen.

Gewiss: Diese Schuldeingeständnisse und Vergebungsbitten sind mehr als wohlfeile pastorale Rhetorik. Sie sind auch kein Propagandatrick, um Kritiker zu beschwichtigen. Ich erkenne und anerkenne vielmehr einen grossen persönlichen Ernst bei diesem Papst, der Respekt und Nachahmung verdient. Wir Katholiken sind ja in Sachen Selbstkritik von kirchlichen Hierarchen bisher nicht gerade verwöhnt worden. Johannes Paul II. zeigt immerhin eindrucksvoll: Das Eingeständnis von Versagen, Sünden und Schuld kann spät kommen; zu spät kommt es nie.
Warum aber werde ich trotzdem das Gefühl tiefer Zwiespältigkeit nicht los? Was sträubt sich in mir als katholischem Theologen, mich unzweideutig zu freuen über diesen eindrucksvollen Akt christlicher Demut?
Weil wir nach 21 Jahren Johannes Paul II. nicht einfach davon absehen können, wie dieser Papst bisher seine Kirche beherrscht. Es ist ein und derselbe Papst, der sich bei Afrikanern, Indianern und Protestanten entschuldigt und intern so regiert, dass diese Regentschaft manchen wie eine "geistliche Diktatur" erscheint. Kann man vergessen, dass der Vatikan noch vor wenigen Monaten grosse Teile des deutschen Episkopates in Sachen Schwangerenkonfliktberatung tief gedemütigt hat?
Kann man den 22. Mai 1994 vergessen, den Tag, an dem derselbe Papst endgültig die Hoffnungen eines Grossteils der katholischen Frauen zerstörte, Gleichberechtigung auch im kirchlichen Amt zu erlangen? Kann man den 28. Oktober 1995 vergessen, eines der fatalsten Daten der neueren Kirchengeschichte? An diesem Tag liess der Papst seine Glaubenskongregation erklären, das Verbot der Frauenordination sei eine unfehlbare Lehre: "Diese Lehre fordert eine endgültige Zustimmung, weil sie, auf dem geschriebenen Wort Gottes gegründet und in der Überlieferung der Kirche von Anfang beständig bewahrt und angewandt, vom ordentlichen universalen Lehramt der Kirche unfehlbar vorgetragen worden ist."
Was ja im Klartext heisst: Dieser Papst will die Ordination der Frauen nicht nur für seine Amtszeit, sondern für alle Ewigkeit ausschliessen.
Merkt der Papst nicht, dass es genau dieser überzogene Einsatz der Autorität ist, welcher in der Kirche unversöhnliche Spannungen, ja Spaltungen erzeugt? Im selben Jahr 1995, in dem Johannes Paul II. die Priesterweihe für Frauen verdammte, hatte der Papst zuvor in einem "Brief" die Frauen um Vergebung gebeten für mannigfache Herabsetzungen. Niemand konnte ihm offensichtlich den Widerspruch plausibel machen zwischen dieser Vergebungsbitte und dem strukturellen Unrecht, das ein unfehlbares Verbot der Frauenordination bedeutet.
Kein Wunder, dass viele katholische Theologen der Verdacht beschleicht, die Vergebungsbitten des Papstes seien deshalb möglich, weil sie sich allesamt auf die Vergangenheit beziehen. Mit den Toten ist leichter umzugehen als mit den Lebenden. Wo aber bleibt die Versöhnung mit den von diesem Papst Zurückgestossenen und Ausgegrenzten: den verheirateten Geschiedenen, den Ex-Priestern, den Frauen, die gegen die unfehlbare päpstliche Lehre empfängnisverhütende Mittel einnehmen? Nicht von ungefähr hat selbst eine so loyale katholische Zeitschrift wie "Christ in der Gegenwart' die Vorgänge der letzten Tage so kommentiert: "Einen Galileo Galilei kann man im weiten historischen Abstand leichter rehabilitieren als einen Sigmund Freud anerkennen. Noch schwerer ist es, einem Pierre Teilhard de Chardin oder gar Hans Küng Gerechtigkeit widerfahren zu lassen."
Greifen wir zwei Beispiele heraus, an denen im Text der Theologenkommission exemplarisch die "Reinigung des Gedächtnisses" vollzogen wird:
Die Spaltung der Christenheit: Es klingt gut, wenn Katholiken, Orthodoxe und Protestanten aufgefordert werden, "Architekten einer neuen Zukunft zu werden, die mit dem neuen Gebot, der Liebe, mehr konform geht". Es klingt eindrucksvoll, wenn noch einmal "die getrennten Brüder um Verzeihung" gebeten werden. Aber jeder Kenner der ökumenischen Wirklichkeit weiss, dass für Rom Einheit der Christen nur nach römischem Modell zu haben ist. Nicht das gemeinsame Christus-Zeugnis ist ausreichend, um beispielsweise gemeinsame Eucharistie zu feiern, um die kirchlichen Ämter endlich gegenseitig anzuerkennen, sondern einzig und allein die Anerkennung des Papstamtes (einschliesslich der Papstdogmen Primat und Unfehlbarkeit).
21 Jahre hatte Johannes Paul II. Zeit, das voranzutreiben, was er in seiner Ökumene-Enzyklika von 1995 gefordert hat: über die bisherige Form des päpstlichen Primats zu diskutieren. Was ja nichts anderes heissen kann, als eine neue Form der Ausübung dieses Primates zu finden, in der der Papst nicht über die anderen christlichen Kirchen juristisch und dogmatisch herrschen will.
Es ist nicht glaubwürdig, Protestanten und Orthodoxe wegen katholischer Verfehlungen in der Vergangenheit um Vergebung zu bitten, in der Gegenwart aber keinen einzigen konkreten Schritt zu tun, um mit den anderen christlichen Kirchen zusammen "in Liebe" eine "neue Zukunft" zu bauen. Niemand hat offensichtlich auch hier den Papst von diesem Widerspruch überzeugen können.
Das Verhältnis von Christen und Juden: Es ist wichtig, dass auch im Dokument der Theologenkommission noch einmal die "Feindseligkeit oder das Misstrauen vieler Christen gegenüber Juden" offensiv angesprochen wird. Der Papst hat dies zu Recht mehrfach eine "bedrückende historische Tatsache" genannt.
Enttäuschend aber ist, dass der Anteil der kirchlichen Lehre und Verkündigung an der massenhaften Verbreitung des Antijudaismus in dem von Ratzinger autorisierten Text völlig verharmlost wird. Nur die gequälte Frage konnte man sich in der Theologenkommission offensichtlich abringen, "ob die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten nicht doch auch von antijüdischen Vorurteilen begünstigt wurde, die in den Köpfen und Herzen einiger Christen lebendig waren". Einiger!
Dabei hat die kritische Forschung längst gezeigt: Kein rassischer Antisemitismus ohne einen jahrhundertelang gehätschelten kirchlichen Antijudaismus. Es waren Theologen, Prediger, Päpste, die den Nährboden bereiteten für die Ausrottung von Juden und die weit verbreitete Gleichgültigkeit von Katholiken gegenüber deren Schicksal.
Sicher, ein selbstkritisches Schuldeingeständnis kann der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche im interreligiösen Dialog dienen. Wie aber geht dies zusammen mit Äusserungen des Papstes zur bleibenden Missionstätigkeit und zur Heilsnotwendigkeit der Kirche?
Immer wieder schärft der Papst Sätze wie diese ein: "Darum können jene Menschen nicht gerettet werden, die sehr wohl wissen, dass die katholische Kirche von Gott durch Jesus Christus als eine notwendige gegründet wurde, jedoch nicht in sie eintreten oder in ihr ausharren wollen." Ein Satz des Konzils, der kritisch interpretiert werden muss, will man in der Begegnung mit Nichtchristen nicht alle Glaubwürdigkeit wieder verlieren, die man durch Schuldeingeständnis und Vergebungsbitte gerade erst hervorgerufen hat.
Schuldeingeständnis und Vergebungsbitten sind Ausdruck echter Christlichkeit. Wir haben, auch mit der 95. Bitte des Papstes, nicht zu viel, sondern zu wenig davon. In unserer weithin säkularen Gesellschaft gibt es ein Übermass an Schuldverleugnung, an Schuldtrivialisierung. Hier könnten Christen andere Zeichen setzen. Sie sind aber nur dann glaubwürdig, wenn sie zusammengehen mit einer radikalen Erneuerung der eigenen Institution.


[ Anm.d.Erf.: Wer sich mehr für die Verbrechen des Christentums in aller Welt interessiert, sei auf das Buch "Verbrechen im Namen Christi, Mission und Kolonialismus" von Gert von Paczensky hingewiesen, erschienen im Orbis Verlag, Jahr 2000, ISBN 3-572-01177-9, 544 Seiten, Original-Ausgabe im Jahr 1991 im Albrecht Knaus Verlag, München. Ein Buch für Christen mit starken Nerven... ]


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"