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Knaur Esoterik - Herausgeber Gerhard Riemann
Alle Rechte vorbehalten Copyright by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1991

Rudolf Passian - Licht und Schatten der Esoterik : Eine Orientierungshilfe bei der Beurteilung esoterischer Lehren

Zur Grundfrage nach Gott

Wenn man richtig zählen will, muss man logischerweise mit der Eins anfangen. Wollen wir ein Denkmodell entwerfen, welches unsere Herkunft und den Sinn unseres Daseins ergründen helfen soll, so müssen wir gleichfalls bei der Eins beginnen, in diesem Fall mit Gott; mit der Hypothese Gott als dem Urprinzip, dem dynamischen Mittelpunkt der sichtbaren wie auch der unsichtbaren Schöpfung, aus welchem unabänderliche Natur- und Geistesgesetze hervorgegangen sind. Dieser Mittelpunkt muss in sich selber absolut und unwandelbar sein, sonst wäre keine Beständigkeit der gesetzlichen Prinzipien gewährleistet. Friedrich Schiller fasste dies in die Worte:

Hoch über Zeit und Raum
webet lebendig der höchste Gedanke -
Ob auch alles im Wechsel kreist,
es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.

Alles Naturgeschehen mit seinen präzisen Abläufen im kleinen wie im grossen, im Atom gleichermassen wie im Weltall, lässt unschwer auf eine übergeordnete, ursächliche Intelligenz und Weisheit von höchster Potenz schliessen. Zu einer solchen Annahme sieht man sich förmlich gezwungen. Solange uns die Wissenschaft den Ursprung des Lebens nicht überzeugend erklären kann und Naturkräfte bloss in ihren Wirkungen beschreibt, nicht aber ihr Wesen zu ergründen vermag, so lange müssen wir uns die Prinzipien des Lebens, des Lichtes und der Bewegung als von Gott ausgehend denken. Es sei denn, man gibt bequemlichkeitshalber der atheistisch-materialistischen Hypothese den Vorzug, wonach alles - auch das denkende Geistige im Menschen automatisch und im Wechselspiel von Zufall und Auslese von selber entstanden sei und Gott »nur eine Projektion von verbannten Wünschen oder verdrängten Ängsten« ist (Sigmund Freud).
Die Existenz bedeutender Religionsgemeinschaften und zahlreicher religiöser Kultformen ist an sich noch kein Faktum, um Gott zu »beweisen«. Mehr oder weniger wähnen sie ja alle, die Wahrheit zu besitzen, und meinen, ihre Lehre sei weder korrektur- noch ergänzungsbedürftig. Die Menschheit neigt aufgrund des Trägheitsgesetzes, das auch im geistigen Bereich gilt, seit eh und je zu dogmengesicherten Systemen, die das Denkvermögen nicht allzu stark beanspruchen. Heute jedoch scheinen mehr und mehr Menschen einzusehen, dass wir als Bewohnerschaft eines winzigen Planeten im All (unter Milliarden!) erkenntnismässig noch zu unterentwickelt sind, um Dinge voll begreifen zu können, die unsere Fassungskraft überfordern.
Das Gottesbild jedes einzelnen, seine Gottesvorstellung (sofern er überhaupt eine hat), ist abhängig und geprägt von vielerlei Faktoren, insbesondere von der individuellen Bewusstseinsstufe. Dabei mag der Gottesbegriff als solcher bei Millionen Menschen derselbe oder ähnlich sein, doch die damit verbundenen Vorstellungen differieren schon von der Rasse her: Für die Weissen ist Gott selbstredend ein Weisser, für den Zentralafrikaner ist er dunkelhäutig. Und menschliche Eigenschaften werden Gott natürlich in höchster Vollendung zugeschrieben, sonst wäre er nicht Gott. In der Bibel heisst es: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Umgekehrt projiziert der Mensch sich selber in seinen Gottesbegriff hinein. »Gott schuf den Menschen, doch die Menschen schufen die Götter« (Schiller).
Könnte es nicht sein, dass unser Bewusstsein allein schon auf. eine direkte Teilhabe am Absoluten hinweist? Dieser Aussage des Berliner Parapsychologen Prof. Dr. Christoph Schröder (1871-1926) dürfte ebenso zuzustimmen sein wie der empfehlenswerten begrifflichen Unterscheidung von Gott und Gottheit. Als unpersönliche Gottheit wäre der Allgeist zu betrachten, das Brahman, das ursprüngliche All-Eine; die alles umfassende schöpferische Urkraft, das Urlicht und was man sich sonst noch vorstellen mag. Als Manifestation dieses Allgeistes wäre ein personaler Gott denkbar. Und als solcher wurde er auch zu allen Zeiten erfahren. Jeder wahre Mystiker kennt Gott durch höchstes inneres Erleben, durch die Visio Dei. In meditativer Versenkung kann Gott als Person wahrgenommen werden, mögen ihn auch manche als ihr »höheres Selbst« auffassen oder als ihren Schutzengel. Plato war von der Existenz Gottes überzeugt, weil die Struktur der Welt eine geistige ist, und ein alter Mathematiker definierte die Gottheit als eine überall fühlbare Zentralität ohne sichtbare Peripherie. Ernst Häckel hingegen meinte, Gott sei eine Art »gasförmiges Wirbeltier«. (Fussnote 1)
In der Unterscheidung der vom Gottesbegriff geprägten Glaubensarten gilt folgende theoretische Klassifizierung: Deismus ist die abstrakte Vorstellung einer höchsten weltschöpferischen Intelligenz von mehr oder weniger personenhaftem Gepräge. Ihr Vorhandensein gilt als beweisbar, sei es aus der Zweckordnung der Welt, sei es aus der strengen Naturgesetzlichkeit ihres Gefüges. Für Deisten thront Gott erhaben über allem Werden und Vergehen; er existiert irgendwo, greift aber nicht in unsere irdischen Belange ein. (Fussnote 2) DieTheisten können sich mit einem ruhenden, unbeweglichen und gleichgültigen Gott nicht abfinden. Für sie ist Gott wirkend, d. h. auf die Welt einwirkend, ein lebendiger Gott. Im Atheismus wird der Gottgedanke überhaupt abgelehnt und als menschliche Erfindung aufgefasst.
Der Gottglaube kann noch unterteilt werden in Polytheismus (Vielgötterei), Monotheismus (Eingottlehre) und Monolatrie (Sondergottglehre) (Fussnote 3). Pantheismus finden wir überwiegend in der Esoterik: Gott ist mit seiner Schöpfung wesenseins, ist mit ihr quasi identisch, er belebt und beseelt dieselbe. Dieser recht alten Anschauung begegnen wir in der Verdantaphilosopie und in der Bhagavadgita ebenso wie im Buddhismus, bei Laotse und in Ägypten. Späterhin bei Rosenkreuzern, Alchemisten und christlichen Mystikern, bei Spinoza, Schelling und Hegel, in der Blavatsky-Theosophie und bei Rudolf Steiner (Fussnote 4). Im pantheistischen Denken steht der Mensch nicht, wie im Theismus, als Ich einem göttlichen Du gegenüber. Der Pantheismus, den es in etlichen Varianten gibt, verlegt, wie gesagt, Existenz, Macht und Wirken Gottes in die Materie. Dem wird seitens der christlichen Theologie eine Missachtung des Kausalitätsprinzips vorgeworfen, indem man die Ursache von der Wirkung nicht zu trennen wisse. Andererseits neigen auch Wissenschaftler zu der Überzeugung, dass kein einziges Atom ohne innewohnenden Geist wirksam sein kann, wie immer man den Geist in seiner Funktion auch auffassen mag. (Fussnote 5) »Warum der ewig gleiche Geist in der Formenwelt des Mineralreiches noch am geringsten erkennbar ist, bei Pflanze und Tier immer deutlicher durchleuchtet, aber erst im Menschen als dem Grenzwesen zwischen Körper- und Geisteswelt völlig zum Durchbruch gelangt, lehrt nicht die Kirche, sondern die Geisteswissenschaft« alias Esoterik, argumentiert Kahir.
An dieser Stelle scheint mir der Hinweis auf eine kleine, unauffällige Bibelkorrektur, die dennoch von beträchtlicher Bedeutung ist, angebracht zu sein. Joh. 4,24 lautet in älteren Bibeln: »Gott ist ein Geist.« Das Wörtchen »ein« wird man in neueren Bibelausgaben vergeblich suchen. In einem auf dem Wege automatischer Schrift durch Adelma von Vay (1840-1925) empfangenen Kommentar zum Johannes-Evangelium wird zum Vers 4,24 erklärt: »Gott ist ein Geist. Das Wort >ein< schliesst alle Teilung aus und macht Gott zum höchsten Wesen; es sagt euch eine unendlich herrliche grosse Wahrheit und macht alle pantheistischen Teilungslehren zunichte.« (Fussnote 6)
In den sogenannten Geheimlehren finden sich aber auch mancherlei Übereinstimmungen mit konfessionell-christlichen Anschauungen, so z. B., dass es ein rein geistiges Sein gab, bevor es zur materiellen Schöpfung kam. »Am Anfang war das Wort«, lautet der erste Vers des Johannes-Evangeliums, »und das Wort war bei Gott (oder göttlichen Wesens, laut Menge-Übersetzung), und Gott war das Wort« (griech. lógos). Der Begriff lógos bedeutet zugleich soviel wie Gedanke oder Idee. Nach einer griechischen Quelle soll Joh. 1,1 eigentlich lauten: »Am Anfang bestand ein Gedanke. Der Gedanke war bei einem Gotte, und ein Gott, das war der Gedanke.« (Fussnote 7) Dies halte ich für eine verständlichere Übersetzung, denn das gesprochene Wort ist ja bereits Folge einer vorangegangenen Ursache, nämlich des Gedankens. Man könnte auch sagen: Das Wort ist ein materialisierter Gedanke. Die Stelle Joh. 1,1 birgt jedenfalls eine erstaunlich prägnante Aussagekraft und ist geeignet, darüber zu meditieren. Für das uns anerzogene linkshirnige Verstandesdenken freilich wird das Erfassen geistiger Zusammenhänge und Fakten immer etwas schwierig sein, wenn nicht gar unmöglich. Kahir hat sicherlich recht, wenn er meint: »Nur das Herzdenken, das ist eine von Gemütskräften erhellte Vernunft, erweckt die innere Schauung für die Ursache und das Wesen der Schöpfung.« Aber auch das Herzdenken muss kapitulieren vor der allerletzten Frage: Wenn Gott eine Manifestation der Gottheit ist, woher kommt dann die Gottheit?
Meiner bescheidenen Einsichtsfähigkeit zufolge sind Allmacht und Allgegenwart des Weltgeistes als unpersönliche Gottheit erkennbar im Naturgeschehen, dessen Entwicklungsprinzipien gesetzmässig vom Chaos zum Kosmos führen, vom Niederen zum Höheren. Sie bieten uns die Gewähr, dass das der Schöpfung offensichtlich innewohnende Entfaltungsziel erreicht wird, ohne nachträglich korrigierender Eingriffe zu bedürfen.
Begrifflich mehr zu erfassen wird rein verstandesmässig wohl auch in Zukunft schwierig bleiben, obwohl bislang kein Mangel an gedanklich tiefschürfenden Büchern zum Thema Gott bestand. Doch auch im höherstufigen Jenseits bekennt man sich einmütig zum Gottglauben, und es besteht keinerlei Veranlassung, solche Bekundungen für Trug zu halten. Emanuel sagt: »Gottes Gesetze und deren Wirkungen sind so unendlich gross, dass auch ihr gross sein müsst, wollt ihr sie auch nur annähernd erfassen.«
Der Zweck jeder wahren Religion kann nur ein den Menschen veredelnder sein. Wie die Philosophie sollte sie zu sinnklärenden Erkenntnissen führen, zum »Erkenne dich selbst«. Wie der einzelne seinen Gott ahnen, erkennen oder benennen mag, bleibt im Grunde genommen einerlei. Ausschlaggebend ist, dass man überhaupt eine göttliche Macht anerkennt und Gut und Böse auseinanderzuhalten weiss. In diesem Sinne wäre derjenige »fromm« zu nennen, der ein ethisch erstrebenswertes Ideal hochhält und es auf der Basis des Liebegebotes nach Kräften zu erreichen sucht, mag er es im Christentum gefunden haben, im Buddhismus, in der Anthroposophie oder sonstwo. Paul de Lagarde (1827-1891) sah einen Beweis für die höhere Bestimmung des Individuums »in dem Plane, welcher im Leben jedes die Richtung auf das Gute einschlagenden Menschen sichtbar wird. Diesen Plan erkennen, ihm nachsinnen und verwirklichen, das heisst fromm sein.«


Anmerkungen »Zur Grundfrage nach Gott«
Fussnote 1: »Welträtsel«, 333. Zitiert nach PsStud 1913, S. 296.
Fussnote 2: RiGuG, Bd. 1, Sp. 1084.
Fussnote 3: Unter diesem Begriff versteht man die Anbetung einer Gottheit, die im Leben einer Gemeinschaft, eines Stammes, einer Stadt oder eines Volkes zu so hoher Bedeutung gelangt ist, dass sie das höchstvorstellbare Idealprinzip seiner Verehrerschaft darstellt (vgl. Passian, »Neues Licht auf alte Wunder«, St. Goar 1985, S. 259).
Fussnote 4: Nach einer 1961 von der Württembergischen Bibelanstalt, Stuttgart, der Menge-Bibel beigefügten Aufstellung sieht bezüglich ihrer Entstehungszeit die Reihenfolge der bekanntesten Religionen folgendermassen aus: Vorgeschichtlichen Ursprungs ist der japanische Shintoismus. Um 3000 v.Chr. datiert der Hinduismus, während die mosaische Gesetzgebung in das 13. Jahrhundert v. Chr. fällt, also noch verhältnismässig »jung« ist. Noch jüngeren Datums sind der im 6. Jahrhundert v. Chr. in Indien entstandene Jainismus sowie der Buddhismus, in Persien die Religion der Avesta und in China der Konfuzianismus. Hier setzte 300 Jahre danach mit Laotse der Taoismus ein. Der Anfang des Christentums datiert um das Jahr 30. Der chinesische Zen-Buddhismus beginnt mit dem 6. Jahrhundert n.Chr., der Islam mit dem Jahr 622, der indische Sikhismus im 15. Jahrhundert und im 19. Jahrhundert im Iran die Bahai-Religion.
Fussnote 5: Vgl. Jean E. Charon, »Der Geist der Materie«, Berlin 1979. - »Die Entstehung des menschlichen Geistes ist ein Geheimnis, wissenschaftlich nicht erklärbar und damit Gottes Werk«, erklärte Medizin-Nobelpreisträger John C. Eccles vor über eintausend Wissenschaftlern 1988 in Hannover.
Fussnote 6: »Reformierende Blätter«, Budapest 1878, S. 35.
Fussnote 7: Karl Dworski, »Die Entdeckung eines arischen Evangeliums«, Stuttgart 1939, S. 43.



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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"