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Renatus-Verlag in Lorch (Württemberg) Alle Rechte vorbehalten Copyright by Renatus-Verlag, Lorch (Württ.) 1929

Friedrich Funcke : Christentum als Weltanschauung und Lebenskunst

7. Kapitel

Die Gnade - Ehe und Ehescheidung - Hat Christus gelebt? - Wiedereinverleibung - Freiheit des Geistes - Die Glaubensgerechtigkeit - Die Zukunft der Kirchen - Die Stufe der Erde in der Weltordnung - An die Gemeinde der Liebe - Anmerkungen

"Ich habe in diesen Tagen viel über Religionsfragen nachgedacht", begann Hallerstede. "Vieles ist mir klar geworden, anderes noch dunkel geblieben, so z.B. die Gnade Gottes, womit die Theologen manches erklären wollen, was sie sonst nicht erklären könnten. Ich halte diese Gnade für eine Verlegenheitsausrede, die sich immer dann einstellt, wenn die Theologen mit ihrem Wissen zu Ende sind. Das Wort ist mir immer unangenehm gewesen, schmeckt nach Laune und Willkür. Warum ist Gott dem einen gnädig, dem andern nicht? Ist das gerecht? Und nun finde ich dies verdriessliche Wort auch in dem Schöpfungsbericht, wo es heisst: "die Hand meiner Gnade ist über das Feld des Leidens gegangen." Es scheint zwar, als habe das Wort hier eine andere Bedeutung, aber klar ist mir diese Bedeutung nicht."
"Und ich habe das Neue Testament mitgebracht", sagte Mechthildis, "und möchte, mit eurer gütigen Erlaubnis, allerlei Fragen stellen. Ich möchte diese gute Gelegenheit zur Belehrung nicht unbenutzt vorüber gehen lassen."
"Dieser Eifer ist ja erfreulich, aber seid barmherzig und verlangt nicht zuviel. Wenn ich das ganze Neue Testament erläutern sollte, wie Ihr Lust zu haben scheint, würden wir in der dafür nötigen Zeit um den Erdball reisen können und dürfen uns nicht beeilen dabei. Und ferner verstehe auch ich noch nicht alles und bedarf noch vieler Belehrung. Einiges kann ich euch wohl noch sagen, anderes müssen wir auf später verschieben. Betrachten wir jetzt den Begriff Gnade. Es ist wahr, dies Wort hat einen üblen Beigeschmack, entstanden durch die Art, wie die Menschen die Gnade verstehen und anwenden. Aber der eigentliche Sinn ist ein anderer. Das Wort Gnade kommt her vom altdeutschen Genahde und bedeutet: sich neigen, herablassen, sich nahen. Wenn also Gott dem Menschen eine Gnade erzeigt hat, so heisst dies, Gott ist ihm genaht, ihm näher gekommen. Nun kann aber, nach dem Gesetz der Freiheit, Gott dem Menschen nicht näher kommen, ihm nicht eine Gnade erweisen, wenn der Mensch selbst nicht will. Gott zwingt ihm nichts auf. Der Mensch muss erst wollen, muss guten Willen bezeigen [zeigen; Anm.d.Erf.], dann kann Gott ihm helfen. In Wahrheit hat nicht Gott sich dem Menschen genähert, denn Gott ist immer nahe, sondern der Mensch hat sich Gott genähert durch seinen guten Willen. In diesem Sinne verstanden, verliert das Wort seinen üblen Beigeschmack, und die Gnade erscheint als eine Verbindung von Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit: von Liebe, indem Gott immer hilfsbereit ist; von Freiheit, indem Gott den Menschen nicht zwingt, sondern wartet, bis er von selber kommt; von Gerechtigkeit, indem er gibt, was der Mensch oder Geist braucht und wessen er sich würdig gemacht hat. "Die Hand meiner Gnade ist über das Feld des Leidens gegangen", das heisst: Gott hat gewusst, dass der Geist fallen konnte infolge seiner Freiheit und Unvollkommenheit, und für diese Möglichkeit hat er vorgesorgt, indem er es so einrichtete, dass, wie jener Bericht sagt, "die Folge der Sünde zugleich die Sühne ist; die Frucht der Sündensaat ist zugleich das Gut, die Schuld zu bezahlen." In dieser Einrichtung liegt höchste Weisheit, denn sie wendet das Übel, das Leid zum Guten. - Was habt ihr auf dem Herzen, Erna?"
"Ich gedachte, allerlei zu fragen, will mich aber den Umständen entsprechend, auf einen wichtigen Gegenstand beschränken. Ich meine das Eheproblem, und da besonders die Frage der Ehescheidung. Ihr wisst aus eigener Beobachtung, wie leichtfertig heute Ehen geschlossen und gelöst werden. In der Ehescheidung ist man in einigen Ländern sehr leichtsinnig. Die römische Kirche dagegen hält die Ehescheidung für unstatthaft, und ebenso auch das Heiraten geschiedener Eheleute. So stehen extreme Ansichten sich schroff entgegen. Was ist nun Wahrheit, was Irrtum? Liegt die Wahrheit auch hier in der Mitte, wie bei so vielen anderen Dingen? Da die Ehefrage alle jungen Leute angeht und auch viele alte Leute und somit zu den ernstesten Lebensfragen gehört, sollte sie doch einmal klargestellt werden ohne Vorurteile und Dogma und mit Rücksicht auf die Umstände, die dabei zu beachten sind."
"Ein schwieriges Problem fürwahr, und zu gross, als dass ich es restlos lösen könnte. Nehmt also vorlieb mit dem, was ich euch sagen kann, und betrachtet meine Worte als rein persönliche, unmassgebliche Meinung. Was ist die Ehe? Ein Vertrag zweier gleichberechtigter Menschen, worin sie sich freiwillig Liebe und Treue geloben. Ein Vertrag muss gehalten werden für die vereinbarte Zeit, in der Ehe also bis zum Tode, oder bis er durch freiwillige Entschliessung gelöst wird. Dies wollen wir uns recht deutlich machen. Wer mir vertraglich etwas verspricht, wird dadurch mein Schuldner; er ist an sein Versprechen gebunden, und ich kann Erfüllung des Vertrages von ihm fordern. Ich kann ihm aber auch die Erfüllung des Vertrages erlassen, wenn er einverstanden ist, und dann ist er wieder frei. Darüber sind die Meinungen einig. Sollte dies für die Ehe nicht auch gelten? Sollten die Eheleute nicht berechtigt sein, in voller Freiheit einander die Erfüllung des Ehevertrages zu erlassen und sich gegenseitig die Freiheit zurückzugeben, wenn die Umstände dafür sprechen? Ich möchte das nicht verneinen, denn wir haben das Recht, über unsere Person zu verfügen, wenn kein Unrecht dadurch geschieht. Dies ist der entscheidende Punkt, denn all unser Leid wurzelt in der Schuld, und ein grosser, wenn nicht der grösste Teil dieser Schuld besteht darin, dass wir die Rechte anderer Menschen missachten. Die Kirche sagt dagegen, die Ehe sei mehr als ein bürgerlicher Vertrag, sie sei ein Sakrament und von Christus für unlösbar erklärt worden. Betrachten wir nun die Worte, die hier in Frage kommen. Christus sagte: "um der Härte eures Herzens willen hat Moses euch die Scheidung vom Weibe erlaubt." Das heisst, auf die Gegenwart bezogen: wenn ihr die Liebe, Nachsicht und Vergebung, die ihr euch gelobt habt, nicht geben könnt, weil ihr gar so tief gefallen, so hartherzig seid, moralisch auf sehr niederer Stufe steht, so mögt ihr euch trennen um des Friedens willen, denn es ist besser, in Frieden sich trennen als in Unfrieden und Hass beieinander bleiben. Denn wenn ihr beieinander bleibt in Unfrieden und Hass, so verfehlt ihr nicht nur eure Aufgabe, euch zu bessern durch Vergebung und Nachsicht, sondern ihr vertieft auch euren Fall und häuft weitere schwere Schuld auf euch, die ihr später sühnen müsst. - Aus solchen Gründen halte ich die Scheidung für erlaubt in Fällen, wo die Eheleute Rückschritte statt Fortschritte machen würden."
"Und der Scheidebrief, von dem im Evangelium gesprochen wird?"
"Dieses Wort bezieht sich auf die rohen Sitten jener Zeit. Damals war das Weib dem Manne nicht gleichberechtigt, sondern es war nur eine Sache, so eine Art besseres Haustier, das der Mann beliebig entlassen konnte, wenn es ihm nicht mehr gefiel. Die gesetzliche Form für die Entlassung war der Scheidebrief."
"Wer ein Weib ansieht, ihr zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen."
"Damit wollte er sagen, dass die Sünde nicht nur in der vollendeten Tat bestehe, sondern schon im Gedanken, sie zu tun. Der Gedanke ist die Wurzel der Sünde, die Tat ist nur die Folge des Gedankens. Wer die Sünde vermeiden wolle, dürfe nicht mit dem Gedanken der Sünde spielen. Dies Wort ist also eine Begriffsbestimmung des Ehebruchs in seiner feineren Form."
"Und wer die Abgeschiedene freit, der bricht auch die Ehe."
"Ein unklares Wort, und wahrscheinlich unvollständig. Wir dürfen annehmen, dass Christus mit den Jüngern und Pharisäern die Ehefrage viel ausführlicher besprochen hat als in den Evangelien steht; daher dürfen die einzelnen Worte nicht für sich allein, sondern müssen im Zusammenhang mit dem ganzen Problem betrachtet werden. Wie kann ein lediger Mann oder Witwer, der eine gesetzlich geschiedene Frau heiratet, die Ehe brechen, da doch keine Ehe mehr besteht? Das Wort wird jedoch klar, wenn man unsere vorhin genannten Gründe einer erlaubten Ehescheidung auf jenen rohen Brauch der Juden anwendet. Ich sagte, bei der Ehescheidung dürfe kein Unrecht geschehen. Der Frau geschah aber brutales Unrecht, wenn sie vom Manne einseitig und gegen ihren Willen entlassen wurde, denn ein Vertrag kann nur mit beiderseitiger freiwilliger Zustimmung einwandfrei gelöst werden. Eine einseitig vom Manne gelöste Ehe war also in moralischer Hinsicht nicht gelöst, und nun wird verständlich, dass jemand, der eine solche Frau heiratete, einen Ehebruch beging. Nach dem bürgerlichen Recht jener Zeit war die geschiedene Frau frei, aber sie war es nicht nach moralischem Recht. Diesen tieferen Sinn des Ehebandes hat Christus mit jenem Wort gemeint, und nur im Hinblick auf jene Zeit. Heute ist die Frau dem Manne gleichberechtigt, und wenn sie der Scheidung freiwillig zustimmt und wenn beide Gatten darauf achten, dass kein Unrecht geschieht, so sind sie frei und das Verbot der Kirche, dass ein geschiedener Gatte nicht wieder heiraten dürfe so lange der andere Gatte noch lebe, hat anscheinend keinen Grund mehr."
Als Erna die Verse 10-12 bei Matthäus 19 vorgelesen hatte, sagte Friedmar: "Luther hat diese Verse nicht gut übersetzt; eine bessere Übersetzung von Stage lautet: Da sagten die Jünger zu ihm: wenn es so steht mit dem Scheidungsgrund, auf den der Mann allein gegen seine Frau sich stützen darf, dann ist es besser, nicht zu heiraten. Er sprach zu ihnen: nicht alle verstehen den Grundsatz, den ihr da aufstellt, dass es nämlich besser ist, nicht zu heiraten, sondern nur die, denen das tiefere Verständnis dafür gegeben ist. Es gibt nämlich Entmannte, die so geboren sind vom Mutterleibe her; es gibt andere, die von den Menschen entmannt sind; und es gibt endlich solche, die sich selbst entmannt haben um des Himmelsreiches willen, d.h. die auf die Ehe freiwillig verzichten. Wer es verstehen kann, verstehe es! - Dieser letzte Satz deutet an, dass es in der Ehefrage noch Gesetze und Zusammenhänge gibt, die den Menschen unbekannt sind - was man übrigens auch noch aus andern Gründen vermuten darf."
"Das muss wahr sein, denn Christus sprach an dieser Stelle noch einige Worte, die auf solche Gesetze und Zusammenhänge hindeuten, so als er sagte: "was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen", und "vom Anbeginn ist es nicht also gewesen." Was hat Gott zusammengefügt, und wie war es denn von Anbeginn? Kann nicht jener Satz als Verbot der Ehescheidung aufgefasst werden?"
"Man kann ihn so verstehen, und er wird wohl auch so verstanden, aber er ist nicht eindeutig und gestattet auch noch eine andere Auslegung. Ich muss wieder auf unsere Erschaffung zurückgehen. Gott schuf Geister, nicht Menschen, und zwar so, dass er zwei Geister ungleicher Polarität, einen Manngeist und einen Weibgeist, auf einen gemeinsamen Grundton abstimmte, ihnen eine gemeinsame, nur ihnen eigene Prägung gab, die sie von allen andern Geistern unterscheidet; zwei Wesen, zwei Individualitäten, aber harmonisch aufeinander abgestimmt und in gleicher Harmonie mit keinem andern Geist übereinstimmend. Vereint wurden sie durch ein gemeinsames Fluidum, durch ein magnetisches Band, nicht in dem Sinne, dass sie nun wie durch einen Strick aneinander gebunden waren, sondern so, dass dieses dehnbare, magnetische Band der unsichtbare Faden war, an dem sie, wenn getrennt, immer wieder zueinander fanden. So bildeten sie zwei Hälften eines Ganzen, gleich den Polen eines Magneten. Dieses Ganze umfasst Liebe, Weisheit, Kraft und Schönheit. Der Anteil der einen, der positiven, gebenden Hälfte, des Manngeistes, ist Weisheit und Kraft, der Anteil der andern, der negativen, nehmenden Hälfte, des Weibgeistes, ist Liebe und Schönheit. In dieser Verbindung der beiden Geister, in dieser Verteilung der Gaben ist kein Teil dem andern übergeordnet, kein Teil gegen den andern benachteiligt; beide Geister sind gleichwertig und gleichberechtigte Hälften eines Ganzen. Von der Vierheit der Gaben bilden Liebe und Weisheit die obere, mehr geistige Stufe, Kraft und Schönheit die untere, mehr materielle Stufe, und Liebe fühlt sich zur Weisheit, Kraft zur Schönheit hingezogen. Ein materielles Abbild dieser Ordnung sind Mann und Weib; der Mann liebt und sucht am Weibe die Schönheit und die Liebe, das Weib am Manne die Weisheit und die Kraft."
Friedmar fuhr fort: "Solange die Geisterpaare im Gesetz wandeln und mit Gott eins sind, bleiben sie auch untereinander harmonisch und können gemeinsam, ohne Trennung das ihnen bestimmte Ziel: Vollkommenheit und Seligkeit, erreichen. Anders, wenn sie aus dem Gesetze treten, mit Gott uneins werden, also fallen; dann werden sie auch untereinander uneins, weil sie noch unvollkommen sind und jedes andere Gelüste hat; das magnetische Band zerreisst, sie trennen sich und irren als einzelne Hälften in der Welt umher, erscheinen in der materiellen Welt als Mann und Weib, tragen in sich die Sehnsucht nach der andern Hälfte, nach der Ergänzung, nach der Dualseele oder Gattenseele, suchen sie und finden sie nicht, verbilden ihre Individualität durch Sünden mancherlei Art und müssen viele Leiden und Sühnen durchmachen, bis sie soweit gereinigt und fortgeschritten sind, dass sie, erst selten, dann häufiger, zu einander geführt werden und dann schliesslich wieder gemeinsam der Vollkommenheit zustreben können. Während der Zeit der Trennung aber leiden sie durch unglückliche Ehen oder Einsamkeit, da sie die harmonisch abgestimmte Dualseele nicht finden, und auch wenn sie selbe finden, sind beide zuweilen so verbildet durch Sünde, dass sie keinen Frieden miteinander haben, obwohl sie sich durch eine unerklärliche Sympathie gegenseitig angezogen fühlen. Denn die ihnen von Gott gegebene Prägung kann durch Sünde wohl verdeckt, aber nicht vernichtet werden, und dies ist auch die Ursache, dass sie sich schliesslich doch wieder finden, finden müssen, auch wenn sie durch Äonen und Welten getrennt. In der Harmonie mit Gott und miteinander, im gegenseitigen Nehmen und Geben liegt die unaussprechliche Seligkeit der heilig gewordenen Geister, eine Seligkeit, von welcher das Glück auch der glücklichsten Ehe auf Erden nur ein schwacher Schatten ist, und diese Seligkeit sorgt auch dafür, dass den Geistern die Ewigkeit nicht lang wird. So also war es von Anbeginn geordnet, und so hat Gott die Geister zusammengefügt. Sollen wir aber dies Wort in dem Sinne auffassen, dass wir ein durch Sinnlichkeit oder andere unlautere Motive zusammen gekommenes und dann gesetzlich verbundenes Paar als von Gott zusammengefügt betrachten? Das hiesse ja dem Schöpfer die Torheiten und Laster der Menschen aufbürden. Diese Auffassung ist widersinnig, die andere ist vernünftig; sie ist übrigens nicht ganz neu, obwohl in dieser klaren Form noch nicht ausgesprochen. Der Glaube der Griechen, ich meine, dass Plato im "Gastmahl" den Aristophanes sagen lässt, Mann und Weib seien in der Urzeit in einem Körper vereinigt gewesen, ist wahrscheinlich nur die dunkle, missverstandene Ahnung von der Dualität der Geister, wie ja auch die Paradiesfrage das materielle Abbild einer geistigen Wahrheit ist."
"Wie wunderbar!", sagte Mechthildis, "nun verstehe ich manches im Liebesleben besser. Aber sagt, Friedmar, hat wirklich jeder Mensch eine Gattenseele, und ich auch? Und gibt's ein Mittel, sie zu finden? Ist die sogenannte Liebe auf den ersten Blick das Zeichen, dass diese Menschen zusammengehören?"
"Gewiss habt auch Ihr eine Gattenseele, und vielleicht denkt sie jetzt gerade an euch und sehnt sich nach euch. Ein Mittel, sie zu finden, gibt es nicht; Ihr könnt nicht mehr tun als moralisch fortzuschreiten und Gott bitten, dass er euch die Gattenseele finden lasse. In Geduld abwarten, was kommt. Es ist selten, dass die Gattenseelen sich finden auf Erden. Zuweilen begegnen sie sich und wissen es nicht, wie es mir erging."
"Bitte, bitte, erzählen."
"Aber Kind, wie kann man nur so neugierig sein", sagte Erna.
"Mutter, das ist doch sehr interessant; wir sind doch Freunde, und ich sage es nicht weiter."
"Da ist nicht viel zu erzählen. Ich lebte mit Elsa sehr glücklich. Nach ihrem Tode sprach sie mit mir durch Medium Adelma und sagte mir unter anderem, dass wir Duale seien. Der Schutzgeist des Mediums, ein hoher Geist, der sich in diesen Dingen auskannte, hat es bestätigt. Das ist wieder so ein Fall, dass man persönlich von der Wahrheit der Mitteilung überzeugt sein kann, aber unfähig ist, sie andern zu beweisen."
"Warum finden sich die Dualgeister nur selten auf der Erde? Wenn sie sich häufiger fänden, gäbe es weniger unglückliche Ehen."
"Das Eheglück hängt nicht allein davon ab, sondern vor allem von der moralischen Stufe der Eheleute. Auch Dualgeister können so tief gesunken sein, dass sie als Eheleute sich schlecht vertragen, und dualgeistig nicht zusammengehörige Menschen können in harmonischer Ehe leben, wenn die Charaktere zusammenpassen. Was nun die unglücklichen Ehen betrifft, deren Zahl ihr vermindert sehen möchtet, so gehören sie in das Gebiet der ausgleichenden Gerechtigkeit und sind daher von grossem Wert für den geistigen Fortschritt, so seltsam dies auch scheinen mag. Da die allermeisten Geister die Erde sich wiederholt einverleiben, so kommt es vor und gar nicht selten, dass Geister, die in einem Erdenleben als Eheleute verbunden waren, auch in einem folgenden Erdenleben so verbunden sind, und zwar besonders dann, wenn sie einander was schuldig geworden sind, dass sie sühnen müssen. Die Einverleibungen werden dann so geleitet, dass diese Menschen sich infolge oft sonderbarer Umstände begegnen und sich ehelich verbinden. Wenn dann der Rausch der Sinne verfliegt und die Untugenden sich mehr und mehr zeigen, beginnt entweder der Leidensweg der Vergeltung, wobei die Rollen oft vertauscht sind und die Ehegatten sich gegenseitig plagen und nicht selten dies auch gern tun, oder sie gehen den Leidensweg der Sühne durch geduldiges Ertragen der gegenseitigen Mängel, durch Vergebung und Nachsicht. Beide Wege sind schwer, mit dem Unterschied, dass der zweite Weg die Ehegatten moralisch fördert, während der andere Weg sie mit neuer Schuld belädt. Es ist auch möglich, dass der eine Teil sühnt durch Vergebung und Nachsicht, während der andere Teil verstockt bleibt. Von allen diesen Eheleuten kann man sagen, dass Gott, genauer ausgedrückt, das von Gott gegebene Gesetz der Sühne sie zusammenführt, und es ist also nicht ratsam, die Ehe zu trennen, denn die Eheleute berauben sich dadurch der Gelegenheit, die Härten und Mängel ihres Charakters abzulegen und ihre gegenseitige Schuld zu tilgen."
"Gut, aber was geschieht, wenn sie sich doch trennen? Sie wissen ja nichts von diesen Dingen."
"Einmal müssen sie die Schuld tilgen, und wenn sie es jetzt nicht tun, so sehen sie sich in einem folgenden Erdenleben wieder vor dieselbe Aufgabe gestellt, und so lange gestellt, bis die Aufgabe gelöst ist. Vom gegenseitigen Freimachen in Liebe, das viel Schuld tilgen könnte, wissen diese Menschen nichts, und wenn sie es wüssten, würden sie es in ihrer Verstocktheit und Bosheit wahrscheinlich nicht tun. So bleibt nur das Leiden als Sühne. Ich bin nun geneigt, das Christuswort "was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht trennen" auf die eben besprochenen Ehen - Sühne-Ehen - zu beziehen, weil es darauf passt, während das andere Wort "aber von Anbeginn ist es nicht also gewesen" das Dualgesetz der Geister betrifft. - Anders verhält es sich mit Ehegatten, die einander nichts schulden aus einem früheren Erdenleben. In solchem Falle ist es weniger bedenklich, die Ehe zu trennen, wenn die Charaktere sich als unverträglich erweisen und Gefahr besteht, dass die Eheleute durch Fortsetzung der Ehe sich mit Schuld beladen und Rückschritte machen statt Fortschritte. Das Gebot, sich gegenseitig in Geduld und Nachsicht zu ertragen, gilt allerdings auch hier; sollte es aber zu schwer fallen, so scheint die Ehescheidung der richtige Ausweg zu sein."
"Aber weiss man, ob die Ehegatten von früher her einander moralisch verschuldet sind oder nicht?"
"Das weiss man nie, und darum scheint die Ehescheidung in jedem Falle eine bedenkliche Sache zu sein, denn immer besteht die Möglichkeit, dass man eine Torheit begeht und sich neue Leiden schafft. Wenn die Menschen wüssten, in welche Gefahren sie sich begeben durch leichtfertiges Heiraten, würden sie sich den Schritt gründlicher überlegen. Vernünftige Belehrung allein kann die Zahl der unglücklichen Ehen vermindern."
"Meinst du das wirklich?" wandte Hallerstede ein. "Ich erwarte von der Belehrung nicht viel. Die jungen Leute, blind in ihrer Verliebtheit, pflegen auf Rat und Belehrung nicht zu hören. Und nicht nur jungen, auch alten Leuten verdreht die Liebe den Kopf. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Goethe, der sich als alter Mann über siebzig in ein junges Mädchen verliebte. Man könnte auf den Gedanken kommen, die Eheschliessungen zu erschweren und erst nach einer gewissen Prüfungs- und Belehrungszeit zu gestatten, aber abgesehen davon, dass man sich solche Eingriffe in die persönliche Freiheit nicht mehr gefallen lässt, haben wir in der Kriegszeit und nachher gesehen, dass Gebote und Verbote der Behörden gern umgangen werden, und die eigentliche Ursache der unglücklichen Ehen, die Unvollkommenheit der Menschen, bleibt ja doch bestehen. Wenn Gesetze einer höhern, unsichtbaren Welt unser Leben leiten, wie du sagst, sehe ich nicht ein, wie man in den Lauf der Dinge eingreifen und Unglück verhüten könnte. Es kommt doch alles so, wie es kommen muss."
"Dieser letzte Satz ist richtig, wenn man ihn richtig versteht", sagte Friedmar, "aber du gehst zu weit, wenn du die Belehrung für ganz unnütz hältst. Ich meine, dass eine kleine Anzahl kluger Köpfe, doch darauf hören wird. Wenn der Mensch sich Unglück bestimmt hat zur Sühne, d.h. wenn er als Geist es sich vor der Einverleibung gewählt hat, wird es ihn treffen; wenn er aber nicht zu sühnen hat durch eine unglückliche Ehe, so kann er durch Torheit zwar in Unglück geraten, aber er kann auch auf Vernunft hören und Unglück vermeiden. Die Anzahl dieser Vernünftigen ist zweifellos gering gegen die Anzahl der Toren, aber sie sind vorhanden, und dieser Umstand würde die Belehrung rechtfertigen."
"Was mich betrifft", sagte Mechthildis, "so sollt Ihr recht haben und nicht an mir vorbeigeredet haben. Ich will vorsichtig sein und frei nach Schiller gründlich prüfen, bevor ich mich binde - weiss ich doch jetzt, dass auch die Folgen des Hasses über das Grab hinaus dauern können. Und tröstlich ist mir auch die Erkenntnis, dass es ein unter allen Umständen gültiges Verbot der Ehescheidung nicht gibt."
"Nein, in der moralischen Weltordnung gibt es kein solches Verbot; der Mensch hat die Freiheit des Handelns. Er soll aber die Umstände erwägen, soll bedenken, dass er den Folgen seiner Taten nicht entgehen kann; dann mag er nach bestem Ermessen handeln."
"Wollt Ihr uns nicht auch etwas sagen über den Zustand der Ehegatten nach dem Tode?" bat Erna.
"Dieser Zustand hängt ab von der Art ihres Erdenlebens. Lebten sie harmonisch miteinander, so finden sie sich drüben wieder und der Vorangegangene pflegt den andern bei dessen Tode abzuholen. Sind sie keine Duale, so leben sie miteinander und mit andern Geistern in Freundschaft, bis im Laufe der Zeit ihre Wege sich trennen durch neue Einverleibungen und später jeder Gatte seine Dualseele findet. Haben sie als Menschen schwer an- oder miteinander gesündigt, so können sie sich ebenfalls im Geisterlande finden, sind nun aber durch Schuld verbunden und müssen in späteren Einverleibungen sühnen. Waren die Ehegatten moralisch sehr ungleich, so kommt jeder an den Ort, der seiner Stufe entspricht, und es kann lange dauern, bis sie sich begegnen, auch ist möglich, dass sie sich nicht wiedersehen. Alles geht gesetzmässig, aber eine Regel kann man nicht aufstellen, man kann nur in grossen Zügen den Verlauf angeben."
"Ich bin froh, dass Ihr uns in dieser wichtigen Frage so klar belehrt habt, wie wir es bisher nirgendwo gefunden. Unter unsern Bekannten sind nämlich einige Ehepaare, die nicht wissen, ob sie sich trennen sollen oder nicht. Jeder einzelne ist ein vortrefflicher Mensch, und doch leben sie aneinander vorbei. Vielleicht kann ich die Verhältnisse ein wenig klären."
"Belehren dürft Ihr, aber im Ratgeben seid vorsichtig, damit Ihr euch nicht in das Schicksal dieser Menschen verstrickt durch unrichtige Beratung. Ihr kennt nicht ihre Vergangenheit und nicht ihre Aufgabe für dieses Erdenleben und könnt darum leicht unrichtig beraten. Mischt euch nicht ein und lasst sie ihren eigenen Weg gehen. Sie müssen die Folgen ihres Tuns tragen und dürfen sich darum entschliessen nur aufgrund eigenen Nachdenkens. Aber Ihr könnt ihnen die Entschliessung erleichtern, indem Ihr sie über die Gesetze der moralischen Weltordnung unterrichtet, und auf diese Weise könnt Ihr wohl ein gutes Werk tun. Übrigens bemerke ich noch, dass nicht nur Ehegatten durch das Karmagesetz zusammengeführt werden, sondern auch andere Menschen; sie begegnen sich als Freunde, Feinde, Bekannte, als Eltern und Kinder, um alte Rechnungen zu begleichen, allerdings nur dann, wenn solche Rechnungen über das Mass des Alltäglichen hinausgehen. Und schliesslich können Rechnungen auch im Jenseits ausgeglichen werden. Wo der Ausgleich stattfindet, ist nicht so wichtig, als dass er überhaupt stattfindet."
"Nun zu etwas anderem", sagte Mechthildis. "Als ich eben achtlos im Neuen Testament blätterte, fiel mein Blick auf einen Ausspruch Christi, der mir schon früher sonderbar vorkam, mir heute aber ganz unverständlich ist: so dir jemand auf den rechten Backen schlägt, dem biete den andern auch dar! Wozu das?"
"Ich halte das Wort nicht für echt. Nimmt man es buchstäblich, so ergibt sich kein vernünftiger Sinn. Welchen Zweck hätte es, jemanden, der mich ohrfeigt, einzuladen, mich noch mehr zu schlagen? Das würde seinen Übermut stärken und mir unnütz Schmerz bereiten, ohne dass einer irgendwelchen Nutzen davon hätte. Das Wort ist sinnlos, und seine Befolgung würde letzten Endes dazu führen, Torheit und Laster zu stärken. Will man ihm aber den Sinn unterlegen, dass man den Widersacher durch Grossmut gewinnen soll, so ist der Ausdruck ungeschickt und unverständlich. Ebenso steht es mit dem folgenden Vers: so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. - Die beiden folgenden Verse sollen sagen, dass man in der Hilfe nicht kleinlich sein möge. Immer aber ist zu bedenken, dass man das Laster nicht unterstützen soll. - Es gibt Menschen - Bibelmaterialisten nenne ich sie - die jedes Bibelwort buchstäblich nehmen und dadurch zu seltsamen, ja sinnlosen Ansichten kommen und diese Ansichten auch noch eifrig verteidigen - kein Wunder, dass des Haders kein Ende ist und nicht wenige Menschen sich ganz von der Bibel abwenden."
"Ihr kennt gewiss die Ansicht einiger Gelehrter, dass Christus überhaupt nicht gelebt habe. Ich hörte darüber einen Vortrag. Der Redner sagte, die Evangelien seien eine Mischung von astrologischen, mythologischen und religiösen Sagen und Vorstellungen morgenländischer Völker und als Geschichtsquelle unzuverlässig. (Fussnote 16) Ihr scheint anderer Ansicht zu sein, denn wenn Ihr jenen Gelehrten zustimmt, würdet Ihr euch wohl nicht bemüht haben, uns das Glaubensbekenntnis und andere Lehren so ausführlich zu erklären."
"Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Evangelien fremde Zusätze und Bestandteile enthalten, und man kennt auch einigermassen die Herkunft derselben. Gewiss ist auch, dass die Evangelien keine Originale sind, sondern Niederschriften mündlicher Überlieferungen und schriftlich festgelegt, soviel man bisher ermitteln konnte, frühestens etwa gegen Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Also die Urschriften besitzen wir nicht, sondern nur Abschriften, und die ältesten dieser Schriftrollen stammen aus dem vierten Jahrhundert. Wenn nun ein Werk durch so viele Hände geht, darf man wohl bezweifeln, dass die Abschriften und Übersetzungen immer ganz getreu waren, auch wenn man die besten Absichten bei den Schreibern voraussetzt. Die Evangelisten schrieben nicht als Historiker in unserem Sinne, sie schrieben als begeisterte Anhänger der Lehren ihres Meisters und nahmen es mit der geschichtlichen Wahrheit nicht so genau, wie wir jetzt verlangen würden. Sie schrieben die Berichte so nieder wie sie selbe verstanden, liessen weg, setzten zu oder veränderten je nach ihrer Auffassung, nicht um zu fälschen, sondern um ein abgerundetes, zusammenhängendes Ganze[s] zu schaffen und um den Meister zu ehren und zu verherrlichen. (Fussnote 17) Diese Umstände vermindern den historischen Wert der Evangelien und erklären auch die Beimischungen fremder Bestandteile und die Ähnlichkeit mit Sagen und Erzählungen anderer Völker.
Weiter weisen die Kritiker darauf hin, dass die Profanliteratur jener Zeit von einem Lehrer und Wundertäter Jesus nichts berichtet. Alles dies kann man zugeben, ohne jedoch genötigt zu sein, das Erdenleben Christi ganz zu leugnen. Das Beiwerk und die Ähnlichkeit mit andern Sagen und Mythen vermindert wohl den historischen Wert der Evangelien, beweist aber nicht, dass sie nun ganz und gar Dichtung sind. Es ist sehr wohl möglich, dass ihnen Tatsachen zugrunde liegen, ein Kern, den die Phantasie oder frommer Eifer mit allerlei Zutaten aus den damals umlaufenden Sagen und Mythen ausgeschmückt hat. Ein solcher Vorgang wäre nicht ungewöhnlich; alle Völker lieben es, ihre weltlichen und religiösen Helden ins Übermenschliche zu steigern. Magier und religiöse Schwärmer waren damals nicht selten und erregten kein besonderes Aufsehen, die Lehren aber, die Christus verkündete, scheinen den Literaten jener Zeit - wenn sie überhaupt davon erfuhren - unverständig [unverständlich; Anm.d.Erf.], unnütz und nicht beachtenswert gewesen zu sein. Wäre Christus ein Eroberer, ein Feldherr gewesen oder ein bedeutender Dichter oder Philosoph, der weltliche Weisheit lehrte und schriftlich niederlegte, so hätten die Literaten ihn wahrscheinlich bekannt gemacht, aber über einen einfachen, sonderbare Lehren verkündenden Rabbi zu berichten, dazu fühlten sie sich nicht veranlasst. Auch ist noch etwas anderes zu bedenken. Die jüdische Priesterschaft in ihrem glühenden Hass wird nichts unterlassen haben, alle Christus betreffenden Zeugnisse, deren sie habhaft werden konnte, zu vernichten, die wenigen Schriftrollen aber, die dieser Vernichtung entgingen, mögen in den Unruhen jener Zeit auf andere Art verloren gegangen zu sein. Wie dem auch sei: das Schweigen der zeitgenössischen Schriftsteller über Jesus ist kein Beweis gegen sein Erdenleben. Ein Beispiel möge das klar machen. Wenn ich an einem Ort gelebt habe, und die Schriftstücke, die mich und mein Wirken betreffen, gehen verloren, so ist das Fehlen dieser Schriftstücke doch kein Beweis, dass ich nicht dort gewesen bin oder garnicht gelebt habe. Jener vermeintliche Beweis gegen das Erdenleben Jesu schmeckt doch sehr nach dem bekannten Wort: was nicht in den Akten ist, ist nicht vorhanden. Wenn die Evangelien den Anforderungen, die man heute an historische Dokumente stellt, nicht genügen, so steht anderseits die Behauptung, dass Christus nicht gelebt habe, ebenfalls auf schwachen Füssen. Ich meine sogar, dass der Beweis für die Behauptung nicht zu erbringen ist, so sehr auch einige Gelehrte sich darum bemühen. Denn wenn man den Beweis des Erdenlebens Christi von unangreifbaren schriftlichen Zeugnissen abhängig macht, kann man immer einwenden, dass die Zeugnisse verloren gegangen seien und dass ihr Fehlen also nichts beweise. Auf diese Art ist der Streit also nicht zu entscheiden, da es immer von der geistigen Einstellung des Forschers abhängt, welchen Umständen er die stärkere Beweiskraft beilegt.
Dagegen hat man mit Recht darauf hingewiesen, dass eine so grosse geistige Bewegung, wie das Christentum sie darstellt, nicht von selbst entstehen konnte nur aus dem Zeitbewusstsein heraus, wie man den Zustand jener Zeit genannt hat. Ein solches Entstehen wäre eine Wirkung ohne Ursache gewesen. Die Disposition war vorhanden, aber sie allein genügte nicht, es musste auch der Anstoss, eine Kraft da sein, welche die Wirkung auslöste und in eine bestimmte Richtung trieb. Diese Kraft war so eigenartig, so auf ein klar erkennbares Ziel gerichtet, dass sie sich aus dem Zeitbewusstsein allein nicht erklären lässt. Ein Beispiel aus der Gegenwart: die heutige Sozialdemokratie hatte die Disposition zu ihrer Entstehung in der schlechten wirtschaftlichen Lage der Arbeiter, aber das geistige Gepräge gab ihr Karl Marx. Wenn nun nach tausend Jahren unsere Bibliotheken spurlos verschwunden sein werden - wozu infolge des schlechten Druckpapiers alle Aussicht besteht -, so werden die Gelehrten jener Zeit die Existenz von Karl Marx mit den gleichen Gründen bestreiten können, die man heute gegen das Erdenleben Christi anführt - wenn sie sich nur auf starre Logik und unangreifbare Dokumente stützen und wichtige andere Umstände ausser acht lassen. Bei so einseitiger Einstellung ist es nicht erstaunlich, dass ein kritischer Kopf das Erdenleben Christi leugnet, besonders, wenn er sieht, wie es in den Kirchen zugeht."
"Du hast dich so entschieden geäussert, dass ich annehme, du stehst auf festem Grunde."
"Nach meiner Ansicht haben die für das Erdenleben Christi sprechenden Beweise das Übergewicht, die Beweise der Christusleugner sind nicht zwingend. Was aber die Kritiker der Evangelien auszusetzen finden: Widersprüche, Unstimmigkeiten, Ähnlichkeiten mit Sagen und Mythen anderer Völker und die Benützung von Sprüchen der jüdischen Literatur, so betrifft das nur die Form, nicht das Wesen der Lehre Christi. Der Kern dieser Lehre ist so klar, dass man ihn von den Nebensachen deutlich unterscheiden kann. Es gehört nicht zum Wesen der Lehre Christi, dass alle seine Worte absolut neu und originell sein mussten - warum sollte er eine vorhandene Weisheit nicht ebenso wieder aussprechen dürfen, wie auch unsere Schriftsteller gelegentlich fremde Weisheit wiederholen? Auch ist es eine nicht unbegründete Vermutung, dass gerade das Originale seiner Lehre, seine tiefste Weisheit nicht aufgezeichnet worden ist, weil sie überhaupt nicht verstanden wurde. Dagegen war es der Zweck des Erdenlebens, durch sein Erscheinen und seinen Wandel ein leuchtendes, für alle Zeiten gültiges Beispiel und Vorbild der Liebe zu geben und dem Sehnen und Suchen der Menschen einen untrüglichen Weg zu weisen. Die Kraft dieses Anstosses erkennt man an den Wirkungen, sie ist beispiellos und unberechenbar und durchaus noch nicht erschöpft. Die Torheit der Menschen hat die reine Lehre verdunkelt und missbraucht und den Zweck seines Erscheinens verkannt, das Licht drohte zu verlöschen und ein grober, ganz auf das Diesseits gerichteter Materialismus schien das religiöse Leben vieler, vieler Menschen zu ersticken - nun offenbart sich seit Jahrzehnten die Geisterwelt in allen Zungen, um uns zu sagen, dass die Seele nach dem Leibestode fortlebe, dass es ein Jenseits gebe und dass die Lehre der Liebe und der ausgleichenden Gerechtigkeit kein Wahn sei. Hohe Geister bezeugen Christi Leben und Wirken im Jenseits und als Herrscher unserer Erde. Sie bezeugen auch sein Erdenleben und seinen Tod am Kreuz und sagten, beiläufig bemerkt, dass er Schriften hinterlassen habe, die samt den Urevangelien von den Jüngern vergraben worden seien aus Furcht vor den Juden, aber wieder aufgefunden werden sollen, wenn die Zeit dafür gekommen sei. Das wird sich später zeigen. Auch meine Frau hat mir von Christus berichtet. So ist diese Frage für mich gelöst. Mir genügen diese Zeugnisse als Bekräftigung der Evangelien, andern werden sie nicht genügen, den Materialisten nicht, weil sie die Existenz von Geistern überhaupt nicht anerkennen, den Orthodoxen nicht, eben weil sie von Geistern kommen."
"Ich meine, wir können diese Frage vorläufig auf sich beruhen lassen", sagte Hallerstede. "Ich halte die Frage der Wiedereinverleibung des Geistes von grösserer praktische Bedeutung, insofern sie eine unendliche und interessante Mannigfaltigkeit der Lebensschicksale in sich begreift, und darum würde ich gerne noch mehr darüber hören. Greifen wir wieder hinein ins volle Menschenleben. Ich hatte einen Vetter, der war blödsinnig. Der Menschheit ganzer Jammer packte mich an, wenn ich diesen Unglücklichen sah. Taub, stumm, halb gelähmt, lebte er stumpfsinnig dahin. Sein hartes Los liess mich an der Gerechtigkeit Gottes verzweifeln, aber zu urteilen nach dem, was ich von dir gehört, denke ich jetzt anders über den Fall und vermute, dass da eine geheime Gerechtigkeit waltet, aber wie? Die Theologen stehen da wieder vor einem peinlichen Rätsel. Sie sagen, das Erdenleben solle uns auf das Jenseits vorbereiten, aber dieser Blödling und viele, viele andere Geistesschwache und Dummköpfe sind ja unfähig dazu. Warum gibt Gott dem einen klaren Verstand, dem andern Irrsinn?"
"Derartige schwere Leiden sind eine Sühne früherer Sünden. Welcherart der Geist dieses Mannes in einem früheren Erdenleben gesündigt hat, entzieht sich zwar unserer Kenntnis, Mitteilungen hoher Geister über ähnliche Fälle lassen aber schliessen, dass er in seinem vorigen Leben grausam und gewalttätig war und sich gegen seine Mitmenschen schwer versündigte. Vielleicht war er ein harter Despot, ein Ketzerbrenner, vielleicht nur ein Scheusal in seinem privaten Kreise. So verhärtete Geister bedürfen einer entsprechend harten Sühne. Das Leiden dieses Geistes bestand darin, dass er eingesperrt war in einen Körper, dessen Organe ihm keine Möglichkeit gaben sich zu äussern; er befand in einem ähnlichen Zustand wie etwa ein mit Ketten gefesselter Gefangener in einem sehr engen Kerker. Vergesst nicht: wie der Geist sündigt durch den Körper, so sühnt er auch durch den Körper; immer ist der Geist der Urheber, der Körper nur Werkzeug."
"Jetzt glaube ich zu verstehen die dunklen Worte Christi bei der Heilung des Blindgeborenen", sagte Erna. "Jesus sagte: weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern dass die Werke Gottes offenbar würden an ihm. Das soll wohl heissen, dass nicht dieser Mensch gesündigt hat, sondern sein Geist in einem früheren Erdenleben, wofür er nun sühnt. Aber dazu passen die folgenden Worte nicht "sondern dass die Werke Gottes offenbar würden an ihm." Ist es vereinbar mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes, dass er einen Menschen lange und bitter leiden lässt, um seine Macht an ihm zu zeigen?"
"Ihr seid auf dem richtigen Wege", sagte Friedmar, "und ich brauche nur wenig nachzuhelfen, um den Sinn klar zu machen. Dies Wort ist wieder ein Beispiel dafür, dass man nicht am Buchstaben kleben darf, sondern in den Sinn eindringen muss. Gott ist so gross, dass er nicht nötig hat, den Menschen seine Werke zu offenbaren auf so harte Weise. Der wahre Sinn ist ein anderer. Ich bin überzeugt, dass bei der Niederschrift der Evangelien an dieser Stelle einige Worte ausgefallen sind, die den wahren Sinn herstellen. Der Vers soll wahrscheinlich so lauten: weder hat der Mensch gesündigt noch seine Eltern, sondern sein Geist hat in einem früheren Erdenleben schwer gesündigt, und nun, nachdem dieser Mensch willig geworden ist zum Guten, heile ich ihn, damit offenbar werde, dass Gott mir die Macht gegeben hat, solche Werke zu tun. In dieser Form würde der Vers übereinstimmen mit andern Aussprüchen Christi, worin er wiederholt sagt, dass nicht er wirke, sondern der Vater durch ihn, und dass er die Zeichen tue zum Beweise seiner göttlichen Sendung. Die so begründete Heilung steht im Einklang mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes, wobei ich euch erinnere an die Belehrung, die über das Binden und Lösen gegeben wurde."
"Hat mein Vetter diese Sühne freiwillig übernommen? Mir scheint das zweifelhaft."
"Der Geist eines bösen Menschen befindet sich nach dem Verlassen des Körpers in Dunkelheit oder Finsternis, weil die dichten, schweren Fluide, die er durch die Sünde an sich gezogen hat, ihn wie eine undurchsichtige Hülle umgeben und ihn vom Lichte abschliessen. Und auch sein inneres Licht, sein Erkenntnisvermögen, ist verdunkelt. In diesem Zustande kann er Jahrzehnte und Jahrhunderte bleiben in seelischer Pein und Unzufriedenheit. Dann kommt eine Zeit, wo er seine schlechten Taten um sich sieht, die Bilder oder Gespenster seiner früheren Opfer wollen sich auf ihn stürzen und ihn peinigen, und er, unfähig ihnen zu entrinnen, leidet sehr unter diesen Phantomen, die aber meist nur seine eigenen Schöpfungen sind, sozusagen kinematographisch reproduzierte Gedankenbilder seines eigenen bösen Innern. Aber auch wirkliche, hass- und wuterfüllte Geister, denen er früher Unrecht getan, können ihn erschrecken und verfolgen. Er ist in der Hölle, und die Hölle ist auch in ihm. Ich sagte euch schon, das Jenseits sei der von uns nicht wahrgenommene ätherische Teil der Welt; es ist also überall, aber es ist nicht überall gleich. Wie es im Diesseits schöne und unschöne, angenehme und unangenehme Gegenden gibt, wie auf den Bergen die Luft reiner und dünner ist als in der Ebene, so ist es auch im Jenseits. Die der Erdoberfläche am nächsten liegenden Regionen sind mehr oder minder dunkel, unschön, unangenehm, während mit zunehmender Entfernung vom Erdball die Regionen lichter, schöner, angenehmer werden. Die dichten, schweren Luftschichten und die dichten, schweren Fluide befinden sich also gleicherweise unten, dem Erdball am nächsten. Wie nun ein Gasballon so lange steigt, bis er sich mit der Luft im Gleichgewicht befindet, so kommt auch der Geist durch seine spezifische Schwere, d.h. die Schwere seiner Fluide, in die Regionen, wo die guten Geister leben, er bleibt unten in den unangenehmen Regionen und findet dort Geister, die ihm ähnlich sind. Er befindet sich also auch äusserlich in der Hölle, nicht in der Hölle der Teufel mit Pferdefuss und Feuerhaken, sondern in der Hölle, die überall ist, wo böse Geister und böse Menschen einander plagen..." "wie auf der Erde", unterbrach Hallerstede, "die Erde ist eine Hölle."
Friedmar lächelte vielsagend. "Oh, du ahnungsvoller Engel du! In dieser innern und äussern Hölle, die sich je nach der Individualität des Geistes verschieden gestaltet in den Einzelheiten, bleibt der böse Geist so lange, bis er unter dem Druck des Leidens einen Ausweg aus diesem peinlichen Zustand sucht, sich nach Hilfe sehnt. Dann kommen gute Geister und belehren ihn, dass er seiner quälenden Unzufriedenheit nur durch ernste Reue und Sühne ledig werden könne, und er, durch Schaden klug geworden, entschliesst sich zur Sühne, zu der Sühne, die seiner Sünde entspricht und ihm einen moralischen Fortschritt ermöglicht. Das Leben eines Blödlings ist allerdings nur Sühne, der Fortschritt kommt in solchem Falle erst nach dem Ende der Sühne. Aber die meisten Sühnen sind nicht so hart und sind oft Sühne und Aufgabe und Fortschritt zugleich."
"Also ist die Lehre vom Himmel und Hölle und Fegefeuer doch nicht ganz ohne Grund", meinte Erna. "Wie ich euren Worten entnehme, enthalten viele Lehren der Kirche einen wahren Kern, der aber missverstanden und mit allerlei Beiwerk umhüllt wurde."
"So ist es. Es gibt eine Hölle, die aber nicht das Werk Gottes, sondern der gefallenen Geister ist, und man braucht auch nicht ewig darin zu sein. Um nun aber nicht auch missverstanden zu werden, sage ich ausdrücklich, dass meine Beschreibung der Sühne des Blödlings nur ein Bild in allgemeinen Zügen ist, ein Bild, das sich bei jedem Geist verschieden gestaltet, seiner Eigenart gemäss. Der reine, gute Geist, der nicht durch Sünde grobe, schwere Fluide an sich gezogen hat, gelangt nach dem Leibestode sofort oder bald in lichte, angenehme Regionen. Zwar muss auch er eine Selbstprüfung durchmachen, muss vergleichen, was er gewollt und war er erreicht hat, aber diese Prüfung dauert nicht lange und macht ihm keine höllische Pein. Dann kann er von Stufe zu Stufe, von einer Seligkeit zur andern steigen, lernend, lehrend, geniessend die Ewigkeit hindurch als Mitarbeiter Gottes in die Schöpfung."
"Der Geist des Blödlings hat die harte Einverleibung anscheinend doch nicht freiwillig übernommen, sondern unter dem Druck des Leidens", wandte Hallerstede ein, "das scheint mir der Freiheit des Geistes zu widersprechen."
"Ich glaube nicht. Hier ist die Frage: hat ein so tief gesunkener Geist, der Sklave seiner Laster und Leidenschaften, überhaupt noch Freiheit? Je tiefer der Geist sinkt, um so mehr verliert er seine Freiheit. Je höher und reiner die Erkenntnis, um so grösser die Freiheit. Das Leiden ist die Folge des Falles, der Geist hat es sich selbst zugezogen. Der Geist ist gefangen in den Folgen seiner Taten. Diese Folgen, sein unangenehmer Zustand, sind sein Werk, sein selbsterworbenes Eigentum, das ihm nicht genommen werden darf, und aus diesem seinem Eigentum heraus erwacht in ihm der Wunsch und Wille, seine Lage zu verbessern. Dieser Wille tritt demnach nicht als etwas Fremdes von aussen an ihn heran, sondern entsteht in ihm selbst, ist also frei in dem Sinne, wie wir die Freiheit definiert haben, dass nämlich keine fremde, äussere Macht den Geist zu irgend etwas zwingt. Man muss nur weit genug zurückgreifen, so wird alles klar."
"Ich entnehme daraus", erwiderte Hallerstede, "dass Geister auf mittlerer und höherer Stufe eine grössere Freiheit bei der Einverleibung haben als niedere Geister, etwa so, wie kleine unerfahrene Kinder die ihnen zugewiesene Schule besuchen, während der erwachsene Mensch die Schule wählt, die ihn am meisten fördert."
"Der Vergleich ist richtig im allgemeinen. Massgebend für Art, Ort und Zeit der Einverleibung ist die Aufgabe, die der Geist sich stellt für sein nächstes Erdenleben, ob sie nun auf Sühne, auf Fortschritt oder auf beides abzielt. Schuld, die gesühnt werden muss, verringert die Freiheit der Wahl und führt den Geist zu einem Elternpaar, das ihm Gelegenheit zur Erfüllung seiner Aufgabe gibt. Immer aber ist die Einverleibung gerecht und bestimmt durch die Stufe des Geistes und durch die Aufgabe, die er im Erdenleben zu leisten hat. Auch für die Einverleibungen gelten die vier Grundlagen der moralischen Weltordnung: Liebe, indem Gott den Geist nicht verloren gehen lässt und ihm soviel Einverleibungen gibt als er braucht; Weisheit, indem das Erdenleben dem Zweck entsprechend gewählt wird; Gerechtigkeit, indem der Geist das Erdenleben bekommt, das er verdient; Freiheit, indem der Geist wählen darf, soweit dies sich mit dem Zweck verträgt. Es ist also nicht so, dass, wie die Inder lehren, jeder Geist, ob hoch oder nieder, nur durch sein Karma sozusagen automatisch dem ihm gemässen Elternpaar zugeführt wird. Diese Ansicht beruht auf ungenügender Kenntnis der moralischen Weltordnung. Dass viele Geister die Einverleibungen nicht richtig benützen oder dass sie sich irren in der Wahl, ist eine andere Sache und hat nichts zu tun mit der Ordnung, nach welcher sie geschehen."
"Also steht jeder Mensch an dem Platz, den er sich durch sein Verhalten in der Vergangenheit selber bestimmt hat?" fragte Hallerstede gespannt.
"Gewiss. Ich wiederhole: der Geist ist seines Glückes und Unglückes Schmied, und nur er allein. Der Mensch aber ist nur eine vergängliche Erscheinungsform des Geistes für eine begrenzte Zeit und zu einem gewissen Zweck."
"Diese Lehre ist von unermesslicher Tragweite", sagte Hallerstede, "und in diesem Licht betrachtet, scheint die soziale Ordnung ja gerecht zu sein, vollkommen gerecht, obwohl sie, oberflächlich betrachtet die grösste Ungerechtigkeit zu sein scheint."
"Ich halte sie für gerecht, gebe aber zu, dass diese Gerechtigkeit nicht leicht zu erkennen ist und dass sie vielen, wahrscheinlich den meisten Menschen nicht gefällt."
"Ich hatte sie mir anders gedacht und glaube, dass deine Ansicht heftigem Widerspruch begegnen wird."
"Ob die Gerechtigkeit gefällt oder nicht, danach werden wir nicht gefragt. Die Sonne leuchtet doch, auch wenn wir die Augen dem Lichte verschliessen. Wenn die Menschen die Gerechtigkeit nach ihrem Gefallen oder ihrer beschränkten Erkenntnis zu bestimmen hätten, möchte ich mich dieser Gerechtigkeit nicht unterwerfen."
"Wird man nicht deine Theorie als Dogma hinstellen, erfunden zu dem Zweck, die Menschen in Unterwürfigkeit vor Thron und Altar zu erhalten und besonders die Unterdrückung der Armen und Schwachen zu begründen und zu beschönigen?"
"Das kann man und wird es wahrscheinlich auch tun, wenn sie eine grössere Verbreitung erlangt haben wird. Die Möglichkeit, als Dogma hingestellt zu werden, teilt sie mit jeder andern Lehre und Hypothese, die sich sinnlich durch greifbare Tatsachen beweisen lässt. Wer Liebe, Weisheit, Freiheit und Gerechtigkeit nicht anerkennt als Grundlage der moralischen Weltordnung, möge eine bessere Grundlage nennen. Wer sie aber anerkennt, wer logisch denken und unbefangen zu urteilen vermag, wer ehrlich genug ist, sich neuen Erkenntnissen, Wahrheiten und Tatsachen nicht zu verschliessen, der hat ja Gelegenheit, nachzuprüfen, ob und wie weit Lehre und Wirklichkeit übereinstimmen. Unbeugsame Wahrheitsliebe, unbefangenes und streng logisches Denken sind allerdings erforderlich zu einem gerechten Urteil. Um nur eins herauszugreifen: wie kann man die grosse Verschiedenheit der Menschen in der moralischen und geistigen Begabung bei gleicher Rasse und Abstammung besser und einfacher erklären als durch die Verschiedenheit der die Menschenkörper belebenden Geister? Diese Erklärung ist einfach und löst die Frage restlos, während die Versuche, die Ungleichheit der Menschen aus der Umwelt, der Vererbung und den Windungen der Gehirnhaut zu erklären, sich als verfehlt erweisen und nur einige Äusserlichkeiten, aber nicht den Kern der Frage betreffen.
"Was deine andern Bedenken betrifft", fuhr Friedmar fort, "so sei unbesorgt; die Geistlichen aller [christlichen; Anm.d.Erf.] Konfessionen, mit wenigen Ausnahmen, hassen die Lehre von der Wiedereinverleibung des Geistes, weil sie nicht in der Bibel steht - was übrigens nicht ganz richtig ist -, hassen sie auch noch aus andern Gründen. Wenn nicht besondere Umstände eintreten, werden die Geistlichen diese ihnen unangenehme Lehre noch lange abweisen. Deine Besorgnis nun, diese Lehre könnte die Ausnutzung der Armen durch die Reichen rechtfertigen, ist ebenfalls hinfällig, denn diese Lehre sagt wohl den Armen, dass sie sich ihr Los selber bestimmt haben, aber sie sagt auch den Reichen, dass sie den Missbrauch des Reichtums werden büssen müssen. Ob arm oder reich: jeder erntet die Folgen seines Tuns und seiner Gesinnung. Die Forderung der Sozialisten, dass jedem Menschen der volle Ertrag seiner Arbeit zuteil werde - in der moralischen Weltordnung ist sie in aller Strenge erfüllt. Eine vollkommenere Gerechtigkeit kann ich mir nicht denken. Der Arme, der den Reichen beneidet, war in seinem vorigen Erdenleben vielleicht selbst ein reicher Mann, aber einer, der den Reichtum übel erwarb und übel anwandte. Der Arme dagegen, der nach Tugend strebt, hat Aussicht, in einem folgenden Leben reich zu sein, um auch die Probe des Reichtums zu machen. Und diese Probe ist viel schwerer zu bestehen als die Probe der Armut, denn der Reiche hat viel mehr Gelegenheit zu sündigen als der Arme, braucht also auch mehr Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Und die Versuchungen können in so lockender, harmloser Form erscheinen, dass sie als solche nicht erkannt werden und daher doppelt gefährlich sind. Gar mancher Geist, der die Probe des Reichtums mit ungenügender Kraft unternahm, versank in Sünde und Laster und schuf sich dadurch bitteres Leid. Aber Gott liess es geschehen, weil er wusste, dass dies Leid den verirrten Geist auch wieder auf den rechten Weg bringen werde. Durch Schaden wird man klug, ist ein Sprichwort, das nicht nur für das vergängliche Erdenleben gilt."
"Du magst recht haben, aber ich meine: wenn deine Lehre auf Wahrheit beruht, kann sie doch nur Segen bringen, und darum sollte sie allgemein verbreitet werden. Wie ist doch unser gesellschaftliches Leben zerfressen von Neid und Hass; in der Politik ist es überhaupt nicht mehr zum Aushalten, Wahn, Lüge, Gier und Hass sind kaum noch zu überbieten, Kriege und Umstürze folgen sich unaufhörlich und das Volk kommt nie zur Ruhe. Ekelhafte Zustände! Da muss doch etwas Durchgreifendes geschehen, sonst gehen Staat und Gesellschaft zugrunde, und gerade die Kirchen, welche die moralische Führung der Menschheit beanspruchen, wären in erster Linie berufen, eine neue, wahre Lehre zu verkünden, denn die alte Lehre hat gründlich versagt."
"Du verlangst zu viel von den Kirchen. Woher sollen sie die Wahrheit nehmen, solange sie sich nur auf die Bibel stützen und diese meist materiell auslegen? Sie werden sagen: wozu eine neue Lehre? Gottes Gebot der Nächstenliebe ist da, das genügt vollauf, wenn es befolgt wird. Die Folgen des Hasses liegen offen vor aller Augen; wenn die Menschen nicht hören und sehen wollen, müssen sie eben fühlen."
"Gewiss, das Gebot ist da, und es ist auch gut. Aber warum befolgen die Menschen das Gebot nicht? Weil sie denken: mit dem Tode ist alles aus, Vergeltung gibt's nicht, wozu also tugendhaft sein, wenn die Untugend so viel vergnüglicher ist? Benutzen wir die Macht und die Gelegenheit und nehmen wir, was wir nehmen können, ob mit Recht oder Unrecht ist einerlei. Geniessen wir, soviel wir können, denn wir leben nur einmal, und ein Tor ist, wer verzichtet. Zuerst komme ich und nochmal ich, und dann die andern noch lange nicht. So denken unzählige Menschen und leben danach, und die Folge ist der Krieg aller gegen alle. Also das Gebot ist da, aber es hat keine treibende Kraft, denn die Menschen verkennen den Zweck ihres Erdenlebens und sehen nicht die Folgen ihres Tuns, sie sehen nicht die ausgleichende Gerechtigkeit. Ich sah sie ja auch nicht. Da könnte die Geisterlehre helfen, den Menschen die Folgen ihres Tuns zu zeigen. Und gerade die Kirchen könnten in der Geisterlehre die Begründung des Moralgebotes finden. Das Moralgebot an sich ist einseitig, denn die Menschen kümmern sich wenig darum, wenn sie nicht einsehen, warum sie so oder so handeln sollen."
Friedmar sah den Freund erstaunt an. "Schon so eifrig für die neue Lehre?"
"Du wunderst dich, dass ich deine Gedanken weiter spinne. Ich will dir sagen, warum. Ich bin Mitbesitzer einer Fabrik und erfahre täglich, wie sehr verhetzt und störrisch viele Arbeiter sind, besonders die jungen, und dies infolge der materialistischen Weltanschauung und der Meinung, des Fabrikanten grösste Wonne sei, sich vom Schweiss der Arbeiter zu mästen, wie die verrückte Phrase lautet. Ich bestreite nicht, dass die Fabrikanten menschliche Schwächen haben und sündigen, aber ich bestreite entschieden, dass sie bloss die Blutsauger sind, als welche man sie gern hinstellt, oder dass sie auch nur schlechter sind als die Arbeiter. Jedenfalls haben die Arbeiter noch nicht den Beweis erbracht, dass sie besser handeln, wenn sie die Macht haben. Eher dürfte das Sprichwort recht haben: wenn der Knecht auf's Pferd kommt, reitet er schärfer als der Herr."
Friedmar schwieg eine Weile, dann sagte er: "Zunächst eine persönliche Bemerkung. Ich zweifle nicht, dass dein Erdenleben mit der Stellung als Fabrikherr dir bewilligt worden ist auf deinen eigenen Wunsch. Erfülle deine Aufgabe, d.h. sei wohlwollend und gerecht gegen deine Untergebenen soviel du vermagst, unbekümmert um die Meinung der Menschen. Lebst du so, dann lebst du recht, dann bestehst du die Probe des Reichtums und brauchst nicht in einer spätern Einverleibung die bittere Sühne der Armut und Abhängigkeit zu schmecken. Für das andere lass den Himmel sorgen, der das besser versteht. Dein Wunsch, dass die neue Lehre sich auch praktisch auswirken möge, ist verständlich, aber ich halte es nicht für gut, diese Auswirkung künstlich herbeiführen zu wollen. Ich bezweifle nämlich, dass die europäische Menschheit im grossen ganzen jetzt schon reif dafür ist, was ja nicht ausschliesst, dass viele Menschen sie begierig aufnehmen und ihr Leben danach führen. Wenn auch die Zahl ihrer Anhänger in Europa und Amerika einige Millionen betragen mag, so will das noch nicht viel bedeuten. Die Geisterlehre vorzeitig und gewaltsam für irdische Zwecke nutzbar machen zu wollen heisst sie missbrauchen. Zweifellos wird sie dereinst, in ferner Zukunft, eine segensreiche Wirkung auf die sozialen Zustände haben, aber wenn heute die untern Volksklassen merken, dass diese Lehre sie zahm und gefügig machen soll, werden sie sich gegen sie wehren, und mit Recht. Diese Lehre darf sich nur in Freiheit ausbreiten, ohne den geringsten Zwang durch kirchliche und weltliche Behörden und andere Nutzniesser. Eine Lehre, welche die Freiheit als wesentlichen Bestandteil der moralischen Weltordnung ausgibt, darf nicht durch Zwang verbreitet werden."
"Ich verstehe, dachte auch nicht an Zwang, bin aber immer noch der Meinung, dass die Kirchen berufen wären, die Wahrheiten der Geisterlehre zu verbreiten, da sie doch die Verkündigung des Wortes Gottes als ihr Amt und ihr Recht beanspruchen. Du schüttelst den Kopf? Nun, wenn die Kirchen, also die Geistlichen, nicht dazu berufen sind: wer anders soll es sein? Warum sollen so viele Kräfte brachliegen?"
"Gewiss sind sie berufen in dem Sinne, dass sie sich einverleibt haben zu dem Zwecke, das Wort Gottes rein und wahr zu verkünden, und sie werden auch Rechenschaft geben müssen, wie sie ihre Aufgabe gelöst haben. Aber so, wie sie jetzt geistig eingestellt sind, werden sie über die Lösung der Aufgabe anders denken als wir. Du denkst dir die Sache zu einfach. Auch abgesehen davon, dass sie die Geisterlehre eben nicht als Gottes Wort ansehen, sondern eher als das Werk eines bekannten schwarzen Herrn, stehen ihnen äussere und innere Hindernisse im Wege. Sie sind durch Weib und Kind und Amt wie mit ehernen Ketten an die vorgeschriebene Lehre gebunden und nur wenige haben den Mut, gegen den Strom zu schwimmen, der Folgen wegen; du siehst ja, wie es mir ergangen ist. Als das Unfehlbarkeitsdogma verkündet wurde, wagte nur eine beschämend kleine Anzahl von Geistlichen zu protestieren. Würden die evangelischen Geistlichen gegebenenfalls mehr Mut zeigen? Ich weiss wohl, dass es besonders im untern Klerus Geistliche gibt, die gern heraus möchten aus der Enge des Dogmas, wenn sie es ohne Gefahr tun könnten, aber ihre Oberen werden ihnen diese Freiheit nicht geben, weil sie den Zerfall der Kirche befürchten. Nicht minder gross sind die inneren Hemmungen. Es kostet grosse Überwindung, altgewohnte, liebgewordene Lehren als Irrtum zu erkennen und, was noch mehr ist, sich davon loszusagen, wenn auch nur stillschweigend. Dieses Umlernen ist oft schwierig auch dann, wenn äussere Hindernisse nicht bestehen. Dann sind es Eigenliebe, Unvermögen oder Bequemlichkeit, die den Umbau der Weltanschauung verhindern. Es hat nicht jeder die Wahrheitsliebe und die Fähigkeit, ein morsch gewordenes Gedankengebäude niederzulegen, um es schöner und vollkommener wieder aufzubauen. Ein anderer wichtiger Umstand ist, dass die Geisterkundgebungen wichtigen Lehren der Kirchen widersprechen. Die hohen Geister lehren Erkenntnis, Freiheit, Geist, die Kirchen lehren Dogma, Unterordnung, Form. Ich halte diese Gegensätze für unvereinbar. Will man sie dennoch vereinen, so wird wahrscheinlich die materielle Seite, die Form, die Oberhand gewinnen und der Geist wird wieder gefesselt sein. So wie die Dinge heute liegen, kann man von den Kirchen ein anderes Verhalten kaum erwarten. Die Dinge haben eben ihre eigene Logik."
"Wie denkst du dir die Zukunft der Kirchen? Sie können in dieser Form doch nicht ewig bestehen bleiben, wenn immer mehr Menschen, und gerade die intelligentesten, sich von ihr abwenden."
"Ich kann nur einige vorsichtige Vermutungen aussprechen, und bin mir wohl bewusst, dass auch diese Vermutungen vielleicht noch zu kühn sind. Aber soweit man aus der Gegenwart auf die Zukunft folgern darf, könnte man in anbetracht der Zustände, Hemmungen und wirkenden Kräfte etwa folgendes sagen: Die römische Kirche wird sich wahrscheinlich nicht ändern. Nachdem sie sich Unfehlbarkeit zugesprochen hat, ist nicht einzusehen, wie da eine durchgreifende Änderung stattfinden kann, ohne dass sie ihre Grundlage preisgibt. Durch die vermeintliche Unfehlbarkeit hat die Kirche sich selbst zu Starrheit und Stillstand verurteilt, hat sie sich ihre künftige Bahn genau vorgezeichnet, und so, nach einem bekannten Wort, wird sie sein wie sie ist, oder sie wird nicht sein. (Fussnote 18) Aber so lange es noch so viele geistig unselbständige Menschen gibt, die andere für sich denken und sich gern führen lassen, die einen reichen, prunkvollen Formendienst für Gottesdienst halten und in ihm ihre Gemütsbedürfnisse befriedigen, so lange braucht die römische Kirche für ihren Bestand nicht zu fürchten, auch wenn die Zahl ihrer Anhänger im Laufe der Zeit sich erheblich vermindern sollte. Vielleicht gewinnt sie dafür auf der andern Seite durch Vereinigung mit der griechischen Kirche.
"Die andern Kirchen befinden sich in besserer Lage, da die Hindernisse des Fortschritts weniger in einer für unfehlbar ausgegebenen Lehre bestehen als in der Starrheit der Kirchenbehörden. Wenn eine Anzahl ehrlicher, mutiger Pfarrer sich darauf besinnen, dass sie "Protestanten" sind und gegen unhaltbare Dogmen und halsstarrige Behörden protestieren nach dem Vorbild Luthers, so ist der Bann gebrochen und die Bahn frei für den Fortschritt. Diese Pfarrer müssten sich aber vorher zu Schutz und Abwehr vereinigen, denn sie haben es mit einem rücksichtslosen Gegner zu tun, an dem der Einzelne zerbrechen würde. Ob diese mutigen Männer aufstehen werden, darüber sage ich nichts, ich würde es aber bedauern, wenn es nicht geschähe. Einmal, früher oder später, müssen die Kirchen Stellung nehmen zur Geisterlehre, die das Christentum verjüngen und neu beleben soll auf Gottes Gebot. (Fussnote 19) Da gibt es kein Ausweichen. Die Geisterlehre wird wachsen und sich ausbreiten, Christus und die hohen Geister sind ihre Träger, reine Medien und ehrliche Geistforscher ihre Werkzeuge. Menschentorheit wird ihre Ausbreitung wahrscheinlich erschweren und verzögern, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Orthodoxe und Materialisten sich verbinden werden, sie gemeinsam zu bekämpfen und auszurotten, aber das Ziel werden die Gegner nicht erreichen, denn Wahrheiten lassen sich nicht auf ewig unterdrücken. Hohe Geister sagen, das Christentum werde wieder auferstehen, keine Macht der Erde könne dies verhindern; es sei nicht Kirchentum, sondern ewige Wahrheit, es sei Philosophie, Religion und Wissenschaft zugleich. Und es ist, sage ich, praktische Lebenskunst, da es uns zeigt, wie wir zu leben haben, um aus Sünde und Leid herauszukommen und ein höheres Leben zu erlangen als die Erde bieten kann. Eilen wir nun im Geiste einige Jahrhunderte voraus, so werden wir das religiöse Gemeinschaftsleben in vielleicht drei Hauptgruppen geteilt sehen: erstens die katholische Kirche, nicht oder nur wenig verändert gegen heute; zweitens die Gruppe der Gleichgültigen und Ungläubigen; drittens die Geistergläubigen in verschiedenen Untergruppen. Diese dritte Gruppe wird an Zahl vermutlich die kleinste sein, dafür aber die feinsten Köpfe umfassen."
"Ihr legt grossen Wert auf die Freiheit und sagt, dass die hohen Geister Freiheit lehren, die Kirchen aber Unterordnung. Mir ist nicht ganz klar, wie Ihr das meint. Eine gewisse Ordnung muss doch sein, wenn eine religiöse Gemeinschaft bestehen soll."
"Ordnung und Führung und Belehrung muss sein, so lange die Menschen geistig schwach und unwissend sind. Aber die Führung darf nicht in offenen oder geheimen Zwang ausarten, und die Belehrung darf nicht Irreführung sein. Darum sollen die Führer ihr Amt nicht als Herrschen, sondern als Dienen auffassen, wie Christus gebot. Den ehrlichen Führer und Lehrer erkennt man an einem untrüglichen Merkmal: er sucht sich so bald wie möglich entbehrlich zu machen, indem er den Schüler zu geistiger Selbständigkeit erzieht. Dies ist freilich ein Ideal; ein Ideal, das leider zu wenig beachtet wird, das daher immer wieder aufgestellt werden muss als Leuchtturm im Meer des Zweifels und des Irrtums. Es handelt sich hier also nicht um die äussere Ordnung, die mögen die Menschen einrichten nach Belieben; es handelt sich um die Freiheit des Denkens in dem Sinne, ob und wie weit ein Geist oder Mensch den andern in seinem Denken beeinflussen und beschränken darf. Am meisten sündigt in der Beschränkung der geistigen Freiheit die römische Kirche, die ohne ihren Gewissenszwang nie ihre grosse Macht und äussere Einheitlichkeit erlangt hätte, aber auch orthodoxe protestantische Geistliche erliegen der Versuchung, die geistige Freiheit zu beschränken. Ein hoher Geist sagte über die geistige Freiheit:

"Es ist schön, zu beobachten, wie die Wahrheit sich Bahn bricht, wie das Wirken der herrlichen Gesetze Gottes jeden Geist umbildet zu einem Wesen, dem es zuerst gesetzlich möglich, dann gesetzlich notwendig ist, die Wahrheit zu erfassen, sich an ihr zu freuen, sich durch sie zu sättigen.
Wir Geister, denen eine Teilaufgabe in der Kundgebung solcher Wahrheit wurde, wir blicken in solche Tiefen menschlichen und geistigen Elends, dass euer kurzsichtiges Menschenauge sich trüben würde und nimmer fähig wäre, die grossen, einfachen Umrisse der grossen Liebe und Gerechtigkeit Gottes zu unterscheiden. Aber wir durchblicken diese Hülle verschiedener Leiden, die sich wie ein Nebelkreis um jeden gefallenen Geist legt, verursacht durch seine Sünde und verursachend die Befangenheit im Urteil des Geistes über Wahrheit und falsche Auffassung. Wir durchblicken diese Hülle, wissen ihre Ursache, berechnen die Tragweite ihrer Folgen, und nicht einen Augenblick ist unser Blick getrübt, nicht einen Augenblick vermögen wir anders als ein lebendiges Dankes-Halleluja zu empfinden beim Anblick dieser grossen Liebe und Gerechtigkeit. Und um in euch dieses Empfinden anzuregen, suchten wir euch die grossen, einfachen Umrisse dieser Gotteseigenschaften zu zeigen und zu beweisen. Wenn ein Mensch einen schönen Aussichtspunkt gefunden, so wird sich wohl niemand weigern, von diesem Menschen sich den Weg zeigen zu lassen, damit auch er sich erfreuen könne an dem herrlichen Bild. Und dies ist alles, was wir Geister von euch verlangen.
Wir wissen, dass der Fortschritt eines jeden Geistes seine Bestimmung ist und infolgedessen von keinem Geiste auf ewig zurückgewiesen werden kann, aber die Zeit, wo er diese Bestimmung erkennen und dieser Erkenntnis leben will, die ist dem gottgegebenen freien Willen des Geistes anheimgestellt. Wir wissen, dass dieser gesetzliche Fortschritt wie ein Berg hinaufragt in den Äther der Gotteserkenntnis, daher mit jedem Schritt, den der Geist aufwärtssteigt, der umgebende Äther klarer, reiner wird und dem Blick des Geistes sich immer weitere Bilder zeigen werden, sodass seine Kenntnis der Erdkunde sich durch das Schauen mehrt, d.h. dass sich seinem, durch den Fortschritt erstarkten Verstande die Gesetze der Materie zeigen, und er, seiner Erkenntnis gemäss, Gesetz mit Gesetz vergleichend und verbindend, die Materie vom Geist geleitet sieht. Um dies gesetzlich zu ermöglichen, ist es notwendig, dass die Materie auch geistdurchwebt sei und dass der Geist, der sich einer materiellen Welt offenbart, Materie an sich habe, wenn auch nicht, was ihr Menschen unter Materie versteht, aber immerhin Stoffliches.
Denn es ist ein Gesetz, dass nur Ähnliches sich Ähnlichem kundgebe, Ähnliches durch Ähnliches geheilt werde, Ähnliches von Ähnlichem belehrt werde. Denn nur Ähnliches kann sich Ähnlichem zeigen wie es ist; Gezeigtsein und Verstandensein ist gleichbedeutend nur Ähnliches Ähnlichem gegenüber.
Es gibt ein Gesetz der notwendigen Speise. Und wie das Tier jene Speise zu finden versteht, die ihm notwendig ist zur Erhaltung seines Lebens, wie der Pflanzenkeim im Erdenschoss das Licht zu finden versteht, dessen er bedarf zu seiner Entfaltung, zu seinem Leben, so findet der Geist jene Wahrheit, die als gesetzliche Wahrheit ihm notwendig ist zu seinem Fortschritt. Da gibt es kein Zurückhalten, kein Verbergen einer Wahrheit, die dem Geiste notwendig ist wie das Licht der Pflanze.
Und bedeckst du die keimende Pflanze mit einer Steinplatte, so wird dieser Keim sich wohl nicht im Lichte der Sonne entfalten können, aber die Zeiten, jene Taglöhner Gottes, die in der Materie arbeiten, werden die Materie des Steines zerstören; zerbröckeln und zerfallen wird das, das dem Lichte den Zutritt verwehrt, und neues Leben wird sich regen an der langbedeckten Stelle und wird sich entfalten im Sonnenlicht, da dieses Licht alles Leben, das in der Materie schlummert, erweckt und zu sich emporzieht. Jene Geister, welche die deckende Hülle falscher Auffassungen auf den von Christus gegebenen Keim der Wahrheit gelegt und in Satzungen und Dogmen versteinert haben und dann diesen Stein vor dem Hinwegheben bewahrt haben durch das Verbot, ihn auch nur anzurühren - jene Geister werden nun in nächster Zeit belehrt werden, dass auch Steine den umbildenden Zeiten verfallen und von ihnen zerstört werden, dass das Licht von oben, als materielles Bild: Sonnenlicht, in Wirklichkeit Gotteswahrheit, hineindringen kann, um das Leben zu erwecken, um die Wahrheit, die unter diesem Stein ruht, zu verbinden mit der Wahrheit, die herabströmt von oben. Diese Verbindung soll dann der Menschheit Nahrung sein, d.h. jenem Teil der Menschheit, der sich sehnt nach einem Zeigen solcher Verbindung, der die Notwendigkeit einer solchen Verbindung erkennt, dem daher Zeigen und Verstehen gleichbedeutend ist.
Liebe Menschen, hütet euch zu sagen: "mir ist ein Sehnen und Verstehen gleichbedeutend, ich habe die Wahrheit erfasst." Die ganze volle Wahrheit zu verstehen ist nur einer Weisheit möglich, deren Ausfluss diese Wahrheit ist.
Was ist Wahrheit? Das ist die Frage, die viele Geister bewegt und von wenigen beantwortet wurde. Wenn sie beantwortet wurde mit "Gott ist Wahrheit", so ist dies soweit richtig, dass es einen Gott gibt, aber das Wort "Gott" ist bei euch die Kleidung so vieler falscher Begriffe, die ihr alle für Wahrheit haltet, dass die Beantwortung der Frage mit diesen drei Worten unendlich viel Unwahres zulässt. Der eine hält Gott für ein rächendes, zorniges Wesen, der andere nimmt eine Eigenschaft Gottes, die Kraft, und nennt sie Gott. Ein dritter macht ein Dreiwesen aus ihm, das er selbst nicht verstehen kann, das er aber nicht anzutasten wagt, um seinen mühsam zusammengehaltenen Glauben an eine Unmöglichkeit nicht zu erschüttern. Was ist nun Wahrheit? Unsterblichkeit des Geistes? Fortschritt bis zum Erreichen der Vollkommenheit? Dies alles sind nur Bruchteile. Wahrheit ist das geistige Gesetz, das ein Ausfluss Gottes ist.
Gott ist! Diese Tatsache lässt sich euch nicht klar beweisen, denn nach dem Gesetz: Ähnliches Ähnlichem, ist nur solche Tatsache euch beweisbar, die ihren Widerhall in der Materie findet, d.h. die selbst, wenn auch das Geistigstofflichste nur, doch immerhin Stoffliches an sich hat. Die geistigen Gesetze, durch welche die Schöpfung entstanden, durch welche die Schöpfung geleitet wird, könnt ihr soweit erfassen, dass ein Bild sich euren Blicken zeigt, weil diese Gesetze von dem Urgeist Gott bis hinunter in die tiefste Materie reichen, aber dem Urheber dieser Gesetze fehlt die Materie, weshalb Er sich dieser Materie nicht beweisen lässt. Aber der prüfende Verstand, der jene Gesetze Gottes zu ergründen sucht, kann sagen: "ich glaube einen Gott, obwohl ich ihn euch nicht beweisen und nicht zeigen kann." Erst wenn die Materie überwunden ist, vermag der Geist zu sagen: "ich sehe einen Gott", und erst nach dem Erreichen der Vollkommenheit vermag er zu sagen: "ich verstehe diesen Gott;" dieses Verstehen ist Seligkeit und ist doch nicht ein vollkommenes Ergründen.
(deshalb auch kann Christus nicht Gott sein, denn Gott konnte nicht in die Materie. Es gibt eben Dinge, die sich nicht vermischen lassen.) [siehe Fussnote 20; Anm.d.Erf.]
Wahrheit also ist das geistige Gesetz, das ein Ausfluss Gottes ist. Gott aber ist Vollkommenheit, Vollkommenheit aber bedingt Liebe, Weisheit, Grösse; was also nicht im Einklang mit jenen ist, kann nicht eine Wahrheit sein, die ein Ausfluss Gottes ist. Dies also ist der Prüfstein. Sucht ihn richtig anzuwenden, aber wenn ihr ihn angewendet habt nach eurem besten Verständnis, dann hütet euch, das Resultat eurer Prüfung, in bestimmte Satzungen zusammengefasst, der Menschheit als eine Glaubenslehre aufzwingen zu wollen. Wir Geister, die wir die Aufgabe haben, der suchenden Menschheit finden zu helfen, wir wollen nicht, dass auch nur ein Mensch etwas glaube, weil wir es gesagt. Mit der Zeit werden viele Menschen sich unserer Autorität beugen wollen und werden sagen: "dies ist herrlich, diese Lehre befriedigt mich - ich glaube alles, was jene Geister lehren." Dieser Nachsatz, liebe Menschen, ist ein Hindernis in der Reife eurer Erkenntnis. Gott, das höchste Wesen, gab den Geistern die Freiheit als herrlichste Eigenschaft. In der Freiheit sollten sie gross werden, stark in der Erkenntnis, stark in der Liebe, um in dem Erreichen ihrer Vollkommenheit den Schöpfer verstehen zu lernen.
Je höher also das Geistwesen, desto sorgsamer wird es sich hüten, die Freiheit des Bruders anzutasten. Grossziehen wollen wir eure Freiheit, denn sie ist jetzt noch eingeengt in den Fesseln eurer Sünde und der Folgen eurer Sünde, wie Mangel an Erkenntnis, Mangel an Interesse, Geistiges zu prüfen, Mangel an Mut, Befangenheit in der Materie.
Auch wir Apostel fehlten, als wir Apostel auf Erden waren, indem wir die Lehre des Meisters, nach unserer Auffassung in bestimmte Kleidung gehüllt, der Menschheit übergaben. Ich lebte als Paulus auf Erden, und obwohl ich in vollem Eifer, meinem so spät erkannten Meister zu dienen, meine ganze Kraft der Verbreitung seiner Lehre widmete, so irrte ich doch in manchem. Ich legte dem Gott, den ich nicht ergründen konnte, die Eigenschaft der Willkür bei, indem ich zur Erklärung der Verschiedenheit der Menschen die Prädestination als Lehre aufstellte.
Ihr fragt wohl, wie es möglich sein konnte, dass wir Apostel irrten, da uns doch der heilige Geist gegeben war?
Liebe Menschen, der heilige Geist, d.h. der Einfluss hoher Geister, war uns allerdings gegeben, aber ein hoher Geist nimmt nicht so Besitz vom Menschen, dass er dessen eigenen Geist betäube und nicht mehr sprechen lasse. Eine Besessenheit geht stets nur von niedern Geistern aus, denn je höher der Geist, um so mehr wahrt er die Freiheit des Bruders. Ich kam in das Menschenkleid, um Christo zu dienen, um seine freimachende Wahrheit der Menschheit verkünden zu helfen. Grossgezogen in der Lehre der Juden, die Erkenntnis getrübt durch die plumpe, knechtende Materie, wandte ich mich zuerst gegen die Anhänger des Meisters. Da ich aber voll guten Willens in die Materie gekommen war, wo wurde meine Erkenntnis geklärt durch eine Vision. Nicht auserwählt hat Gott mich, wie ich damals wähnte. Gott gibt nicht dem einen Menschen gute Eigenschaften, dem andern schlechte, um dann den mehrbegabten besonders zu belohnen. Wo wäre darin Gerechtigkeit? Nein, die Eigenschaften, d.h. die Fehler und die Tugenden der Menschen und Geister sind ihr eigenes Eigentum, ermöglicht durch die Freiheit ihres Willens und durch das göttliche Folgengesetz in gewisse Grenzen gehalten, welche die ganze Geisterschaffung in gleicher Gerechtigkeit umgeben und umgeben müssen, sonst wäre es nicht mehr Gerechtigkeit.
Daher sprach durch mich zuweilen der Geist meines Meisters, zuweilen andere hohe Geister, zuweilen aber mein eigener Geist, der befangen war und Erklärungen zu geben suchte, wo ihm selbst vollkommene Erkenntnis fehlte. Nun, wo die Zeit gekommen, dass wir wieder mit den Menschen reden dürfen, wollen wir vor allem diese Menschen warnen vor unbedingtem Glauben. Prüfet die Geister! Und prüfet die Lehre, welche Geister euch geben! Ein hoher Geist wird euch nie eine Lehre aufzwingen wollen, wird nie sagen: dies ist die ganze Wahrheit - denn die Wahrheit, wie ich sie zu definieren versuchte, lässt sich den Erdbewohnern nur in grossen Umrissen geben. Wer daher von solchem Umriss sagt: "seht her, ich zeige euch ein fertiges Bild", dem fehlt es an Erkenntnis. Wer aber dies angeblich fertige Bild den Menschen aufzwingen will, dem fehlt es an aller Erkenntnis des göttlichen Willens. Gott zwingt keinen Geist, er lässt nur die Folgen der Handlungen des Geistes, welche die Folgen seiner Freiheit sind, an ihm wirken. Wenn ein Mensch seine Hand ins Feuer legt: ist dann der Urheber der Brandwunden jener, der das Feuer angezündet hat?
So suchet logisch zu denken, vorurteilslos zu prüfen, und ihr werdet jenen Teil der Wahrheit finden, den ihr eurer Stufe gemäss aufzunehmen imstande seid. Durch höchste Reinheit, durch fleckenlose Tugend sollt ihr den Menschen zeigen, wes Geistes Kind ihr seid. Und so zieht ihr hohe Geister an und diese reden von dem ihren. Und wenn ihr ihnen ähnlich seid, so werdet ihr ihre Sprache verstehen. Und ihr werdet euch vereint freuen über die Umrisse der Wahrheit, die sich euren Blicken zeigen, weil euer freier Wille den Nebel zerteilt, welchen eure Sünde und Sündenfolge um diese Umrisse gelegt hat. Das ist unser Wunsch, und dieser kann nur erfüllt werden, wenn ihr prüfet, suchet, strebet. (Fussnote 20)

"Das ist mir aus der Seele gesprochen", sagte Hallerstede, "das ist wahre Toleranz. Zwar sollte es sich von selbst verstehen, dass man die geistige Freiheit des Nächsten achtet, aber wie weit sind die Kirchen noch entfernt von dieser Selbstverständlichkeit. Besonders gefällt mir die Offenheit, womit der Apostel bekennt, dass sie nicht frei waren von Irrtum. Solche Offenheit erweckt Vertrauen, d.h. bei mir; die Kirchen werden sie anders beurteilen und diese Kundgebung, welche die Grundlage ihrer Herrschaft angreift, als Lüge und Lästerung bezeichnen und die ganze Geisterlehre als Teufelszeug verdammen. Wenn also Gott den Geist nicht zwingt und wenn hohe Geister sorgfältig vermeiden, die Freiheit der Brüder anzutasten, so ist im Vergleich damit die Art und Weise, wie die Kirchen ihre Dogmen den Menschen aufnötigen, doch wohl recht bedenklich und kann keine guten Folgen haben für die Geistlichen, die solches tun."
Friedmar stimmte zu. "Du hast recht, die Folgen sind unangenehm. Worin der Mensch sündigt, darin wird er gestraft, ist ein altes, wahres Wort. Der Geist eines ehemaligen Priesters klagte mir durch ein Medium seine Not, die er im Jenseits gehabt habe als Folge seiner Versündigung an der geistigen Freiheit seiner Mitmenschen. Herrschsüchtige, dogmatische Geistliche, sagte er, erwachen im Jenseits in tiefer Dunkelheit und irren lange in düstern Gefilden umher, entsprechend der Finsternis in ihrem Innern. Wenn ein solcher Geist seinen Irrtum einsieht, wird er belehrt, wie er wieder gutmachen kann, entweder in einer neuen Einverleibung, oder indem er andern geistig Blinden drüben das Licht der Erkenntnis gibt. Das sei oft eine harte Arbeit, denn es sei leichter, das Denken eines Geistes in Fesseln zu legen, als ihn zu befreien von den Irrtümern, die man ihm eingeflösst habe. Es sei furchtbar, die Folgen sehen, die Konsequenzen ziehen zu müssen der Irrtümer, die man begangen; wenn es eine Hölle gebe, sei dies ein Teil davon. Auf meine Frage, ob ein Unterschied gemacht werde, antwortete er, die Verantwortung der höhern Geistlichen sei grösser, weil sie oft gegen besseres Wissen sündigten. Weiter sagte er, dass die Geistlichen der Erde sich noch gegen bessere Erkenntnis sträuben, weil es ihnen bequemer scheine, am Dogma festzuhalten, aber es werde eine Zeit kommen, wo das Sträuben vergeblich sein werde, wo sie vor Fragen gestellt würden, die sie nicht beantworten könnten. - Es ist also kein freundliches Bild, das dieser Geist aus eigener Erfahrung zeichnet von der Zukunft gewisser Seelenhirten, welche die Rechte ihrer Brüder missachten, und er steht nicht allein mit seiner Behauptung. Indessen ist auch hier zu bedenken, dass nicht nach der Schablone geurteilt wird. War der Geistliche ein gütiger, hilfsbereiter Mensch, ein Seelenhirte im guten Sinne des Wortes, war er nur aus Unkenntnis im Dogma verrannt, so sind die Folgen nicht so unangenehm, und ihm kann leicht geholfen werden, da er selbst hilfsbereit war. Entscheidend ist die gute Absicht und die Liebe, die er bezeigte. Irrtümer der Erkenntnis wiegen nicht so schwer wie Sünden gegen die Liebe."
"Ich sehe, es ist eine schwere, verantwortungsvolle Aufgabe, andere Menschen zu führen, und man tut gut, die Hände davon zu lassen, wenn man sich nicht auskennt in den Gesetzen der moralischen Weltordnung. Aber nun ein wichtiges Bedenken: wie steht es mit der Echtheit und der Wahrheit der medialen Kundgebungen? Einer unserer Ingenieure, der mit Medien arbeitete, sagte mir, dass nach seiner Erfahrung die Medien wertloses Zeug mitteilten, und dass es sich daher nicht lohne, auf diesem Weg neue Erkenntnisse erlangen zu wollen. Infolge dieses Urteils habe ich mich nicht weiter bemüht um die Sache und diese Dinge für Trug oder Täuschung gehalten, aber zu urteilen nach dem, was ich jetzt von dir gehört habe, scheint der Mann im Irrtum zu sein."
"Seine Erfahrung berechtigt ihn zu solchem Urteil; er hatte aber das Missgeschick, dass seine Medien höhern Ansprüchen nicht genügten, und vielleicht handelte auch er selbst nicht in lauterer Absicht, sondern mehr zu Scherz und Unterhaltung als im Streben nach edler Wahrheit. Hohe, reine Geister, die wertvolle Erkenntnis geben können, verkehren nicht mit uns durch unreine, niedere Medien, sie lieben es nicht, ein Schlammbad zu nehmen, so wenig wie wir es lieben, ein von Schmutz triefendes, greulich verstimmtes Instrument zu spielen. Auch in anderer Hinsicht ist der Verkehr der Geister durch Medien von vielen Umständen abhängig. Ich spreche jetzt nur von den psychischen Medien, nicht von den Medien für physikalisch-mechanische Erscheinungen. Nicht jeder Geist kann sich durch jedes Medium äussern. Es ist etwa so wie bei der Übertragung elektrischer Wellen im Rundfunk. Wenn diese Übertragung gut gelingen soll, müssen alle Geräte in Ordnung und genau aufeinander abgestimmt sein und auch das Wetter und die Umgebung darf nicht stören. Ähnliche Bedingungen gelten auch für den Geisterverkehr. Gute, reine Medien sind sehr selten, denn ein solches Medium muss nicht nur einen durchaus lauteren Charakter haben, sondern auch seine Fluide müssen rein, fein und anpassungsfähig sein - Eigenschaften, die sich bei einem Menschen nur selten vereinigt finden. Die allermeisten Medien sind mittleren oder geringen Ranges, und daher kommt es, dass so viele mediale Kundgebungen nichts taugen, oft Irrtum und Unwahrheit enthalten. Denn niedere Medien und niedere Forscher ziehen aus den untern Regionen niedere Geister an; diese sagen, was sie wissen und oft auch nicht wissen, geben sich als hohe Wesen aus, sogar als Gottvater, legen sich grosse Namen bei und freuen sich, wenn sie leichtgläubige Menschen belügen und täuschen können, wie sie es wahrscheinlich auch zu Lebzeiten getan haben. Man darf eben nicht meinen, dass der Geist sofort nach dem Leibestode ein reines, weises, hohes Wesen werde. Ganz und gar nicht. Der Geist eines törichten, unwissenden Menschen nimmt alle seine schlechten Eigenschaften mit hinüber ins Jenseits und legt seine Untugenden nur allmählich ab, und auch seine Erkenntnis wächst nur langsam. Wenn also der Geist eines Durchschnittsmenschen sich äussert durch ein Medium, so kann er keine hohe Weisheit mitteilen, sondern er wird gewöhnliche Dinge sagen oder über seinen Zustand berichten, der oft nicht besonders verlockend ist. Aber auch solche Mitteilungen haben einen gewissen Wert, sie offenbaren den kläglichen Zustand vieler Geister nach dem Leibestode, sie zeigen, dass Vollkommenheit und Seligkeit nicht geschenkt werden, sondern erarbeitet werden müssen. Sogar sonst kluge Menschen haben vom Zustande der Geister ganz unrichtige Ansichten, weil sie eben die Vorstellungen, die sie sich in der Jugend aus dem Katechismus gebildet, noch nicht vergessen haben."
"Aus dem ungleichen Zustande der Geister", fuhr Friedmar fort, "erklären sich auch die Verschiedenheiten und Widersprüche ihrer Aussagen. Alle Geister haben die Freiheit, sich uns mitzuteilen; da nun jeder Geist seine Eigenart und seine besonderen Ansichten hat und da sie in sehr verschiedenen Regionen leben, so ist es unvermeidlich, dass die Berichte aus dem Jenseits oft nicht übereinstimmen, ja sich widersprechen. Lasse zehn Menschen aus zehn verschiedenen Gebieten Amerika's vom äussersten Norden bis zum Süden berichten, was sie sehen und wie sie leben, so wirst du zehn verschiedene Berichte bekommen, die subjektiv wahr sein mögen, objektiv aber nicht übereinstimmen, und doch kommen sie alle aus Amerika. In der Hauptsache: Gott, Unsterblichkeit, Verantwortlichkeit, stimmen die Aussagen der Geister auf mittlerer und höherer Stufe überein, in Nebensachen ist viel Verschiedenheit - wie ja auch die gelehrtesten Menschen nur in wenigen Dingen einer Meinung sind. Wer also mit Medien arbeiten will, der studiere vorher gründlich die einschlägige Literatur, so wird er Enttäuschungen, unnütze Arbeit und unrichtige Urteile vermeiden. Und er lasse alle Vorurteile beiseite, ob sie nun philosophischer, theologischer oder naturwissenschaftlicher Art sind; er gehe reinen, unbefangenen Herzens an die Arbeit, und wenn er aufrichtigen Drang nach wahrer Erkenntnis hat, so wird er sie früher oder später finden, denn hohe, reine Geister, die seine lautern Absichten sehen, werden sein Streben unterstützen. Wer aber unlauteren Herzens forschen will, etwa in der Absicht, ein argloses Medium zu entlarven, oder die Geister bei Widersprüchen zu ertappen, oder sich seine irdischen Vorurteile von drüben bestätigen zu lassen - so was gibt es auch -, der wird auch finden, was er sucht, denn auch er wird von den Geistern durchschaut, die hohen Geister bleiben weg und niedere Geister seiner eigenen niedern Art verhelfen ihm zu Unwahrheit, Trug und Täuschung. So bekommt jeder, was er verdient, und so ist es gerecht."
"Demnach scheint es sehr schwierig zu sein, Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden, und du darfst dich nicht wundern, dass, abgesehen von allen andern Umständen, die Geistlichen wenig Neigung verspüren zu solch mühsamer Arbeit, deren Erfolg dazu noch zweifelhaft ist."
"Ich wundere mich auch nicht, da ich die Umstände gebührend würdige. Und eben weil ich die Tücken des Objekts genügend kenne, empfehle ich jedem Forscher, nicht ohne weiteres zu experimentieren, auch wenn sich ihm Gelegenheit bieten sollte, sondern sich durch das Studium der Fachliteratur erst gründlich vorzubereiten. Wenn er die wichtigsten Werke dieser schon reichen Literatur kennt, könnte er finden, dass eigenes Experimentieren ihm wahrscheinlich nichts Besseres zu geben vermag, als was schon vorhanden ist."
"Wenn so viele niedere und unwissende Geister die Erde bevölkern, ob einverleibt oder nicht, so wird begreiflich, dass verworrene, unbefriedigende Zustände, Leid, Hass und Laster auf der Erde herrschen, und es besteht wohl auch wenig Aussicht, dass diese Zustände in absehbarer Zeit sich bessern werden. Denn so lange immer wieder niedere Geister sich einverleiben und in so überwältigender Menge vorhanden sind, wie ich bei Betrachtung der menschlichen Torheiten annehmen muss, so lange werden sie auch durch ihre Unwissenheit, Torheit und Bosheit die Absichten der wenigen guten Menschen vereiteln, und so scheint mir, dass die Menschheit zu allen Zeiten ziemlich gleich war, gleich unwissend, töricht, lasterhaft. Durch den Glanz der Zivilisation darf man sich nicht täuschen lassen, der ist nur äusserer Schein, unter dem die Bestie lauert. Wir sehen geringschätzig herab auf die sogenannten Wilden, aber im Weltkrieg waren die Zivilisierten wilder als die wildesten Wilden."
"Du bist der Wahrheit sehr nahe gekommen: die Erde ist ein Bussplanet, eine Schule und eine Besserungsanstalt für gefallene, meist tief gefallene Geister, und sie wird es so lange bleiben als Gott sie dazu bestimmt, und darum müssen die Versuche, sie zu einem Luftort zu machen, unvermeidlich scheitern. Wer diesen Satz in seiner ganzen Bedeutung erfasst, dem ist die wahre Ursache der verworrenen, ungerechten und leidvollen Zustände auf der Erde mit einem Schlage klar, der wundert sich über nichts mehr und der macht sich auch keine Illusionen, dass in absehbarer Zeit Friede und Gerechtigkeit auf der Erde herrschen werden. Unter den Millionen von Weltkörpern, die als Wohnstätten von Geistern und Menschen dienen, nimmt die Erde eine sehr niedere Stufe ein, und als sehr grober, materieller Körper ist sie der Wohnort entsprechend niederer, grober Geister. Alle politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, alle Fortschritte der Technik und die bis auf die Spitze getriebene, sich übergipfelnde Verstandesbildung ändern nichts an dieser harten Tatsache. Die niedere moralische Stufe der Menschheit offenbarte sich in den Greueln der Sklaverei, der Religionskriege, der Missachtung des Weibes und des eben beendeten Weltkrieges - womit ich nur einige der ärgsten Bestialitäten nenne. Wenn diese Beispiele euch nicht genügen, braucht ihr nach weiteren nicht lange zu suchen, das Meer menschlicher Torheiten aller Art ist unerschöpflich. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass die überaus grosse Mehrzahl der Menschen sich noch kaum über das Tier erhoben hat. Und diese Menschen voller Hass, Gier und Wahn, voller Lüge und Ungerechtigkeit wollen friedliche und gerechte Zustände auf der Erde schaffen, wollen sie schaffen durch politische und wirtschaftliche Mittel, also durch Mittel, die, wie die Menschen nun einmal sind, doch nur auf Unterdrückung und Übervorteilung der Schwächeren durch die Stärkeren abzielen und daher immer wieder neuen Hass und Hader erregen in endloser Folge. Das einzige und unfehlbare Mittel, friedliche und gerechte Zustände zu schaffen, besteht darin, dass die Menschen vorher friedlich und gerecht werden, denn im tiefsten Grunde schaffen die Menschen ihre Zustände, und nicht ist es umgekehrt, wie man uns glauben machen möchte. Aber von diesem Mittel spricht man nicht, weil man es nicht kennt oder nicht kennen will. Nein, diese ungerechte, unvollkommene Menschheit kann gar nicht anders als ebensolche Zustände hervorbringen; man kann nicht Feigen ernten von den Dornen und nicht Trauben von den Disteln."
Hallerstede hatte sofort und voll begriffen. "Demnach sind wir alle Sträflinge, sozusagen, und alle haben wir "lebenslänglich". Was immer man halten mag von den Aussagen der Geister: mit der Bezeichnung der Erde als Bussanstalt haben sie wahrlich recht, denn diese Tatsache tritt uns überall klar und deutlich entgegen. Ich brauche keine weiteren Beweise. Wer hier zweifelt, sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das also ist des Pudels Kern: eine Bussanstalt! Der Kasus macht mich lachen, so unerquicklich er sonst ist. Dank für das Wort! Es ist mir eine Erlösung von schwerem seelischem Druck, es ist das fehlende Glied in der Kette der Beweise, der Schlussstein, der das Ideengebäude krönt. Mir fallen die bekannten Schuppen von den Augen, nun sehe ich klar. Man muss die Ordnung des Ganzen kennen, wenn man die Bedeutung eines Teiles recht verstehen will; das gilt für die Weltordnung nicht minder wie für jede andere Ordnung. Also hat der Pessimist recht und der Optimist auch: jener, indem er die üblen Zustände auf unserm Planeten beurteilt und keinen vernünftigen Zweck des Daseins findet; dieser, indem er das Ganze betrachtet und die ihm vorausbestimmte Vollkommenheit ahnt. Wer von beiden den höhern Standpunkt einnimmt, kann nicht zweifelhaft sein. Die orthodoxen Theologen hingegen werden von dieser Behauptung nicht entzückt sein und sie werden den Geistern diese Erniedrigung der Erde von einem auserwählten Gnadenort zu einer gemeinen Bussanstalt nicht verzeihen, sie ist gar zu demütigend. Aber auch andere Menschen werden dies harte Wort nicht hören mögen. Und doch trifft es den Nagel auf den Kopf. Die guten, also die gebesserten Geister kehren nicht zurück auf die Erde, während von unten immer neue Sträflinge nachrücken und solchermassen die erdrückende Mehrzahl bilden, und da sie unfähig sind, das Gute zu erkennen und zu tun, so sind Torheit und Unrecht und Bosheit immer obenauf. Verständlich wird nun auch, warum die Kultur nur so sehr langsam fortschreitet, dass man, um einen Fortschritt zu sehn, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überblicken muss, und auch dabei mag der Fortschritt nur scheinbar sein. Soll das nun ewig so bleiben, und hat es überhaupt noch Zweck, sich um den Fortschritt der Kultur zu bemühen?"
"Gewiss hat es Zweck. Denn obwohl wir die Früchte unserer Kulturarbeit in diesem Erdenleben selten ernten, so ist solche Arbeit doch nicht unnütz, denn zunächst schreitet unser eigener Geist dadurch fort, und dann verbessern wir auch die Bedingungen für unsere nächste Einverleibung, wenn eine solche nötig sein sollte. Wir sind unsere eigenen Erben, und infolgedessen bietet sich jedem Geist über kurz oder lang die Möglichkeit, herauszukommen aus der "Besserungsanstalt Erde". Im kleinen und im einzelnen kann wohl mancherlei gebessert werden, auch mögen zeitweilig, für Jahrzehnte oder Jahrhunderte, in etlichen Ländern relativ befriedigende Zustände bestehen; ich halte es sogar für wahrscheinlich - mancherlei Anzeichen deuten darauf hin -, dass eben jetzt sich eine etwas glücklichere Zeit vorbereitet mit besserer Erkenntnis und etwas mehr Frieden und Gerechtigkeit, sodass die Erde in der Rangordnung der Welten eine kleine Stufe höher steigen würde. Im allgemeinen aber wird die Erde ihren Charakter als Besserungsanstalt behalten noch auf lange Zeit und entsprechend der Beschaffenheit der auf ihr lebenden Geister. Aber sie soll nicht ewig auf so niederer Stufe bleiben. Es wird eine Zeit kommen, wo sie in gewaltigen Katastrophen ihre gröbste Materie und mit ihr die niedern und bösen Geister ausscheiden wird, und da von dieser Zeit an keine niedern Geister mehr hinzukommen dürfen, so werden nur fortgeschrittene Geister auf ihr wohnen und sich einverleiben und die Erde zum Paradiese machen. Bis zu dieser Katastrophe mögen noch Jahrtausende vergehen, wie ich einer vorsichtigen Andeutung eines hohen Geistes entnehme."
"Eine solche Generalreinigung tut der Erde wirklich not, sonst kann es nicht gründlich besser auf ihr werden", sagte Hallerstede. "Aus dem Zweck der Erde, Schule und Besserungsanstalt für Geister zu sein, und allermeist für niedere Geister, erklärt es sich nun auch, dass wertvolle Reformbestrebungen, bestimmt, die Lage der Menschheit zu verbessern, entweder scheitern oder auf einen kleinen Kreis beschränkt bleiben und sich nicht durchzusetzen vermögen, eben weil die Menschen, die sie verwirklichen oder ihren Segen empfangen sollen, weder reif sind für die Verwirklichung, noch das für sie erstrebte Gute zu schätzen wissen. Der Erfolg steht meist in keinem erfreulichen Verhältnis zur aufgewandten Mühe, und so edel auch die Absichten sein mögen, so schöpfen die Reformer doch gar oft ins lecke Fass der Danaiden. Am ratsamsten und besten ist darum wohl, vor allem an sich selbst zu arbeiten und sich selbst zu erlösen von Ungewissheit, Sünde und Leid, dann ist bei ernster Arbeit der Erfolg nicht zweifelhaft und steht in gerechtem Verhältnis zur Mühe; auch gerät man nicht in Streit, wenn man den andern in Ruhe lässt. Nun kommt ein Aber. Deine Weltanschauung setzt voraus, dass auch andere Weltkörper bewohnt sind. Mir ist der Gedanke ja sympathisch, aber die Naturforscher, insbesondere die Astronomen, sind da anderer Meinung. Sie halten von den Planeten unserer Sonne nur noch Mars und Venus für bewohnbar. Merkur empfange etwa 8 mal mehr Licht und Wärme als die Erde und scheine darum für Menschenwesen unerträglich warm zu sein; Uranus dagegen empfange etwa 370 mal, Neptun gar 900 mal weniger Licht und Wärme als die Erde, und infolge dieser geringen Zufuhr von Licht und Wärme sei es unwahrscheinlich, dass dort, in den eisigen Tiefen des Weltraums, organisches Leben existieren könne. Und so lassen sich auch bei Jupiter und Saturn gewichtige Umstände gegen ihre Bewohnbarkeit anführen."
"Die Ansichten der Astronomen in Ehren. Mit ihren Forschungsmitteln und aufgrund ihrer Voraussetzungen können sie kaum zu andern Ergebnissen kommen. Dennoch möchte ich annehmen, dass der eine oder andere über die Frage der Bewohnbarkeit der Planeten seine besondere Ansichten hat, die mit jenen Ergebnissen nicht übereinstimmen. Denn obwohl die Menge von Licht und Wärme, welche die Planeten von der Sonne empfangen, sich annähernd genau berechnen lässt, so genügt dies Wissen noch nicht zu einem richtigen Urteil. Das Fernrohr zeigt dem Auge des Forschers nur die Atmosphäre der Planeten - Mars ausgenommen -, das Spektroskop aber sagt über die Beschaffenheit dieser Atmosphäre sehr wenig und gar nichts darüber, wieviel Licht sie verschluckt und wie sie den Empfang und die Abgabe der Wärme beeinflusst. Wir wissen auch nicht, ob die sonnenfernen Planeten nicht noch genügend Eigenwärme haben oder ob sie nicht auf andere, uns unbekannte Art - etwa durch Radioaktivität - die zum organischen Leben erforderliche Wärme erzeugen. An Licht aber fehlt es sogar dem Planeten Neptun nicht, denn obwohl er 900 mal weniger Licht empfängt als die Erde, so ist das Sonnenlicht dort doch noch etwa 500 mal heller als unser Vollmondlicht und etwa 6 mal heller als das grelle Licht glühend flüssigen Eisens, vorausgesetzt, dass seine Atmosphäre gleich der unserigen etwa 4/10 der empfangenen Lichtmenge verschluckt. Die aus der äussern Beobachtung gewonnenen, gegen die Bewohnbarkeit der sonnenfernen Planeten sprechenden Gründe sind also nicht stichhaltig, es sind nur Vermutungen und gar zu sehr von irdisch-menschlichen Zuständen hergeleitet. Wir dürfen aber als gewiss annehmen, dass die Lebewesen anderer Weltkörper sich den Zuständen ihrer Welt ebenso anpassen, wie dies die Lebewesen der Erde tun."
"Ein Neptunmensch", fuhr Friedmar fort, "muss also nicht das spezifische Gewicht des Erdenmenschen haben, sein Blut muss nicht 37° C warm sein und er muss nicht Luft atmen von der Beschaffenheit unserer Luft; er kann grösser oder kleiner sein und sich anders ernähren und fortpflanzen als der Erdenmensch und kann doch vollkommen schön und zweckmässig gebaut sein und seine Welt ebenso schön finden wie wir die Erde, ja noch schöner. Es verrät Befangenheit in geozentrischen und anthropozentrischen Vorstellungen, wenn die Naturforscher andere Weltkörper und ihre Lebewesen nach irdisch-menschlichen Zuständen beurteilen. Wenn man mit Goethe der Anschauung ist, dass Gott die Weltkörper zu Pflanzschulen für Geister bestimmt habe - so sagte er zu Eckermann -, so wäre es eine grosse Verschwendung von Raum und Mitteln und seiner Weisheit und Macht nicht würdig, wenn von den acht Planeten unserer Sonne nur drei dem genannten Zwecke dienen könnten, während vier Riesenplaneten unnütz im Raum rollen würden. In Übereinstimmung damit sagen denn auch die Geister, dass alle Planeten unserer Sonne bewohnt seien und dass alle Planetenbewohner sich der Beschaffenheit ihrer Welten ebenso anpassten, wie wir solche Anpassung auch bei den Lebewesen der Erde sehen. Im besonderen sagen sie, dass die Merkurmenschen noch tief unter der Stufe der Erdenmenschen stünden, während die Bewohner der andern Planeten sich auf höherer Stufe befänden. Jupiter sei der angenehmste Planet unseres Systems, im Vergleich mit der Erde ein Paradies, und die Bewohner seien halbmateriell, nicht so derb und schwer wie wir."
"Was du über die Bewohnbarkeit der Planeten sagst, ist zwar kein voller Beweis, - der nach der Lage der Dinge wohl nicht zu geben ist und darum auch nicht gefordert werden darf, - aber es ist eine gute Begründung und so klar und einleuchtend, dass ich dagegen nichts einwenden möchte. Auch ich bin der Ansicht, dass die Natur reicher sein mag als unser beschränkter Verstand sich vorstellen kann und dass man deshalb den unzulänglichen Massstab irdisch-menschlicher Begriffe und Vorstellungen nicht an das unfassbar grosse Weltall anlegen darf. Das ist ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Alle Erweiterungen unserer Naturerkenntnis durch neue Entdeckungen und Erfindungen zeigt uns, dass unser Denken, unsere Phantasie immer hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Nicht so befriedigend finde ich deine Behauptung, es sei eine Verschwendung von Raum und Mitteln, wenn vier Riesenplaneten als unbewohnbar nun zwecklos im Raume liefen. Gewiss wäre das eine Verschwendung, wenn es sich so verhielte, aber wie steht es dann mit dem noch vielmal grösseren Riesenkörper der Sonne, die nach dem Stande unseres heutigen Wissens auch kein organisches Leben trägt. Das wäre eine viel grössere Verschwendung von Raum und Mitteln. Und dies wird wohl auch von andern Sonnen oder Fixsternen gelten. Ferner ist mir unklar, wie die Geister etwas über die Planeten wissen können, wenn, wie du bei der Erklärung des Jenseits sagtest, die materielle Welt, unser Diesseits, für sie verschwunden ist."
"So sagte ich. Und ich stellte Diesseits und Jenseits so schroff gegenüber, um euch den Unterschied beider Welten und deren Wahrnehmung durch ihre Bewohner recht deutlich zu machen. Gut, dass du mich daran erinnerst, sodass ich die Behauptung jetzt einschränken und erläutern kann. Das Diesseits, die materielle Welt, ist für den Geist verschwunden in dem Sinne, dass die Materie für ihn kein Hindernis bildet; er geht durch sie hindurch, etwa wie Luft durch einen Schwamm. Aber die Wahrnehmbarkeit der Materie ist für ihn nicht ganz aufgehoben, sondern nur beschränkt und verändert; wäre sie ganz aufgehoben, so könnten die Geister nicht auf die Materie einwirken und alle Phänomene des Spiritismus wären Täuschung. Dabei hängt es von der Art und Stufe eines Geistes ab, wie er die Materie wahrnimmt und wie und in welchem Masse er auf sie einwirken kann. Im allgemeinen kann als Regel gelten, dass niedere Geister mit schwerem, grobem Fluidkörper leichter und mehr auf die Materie einwirken können als hohe Geister. Jedoch ist solche Einwirkung nicht ohne weiteres jedem Geist möglich, sondern hängt von Umständen ab, muss verstanden und erlernt werden, und bildet daher verhältnismässig sehr seltene Ausnahmen. Diese fast vollständige Trennung der beiden Welten ist gut und nötig; bestände sie nicht, so würden die niederen Geister unerträglichen Unfug in unserer materiellen Welt verüben und das Leben in ihr zur Narrheit machen. Unter Materie verstehe ich hier den anorganischen, den unbelebten Stoff, nicht den Menschen, der ja, wie die Erfahrung zeigt, der Einwirkung der Geister leichter zugänglich ist, auch dann zugänglich ist, wenn er die Existenz von Geistern leugnet. Dieses Gebiet, wo zwei Welten sich berühren, ist noch wenig erforscht. Begnügt euch daher mit diesen Andeutungen. (Fussnote 21) Soviel geht aus ihnen hervor, dass es nicht mehr erdgebundenen Geistern möglich ist, die Nachbarwelten zu besuchen, sich über deren Beschaffenheit im allgemeinen zu unterrichten und uns im besonderen ein Bild der ethischen, religiösen und sozialen Zustände daselbst zu geben. Diese Zustände lassen sich am leichtesten erkennen und sind auch am wertvollsten für unsere Weltanschauung. Dem Physiker dagegen möchte es interessant sein zu wissen, bei wieviel Grad das Wasser auf dem Saturn siedet und bei wieviel Grad es auf dem Uranus gefriert. Aber für uns haben solche Fragen keinen Wert. Die Ansicht nun, dass die Unbewohnbarkeit der Sonnen eine grosse Verschwendung von Lebensraum bedeute, ist nicht zutreffend. Zwar tragen die Sonnen anscheinend kein organisches Leben materieller Art, wohl aber sind sie die Wohnstätten hoher Geister von solcher Verfeinerung, dass die physikalischen Kräfte und Zustände der Sonnen sie nicht berühren. Ausserdem aber schaffen die Sonnen die Bedingungen organischen Lebens auf ihren Planeten, und so zeigt sich nicht Verschwendung, sondern weise Benutzung von Raum und Mitteln.
"Kehren wir auf die Erde zurück. Die Ordnung der sozialen Zustände, wie sie jetzt besteht, hat eine verborgene Seite. Indem Gott niedere und sühnende Geister auf der Erde versammelt und sie sich hier einverleiben lässt, gibt er ihnen Gelegenheit zu lernen, die Folgen ihres Tuns zu schmecken, sich aneinander abzuschleifen, sich in Vergebung, Nachsicht, Liebe zu üben und so weit fortzuschreiten, dass sie ihren Weg zur Vollkommenheit auf schöneren, angenehmeren Weltkörpern fortsetzen können. Auf unserem Planeten ist ein Mensch, ein Volk des andern Plage und Teufel, die Völker werden durch ihre Regierungen und die Regierungen durch ihre Völker gezüchtigt, ein Böses straft und frisst das andere und wird selbst wieder gestraft und gefressen, und so geht das Böse immer an seinen eigenen Folgen zugrunde. Nicht Gott straft die Bösen - ich gebrauche einmal das Wort "Strafe", obwohl dieser Ausdruck nicht zutrifft, da es sich in der moralischen Weltordnung nicht um Lohn und Strafe, sondern um gute und ungute gesetzliche Folgen handelt -, die Bösen tun es selbst und tun es gern, eben weil sie böse sind. Rache ist süss, sagen sie und zeigen dadurch ihre moralische Stufe. Zwar leiden auch die bessern Menschen in der Gesellschaft der bösen, aber unnütz oder ungerecht ist auch dies Leiden nicht, denn selten, vielleicht nie, ist ein guter Mensch so vollkommen, dass er im Verkehr mit den geringern Brüdern nicht noch etwas lernen könnte. Und ferner hat er als Geist vor der Einverleibung gewusst, dass jemand, der einen schmutzigen Weg wandelt, nicht sauber bleiben kann. Wenn ein guter Mensch leidet, so ist dies Leiden entweder seine eigene Wahl, indem er es freiwillig übernahm, um fortzuschreiten und seine Kraft daran zu üben, oder das Leiden ist Sühne von Sünden aus früherem Erdenleben und also nicht ungerecht."
"Also daher kommt es, dass viele gute Menschen so bitter leiden: sie waren im früheren Erdenleben nicht gut und sühnen nun. Aber warum sind die Sühnen oft so hart wie bei einem Blödling? Würde eine mildere Sühne nicht auch genügen, wenn der Geist seinen Irrtum erkennt und sein Unrecht gut machen will? Widerspricht eine so harte Sühne nicht der Liebe Gottes, der doch gewiss keinen Geist unnötig plagen will?"
"Kein Widerspruch. Indem der Geist eine schwere Sühne übernimmt und durchführt, bekundet und betätigt der den festen Entschluss, gut zu machen und sich zu bessern. Eine leichte Sühne würde seinen Willen zum Guten weniger fest machen, würde weniger nachhaltig seinen Charakter bilden, und bei nächster Gelegenheit würde er wahrscheinlich wieder der Versuchung erliegen. Der Zweck der Sühne ist nicht das Leiden, sondern der Geist soll fest, stark und hart werden im Guten, gleichwie der weiche Ton durch die Hitze hart und fest wird in der schönen Form, die der Künstler ihm gegeben. Hierbei wollen wir aber nicht vergessen, dass der neugeschaffene, reine, aber noch weiche Geist diese Festigkeit im Guten erreichen kann auch ohne Leiden. Gott wäre nicht vollkommene Liebe, wenn er durch Leiden erringen liesse, was seine Weisheit und Allmacht auch ohne Leiden erreichbar machen könnte."
"Gar nicht selten entsteht Leiden auch durch eigene Schuld der Menschen", sagte Erna. "besonders durch Leichtsinn und Übermut. Es ergibt sich also aus dem Charakter des Menschen. Ungerecht möchte ich es daher nicht nennen, da der Charakter eigenes Werk des Menschen, genauer: seines Geistes ist, aber die Frage ist, ob es sich vermeiden lässt."
"Die Frage ist schwer zu beantworten, man kann sie bejahen und verneinen und für beides Gründe anführen, und würde dabei wieder in das streitige Gebiet der Willensfreiheit geraten. Und das werdet Ihr nicht wollen."
"Wenn jedes Leiden gerecht ist, so könnte man daraus folgern, dass man dem Bedürftigen nicht zu helfen brauche, um nicht in seine Sühne, sein Karma einzugreifen."
"Diese Folgerung scheint richtig zu sein, ist es aber nicht. Die Pflicht, dem Bedürftigen zu helfen, besteht immer. Wir wissen nicht, wie es um seine Sühne steht und ob es nicht gerade unsere besondere Aufgabe ist, ihm zu helfen. Und erwarten wir in der Not nicht auch Hilfe und nehmen sie an, ohne zu fragen, ob sie unsere Sühne störe?"
"Diese Antwort hätte ich mir selber geben können", murmelte Hallerstede, "sie ergibt sich ungezwungen aus deinen Lehren. Aber wie es bei solchen Unterhaltungen oft geht, man äussert den Gedanken, der einem gerade durch den Kopf fährt, ohne ihn erst lange zu überlegen. Und eine fertige Antwort ist bequemer als eine, die man selber suchen muss."
"Bequemer, ja; aber wertvoller ist die selbstgefundene Antwort, weil sie uns nötigt, das Für und Wider zu erwägen, wobei wieder andere Fragen auftauchen, die Lösung verlangen. Man lernt viel mehr auf diese Weise."
"Wohl wahr, aber diese Methode ist nur da ratsam, wo man von zuverlässigen Grundlagen ausgehen und Folgerungen ziehen kann. Es gibt eben Fragen, die wir aus Erfahrung und Logik allein nicht richtig beantworten können, so z.B. die Frage, wieviel Einverleibungen ein Geist braucht, um wieder rein zu werden, oder um so rein zu werden, dass er sich auf angenehmern Weltkörpern fortbilden kann, ferner, wieviel Zeit zwischen den Einverleibungen liegt."
"Ich kann darüber nur allgemeines sagen. Der Geist muss soviel Stufen steigen als er gefallen ist. Wer nicht tief gefallen ist, also sich nicht weit von seiner ursprünglichen Reinheit entfernt und seine Individualität nur wenig verbildet hat, materieller gesprochen: wer seine Seele nur wenig verschmutzt hat durch unreine, grobe Fluide, der hat auch keinen langen Weg zur Rückkehr, und es kann sein, dass er nur wenige Einverleibungen, ja nur eine einzige braucht und sich dann auf geistigeren Welten als die Erde fortbilden kann zur Vollkommenheit. Der sehr tief gefallene, in der Sünde verhärtete Geist dagegen muss eine lange Reihe von Einverleibungen durchmachen und es mögen Jahrtausende vergehen, bis er eine Stufe erreicht, von wo aus er rascher fortschreiten kann. Die geistige und die moralische Stufe des Geistes bestimmt die Anzahl und die Art seiner Einverleibungen, eine Regel lässt sich dafür nicht geben, auch nicht für den Zeitraum zwischen den Einverleibungen, wie von einigen Forschern versucht wird. Es ist wahrscheinlich, dass niedere Geister sich nach viel kürzeren Pausen einverleiben als fortgeschrittene Geister, weil sie infolge ihrer geringen Intelligenz sich im Jenseits nicht zu beschäftigen wissen, Langeweile haben und so bald wie möglich eine neue Einverleibung zu erlangen suchen. Die Sorge um Nahrung, Wohnung und Kleidung entfällt im Jenseits, auch die Zerstreuungen und Vergnügungen sind sehr gering und bald ausgekostet, und so haben diese Geister kein anderes Mittel, der Öde und Leere ihres Daseins zu entgehen, sozusagen vor sich selber davonzulaufen als wieder Mensch zu werden. Dass es auch bei dieser Regel Ausnahmen und keine Schablone gibt, liegt in der Natur der Sache; jeder Geist ist eine Individualität, ein Unikum, das in dieser Art nur einmal vorhanden ist, jeder geht also auch seinen eigenen Weg, der keinem andern Weg genau gleicht. Auch diese unerschöpfliche Mannigfaltigkeit ist ein Zeichen der unergründlichen Grösse Gottes."
"Sieht oder weiss der Geist, der Mensch werden will, alle Einzelheiten seines künftigen Erdenlebens, etwa, dass er Verbrecher werden oder Selbstmord begehen wird? Solches Wissen könnte doch nicht angenehm und auch nicht nützlich sein."
"Er sieht sein künftiges Erdenleben nur im Rohbegriff und weiss nicht, ob er die Prüfungen und Versuchungen, die es ihm bringt, bestehen wird, wenn er nicht ein hoher Geist ist, der seine Kraft und die Schwere der Aufgabe richtig bemisst und demnach seine Wahl treffen kann. Der Geist auf niederer oder mittlerer Stufe hat diese klare Einsicht nicht; um ihm die richtige Wahl seines Erdenlebens zu erleichtern, ist ihm der Schutzgeist oder Führergeist beigegeben, der ihm sagt, ob die Sühne, die Aufgabe seiner Kraft angemessen sei und ob er sie leisten könne oder nicht. Nun steht ihm frei, den Rat des erfahrenen Führers zu befolgen oder nicht. Befolgt er ihn, so gelingt ihm Sühne oder Aufgabe und sein Erdenleben bringt ihm geistigen oder moralischen Gewinn; hört er nicht auf den guten Rat, wählt er in Überschätzung seiner Kraft ein zu schweres Erdenleben, so kann er als Mensch das Leben nicht meistern, er scheitert, begeht Selbstmord oder tut andere Torheiten, er verfehlt den Zweck seiner Einverleibung und muss den Versuch wiederholen, bis der Zweck erreicht ist."
"Wenn es also auf die Leistung ankommt; wie verhält es sich dann mit dem Glauben, dem die evangelischen Kirchen so grossen Wert beilegen, im Gegensatz zur Werkgerechtigkeit der römischen Kirche? Wahrscheinlich auch ein Missverständnis."
"Du meinst wohl die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben. Wenn man sie so versteht, dass Gott dem gläubigen Menschen die Sünden vergibt, die Strafe der Sünden erlässt und ihm um des Glaubens willen den Himmel öffnet, so ist sie ein Irrtum und nicht vereinbar mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes. Mit der Liebe nicht, weil sie eine ewige Verdammnis bestehen lässt; und mit der Gerechtigkeit nicht, weil Gott nicht allen Menschen die gleiche Möglichkeit zur Erlangung des Heils gibt, da doch der grösste Teil der Menschheit von diesem Glauben nichts weiss, ohne eigenes Verschulden. Die Theologen, welche die Werkgerechtigkeit verwarfen, setzten an ihre Stelle die Prädestination oder die Gnadenwahl. Beide Lehren lassen sich aus der Bibel begründen, und beide hatten eifrige Anhänger, zwischen denen es nach Theologenbrauch heftigen Streit gab. Heute ist der Streit beigelegt, man hat eine Formel gefunden, die beiden Seiten gerecht werden soll, die Lehre von der praevisio fidei: "Gott hat die zum Heil bestimmt, von welchen er voraussah, dass sie glauben würden. Alles Heil stammt von Gott, aber der Glaube ist Bedingung des Heilserwerbes, und im Glauben ist die Willenshinwendung wesentlicher als die Heilserkenntnis und das passive Ergriffensein von ihr. (Fussnote 22) Diese spitzfindige Theorie will eine Lieblosigkeit und eine Ungerechtigkeit durch einen dialektischen Kunstgriff verbinden und so dem nach Liebe und Gerechtigkeit hungernden Gemüt schmackhaft machen; sie ist ein Verlegenheitsprodukt theologischen, in einseitigen, unzulänglichen Begriffen festgefahrenen Denkens, wird aber verständlich aus dem Mangel an klarer Erkenntnis der moralischen Weltordnung und aus der herrschenden Meinung, dass der Geist sich nur einmal einverleibe und in diesem einen Erdenleben seine Seligkeit schaffen müsse. Der Glaube, auf den es in Wahrheit ankommt, ist der Glaube an Gott, Unsterblichkeit und Verantwortlichkeit. Dieser Glaube hält den Menschen trotz allem Straucheln auf dem rechten Wege, er ermöglicht ihm den Fortschritt und ist die Vorstufe zur Erkenntnis und führt über die Erkenntnis hinaus zur Liebe. Wer nicht glaubt, dass er irgendwo ein Gut erlangen könne, wird sich auch nicht darum bemühen, denn der Mensch handelt nach Zwecken. Der Glaube an Christus aber verbindet uns mit diesem hohen, mächtigen Geist und lässt uns Kraft nehmen von dessen Fülle, wenn wir ihrer bedürfen - wie, hat er uns jetzt von neuem gesagt."
"Nur ein geringer Teil der Menschheit glaubt an Christus. Wenn dieser Glaube eine Hilfe sein soll, so ist der grössere Teil der Menschheit benachteiligt, was sich mit der Gerechtigkeit Gottes nicht vereinbaren lässt."
"Ich sehe keine Ungerechtigkeit. Die Geister einverleiben sich nach einer solchen Ordnung, dass jeder als Mensch das vorfindet, was er braucht. Er hat ja gewählt. Ob er die Mittel benutzt und wie er sie benutzt, ist eine andere Sache. Wer als sogenannter Heide von Christus nichts weiss, kann in einer folgenden Einverleibung von ihm hören oder in der Zeit zwischen den Einverleibungen ihn kennen lernen. Ungerechtigkeiten zeigen sich nur, wenn man die Wiedereinverleibungen der Geister leugnet."
"Wenn ich deine Weltanschauung kritisch betrachte, so scheint sie mir ein verfeinerter Materialismus zu sein, deine Ethik aber ein verfeinerter Egoismus. Wer das Gute tut um der guten Folgen willen, handelt in Wahrheit egoistisch, während man es selbstlos, ohne Hinblick auf Lohn tun soll. So sagen strenge Moralisten."
"Du magst meine Weltanschauung einen verfeinerten Materialismus nennen, wenn du sie sonst richtig verstehst; der Name tut nichts zur Sache. Auch die Bezeichnung "verfeinerter Egoismus" ist zutreffend. Aber dieser Egoismus ist berechtigt, sogar notwendig, buchstäblich not-wendig, die Not wendend. Du selbst sagst, dass der Mensch den Zweck seines Tuns einsehen wolle. Nun gut. Auf den unteren Stufen der Entwicklung tut der Mensch das Schlechte, weil er selber schlecht ist, unwissend und zum Guten unfähig; er kann nicht anders. Auf mittleren Stufen, wenn die Erkenntnis erwacht, unterlässt er das Schlechte, um den üblen Folgen zu entgehen, und er tut das Gute, um die guten Folgen zu ernten. Ob er diese Folgen nun als Lohn oder Strafe oder als gesetzliche Folgen betrachtet, bleibt sich gleich. Er strebt und kämpft, fällt und steht wieder auf; ihm macht die Tugend Schwierigkeit, wie Wilhelm Busch so schön sagt. Er ist noch nicht gut, aber er hat das Gute erkannt und will gut werden. Diese mittleren Stufen sind ein unvermeidlicher Übergang zu der oberen Stufe der wahren Güte und Selbstlosigkeit. Hat er diese erreicht, ist er gut geworden, so tut er das Gute nun ebenso aus seinem Wesen heraus, wie er früher so das Schlechte tat. Er kann und mag nicht mehr anders als gut wollen, und wenn er noch so strauchelt, so geschieht dies nicht aus schlechtem Willen, sondern aus Mangel an Kraft. Diese verschiedenen Stufen der Entwicklung durchschreitet der Mensch nicht in einem Erdenleben, sie verteilen sich auf mehrere oder viele Leben. Also steht die Sache so: der gute Mensch, der das Gute tut aus innerem Drang, darf die guten Folgen wissen; dies Wissen vermindert nicht den Wert seiner Tat, da er sie nicht der Folgen wegen tut. Der ringende, strebende Mensch aber soll die Folgen wissen, damit dies Wissen ihn ansporne, sich herauszuarbeiten aus Sünde und Leid. Es ist eine unbillige Forderung einseitiger, überspannter Moralisten, dass jeder Mensch das Gute selbstlos tun solle. Selbstlose Güte ist zweifellos das Ideal, als solches aber nicht für jeden Menschen erreichbar, denn es setzt voraus, dass alle Menschen auf hoher ethischer Stufe stehen, was eben nicht der Fall ist."
"So gibt es also keine absolute Moral?" fragte Hallerstede. "Ich meine eine solche, die für alle Menschen gleicherweise gilt. Ich höre hier und da reden von einem neuen Ethos."
"Der Weg, der zu Gott, oder was das Gleiche bedeutet, zu Vollkommenheit und Seligkeit führt, nämlich Erkenntnis und Liebe, ist für alle Menschen gleich, da gibt es keine Ausnahme und hat keiner ein Vorrecht. Das wäre gegen die Gerechtigkeit Gottes. Nicht gleichgültig aber ist die Stufe, auf der ein Mensch steht. Die gleiche Tat, getan von Menschen auf sehr verschiedener Stufe, kann für den vorgeschrittenen Menschen viel ernstere Folgen haben als für den wenig entwickelten Menschen, der wegen seiner niedern Stufe und geringen Erkenntnis auch nur geringe Verantwortlichkeit hat, gleich wie ein Kind nicht so voll verantwortlich ist wie ein Erwachsener. Wenn unklare Köpfe von einem neuen Ethos, einer neuen Moral reden, so lasst euch durch solches Literatengeschwätz nicht beirren; es gibt nur den einen wahren Weg, hat nie einen andern gegeben und wird nie einen andern geben, denn Gottes Gesetze sind vollkommen und unwandelbar, wie er selbst. Er macht keine Experimente. Wohl aber wandeln sich die Anschauungen über diesen Weg in Zeiten der Gährung und des Übergangs, wenn Altes modert und stürzt und Neues erstehen will. Dann treten Propheten auf wie Nietzsche, der durch gleissende Schlagworte und Phrasen und blendenden Stil die Menschen betörte. Ich will Nietzsche nicht herabsetzen, habe ihn doch gern gelesen, obwohl ich ihm oft nicht zustimmte. Er war ein feiner, geistreicher Kopf, ein vornehmer Mensch, der zweifellos das Gute wollte, der aber nicht zurechtkam mit der überlieferten Ethik und ihrem niedern Gottesbegriff. Er wollte Besseres geben, konnte es aber auch nicht. Als Kritiker und Einreisser hat er nützliche Arbeit getan, denn Gott braucht auch solche Arbeiter; als Prediger eines neuen Ethos war er ein Irrlicht, das irreführte und selber im Irrsinn endete. Wäre der Identitätsbeweis nicht so schwer zu erbringen, so würde ich sagen, dass er sich nach seinem Tode durch ein Medium geäussert und Aufschluss gegeben hat über die Absichten, die er als Mensch verfolgte, auch über seine Erkenntnisse als Geist, und zwar hat er sich in so würdiger Form geäussert, dass ich die Identität nicht ganz und gar bestreiten möchte. Ehrlich und mutig genug war er, seinen Irrtum einzugestehen. Nach der Heimkehr werdet Ihr Gelegenheit haben, seine Kundgebungen kennen zu lernen und euch selbst ein Urteil zu bilden."
"Was haltet ihr vom Gebet, Friedmar? Kann der Mensch den Willen Gottes ändern durch sein Gebet? Das kann doch nicht sein, wenn alles gesetzlich geschieht. Und was für unnütze Dinge werden erbeten!"
"Was nennt ihr den Willen Gottes? Wir müssen unterscheiden die Naturgesetze und die Gesetzmässigkeit der persönlichen Lebensführung. Diese gibt dem Menschen bei aller Beschränkung doch eine gewisse, individuell begrenzte Freiheit des Handelns. Die Naturgesetze können durch das Gebet nicht geändert werden, auch die Aufgabe, die der Geist sich für dies Erdenleben gestellt hat, lässt sich nicht umgehen, wohl aber kann dem Menschen innerhalb der begrenzten Freiheit seiner Lebensführung eine Bitte erfüllt werden, wenn er der Erfüllung würdig ist und die Erfüllung seinem Fortschritt dient. Gott hat Mittel und Wege, die Bitte zu erfüllen. Es gibt gut bezeugte Fälle von Gebetserhörung, ich nenne hier nur den Fall des Georg Müller in Bristol, der jahrelang ein Waisenhaus unterhielt durch die Mittel, die ihm auf sein Gebet zuflossen. Der Mensch, der sich in Not befindet, darf seinem Schöpfer diese Not klagen und darf um Hilfe bitten; er soll aber nicht mehr erbitten als er braucht, und soll jeder Bitte hinzufügen: Herr, dein Wille geschehe, nicht der Wille meiner Unwissenheit und Leidenschaft! Der Mensch kennt nicht seine Zukunft und weiss oft nicht, was ihm förderlich ist, darum soll er die Erfüllung seiner Bitte der Weisheit Gottes überlassen. Das gewohnheitsmässige Hersagen von Gebeten hat keinen Wert und ist unnützer Formendienst. Vor allem bittet um Licht und wahre Erkenntnis und um Kraft, dieser Erkenntnis zu leben. Diese Bitte umfasst alles, was Ihr zum geistigen Fortschritt bedürft. Und wenn Ihr selbst Klarheit und Erkenntnis gewonnen habt, so gebt sie andern weiter, denen, die danach verlangen und ohne sie jemand aufzudrängen, und indem Ihr andern den Heimweg zum Vater zeigt, legt Ihr selbst ein Stück eures Heimweges zurück und erfüllt eure Bestimmung, Bindeglied zu sein zwischen Hoch und Nieder."
"Friedmar", nahm Erna jetzt das Wort, "wir hätten noch viel zu fragen, aber da eure Reise sich dem Ende nähert, müssen wir unsere Wissbegier zähmen. Wir erwarten jedoch von eurer Freundschaft, dass Ihr uns besucht nach unserer Rückkehr. Und vielleicht könnt Ihr es ermöglichen, dass wir Nachricht bekommen von unsern verstorbenen Söhnen; Ihr versteht ja diesen Wunsch einer Mutter. Aber eins möchte ich jetzt noch gern hören. Ihr habt uns soviel Neues gesagt, dass es uns nicht möglich war, jedenfalls mir nicht, die Grundgedanken sofort fasslich zu ordnen. Vor allem: welches ist der kürzeste Weg, herauszukommen aus den Einverleibungen auf der Erde? Wenn es schönere Welten gibt, so sehe ich nicht ein, weshalb ich mich nicht bemühen sollte, so bald wie möglich loszukommen von diesem unangenehmen Planeten, wo man jedes mässige Behagen mit viel Mühe erkaufen muss und sich trotzdem meist nicht befriedigt fühlt. Die wahre Lebenskunst scheint mir darin zu bestehen, durch rechtes Leben sich von der Erde zu lösen, nicht darin, raffiniertem Genuss nachzujagen. Ich bin nicht so verliebt in die Erde, dass mich gelüstet, mich noch oft hier niederzulassen!"
"Ich sollte euch eigentlich ein wenig böse sein", setzte Mechthildis hinzu, "dass Ihr uns die Erde verleidet habt mit der Behauptung, sie sei eine Bussanstalt und eine Schule und kein Vergnügungsort. Ich hatte mir viel Schönes versprochen vom Leben, und nun hat alles einen bittern Beigeschmack. Aber da sich gegen die Wahrheit eurer Behauptung wohl nicht Triftiges einwenden lässt, denn auch Vater bezweifelt sie nicht, so scheint auch mir das Beste zu sein, so zu leben, dass man mit einem guten Führungszeugnis aus der Besserungsanstalt entlassen wird, nicht wieder zu kommen braucht und in eine höhere Schulklasse übergehen kann."
"Einen Irrtum verlieren kann soviel wert sein wie eine Wahrheit finden", sagte Friedmar. "Wie es grosse Wahrheiten gibt, die uns unermessliche Aussichten eröffnen, so gibt es grosse Irrtümer, die uns solche Aussichten versperren; darum ist das Beseitigen solcher Irrtümer nicht minder wichtig wie das Zeigen neuer Wahrheiten. Auf das Schöne der Erde braucht ihr nicht zu verzichten, wenn Ihr es ohne Schuld geniesst, also niemand Unrecht tut damit, und wenn Ihr euch mit eurem Denken und Tun nicht an die Erde bindet, also euch von ihren Freuden nicht beherrschen lasst. Haltet immer den Blick auf das Ewige gerichtet, so werdet Ihr die vergänglichen Freuden der Erde nicht überschätzen. Bleibt einfach und natürlich, ohne Frömmelei; Askese wird nicht verlangt und hat keinen Zweck. Was den Verkehr mit den verstorbenen Söhnen betrifft, so will ich versuchen, den Wunsch zu erfüllen, aber versprechen kann ich nichts. - Eine kurze, vorläufig genügende Zusammenfassung der Hauptgedanken unserer Unterhaltungen findet Ihr in dem Schöpfungsbericht und in den andern Mitteilungen, die Ihr notiert habt. Der kürzeste, einfachste Weg zum Vater aber ist die Liebe, ausgesprochen in dem Gebot: liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst! und die Ausführung dieses Gebotes heisst: was euch die Leute tun sollen, das tut ihnen! Darin liegt die ganze Ethik. Dieses kleine Gebot ist die enge Pforte, der schmale Weg, den Christus lehrte und lebte; die vielen Satzungen, Dogmen und Formen aber sind der breite Weg, der die Menschen in Irrtum, Hass, Streit und Leid führt. Allvater hat seinen Kindern den Weg nicht einfach gemacht, die Kirchen aber weisen sie auf den breiten, langen Weg, und es kann nicht eher voller Friede werden, bis die Menschen alle Satzungen, Dogmen und Formen überwunden haben, bis sie Gott in Geist und in Wahrheit anbeten. Und wenn man euch unfertige, verworrene Lehren anbietet als Gottes Wahrheit und als unerlässlich zur Seligkeit, so prüfet sie an der vollkommenen Liebe Gottes, an der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes und an seiner unergründlichen Grösse. Was diese Prüfung nicht aushält, was nicht klar und fleckenlos vor euch liegt, das ist nicht Gottes Wahrheit, sondern bestenfalls ein Zerrbild dieser Wahrheit, entstanden durch unrichtige, enge Begriffe unwissender Geister und Menschen. Lernt unterscheiden das Wesen vom Schein, das Vergängliche vom Ewigen. Verliert euch nicht in Kleinigkeiten; vieles, was den Menschen wichtig scheint, ist Nebensache, weder geboten noch verboten. Haltet euch an die Grundlagen der moralischen Weltordnung, besonders an die Liebe; habt Ihr diese, so habt Ihr alles und könnt den Weg zum Vater nicht verfehlen. Und nun zum Abschied vernehmt die schöne Kundgebung, die der Apostel der Liebe uns zukommen liess aus seinen seligen Höhen:

"An die Gemeinde der Liebe!
Alle Tugenden sind Waffen, mit welchen der Mensch gegen das Böse kämpfen und sich den Frieden erkämpfen soll. Die Liebe aber, die Mutter aller Tugenden, die alles Ungemach zu überwinden, alles Böse zu stillen fähig ist, sie ist keine Waffe, die da Wunden schlägt, sondern ist ein Balsam auf die Wunden, welche die Waffen im Kampfe den Menschen geschlagen; sie ist der Endzweck alles Kampfes, das Endziel alles Strebens, in ihr ist Friede! Die Liebe bezwingt den Feind nicht im Kampf, sondern im Frieden, und darum nenne ich selig alle, die lieben können das Geschöpf Gottes im allgemeinen, ohne Ansehen der Person. Die wahre Liebe liebt den Geist, den Gott erschaffen, den Geist im All, den Geist im Menschen. Sie, die da lieben können mit solch wahrer Liebe, welche die Person nicht ansieht, sie haben ausgekämpft den Kampf, sie schlagen keine Wunden mehr, sondern heilen alle Wunden, die es gibt; sie sind die Pfleger aller Verwundeten im Kampfe des Lebens, im Kampfe des Fortschritts, im Kampfe für den Frieden, diesen schönen Urzustand.
Ich nenne sie selig, denn in ihnen ist kein Leid mehr, sondern lauter Freude und Friede, lauter Wonne und Glück. Sie sind herrliche Geister, denn die Liebe ist der Diamant unter den Edelsteinen, den Tugenden der Menschen, das kostbarste Juwel, das ein Menschengeist erkämpfen kann. Die Liebe sucht nichts auf der Welt für sich, denn sie braucht nichts; sie ist unermesslich reich, ihre Natur ist "Geben" - immer geben, soviel einer nehmen kann.
Heiliger Urzustand des Wesens! Heiliges Urgefühl!
Liebe macht nicht gerecht, Liebe heiligt, denn wer Liebe hat, ist schon gerecht, muss schon gerecht sein, sonst könnte er nicht Liebe haben. Wer Liebe hat, bedarf nichts mehr, ihm kann nichts mehr gegeben werden, das ihn glücklich machen könnte, denn er hat alles: Liebe! Die Liebe erschuf alles, was ist, heilt alles, was krank ist, die Liebe ist alles in allem; aus ihr wurde das All geboren, in ihr lebt die lebendige Schöpfung, in ihr freut sich alle Kreatur.
Heilige Liebe, du heiliges Urgefühl! Auf Erden bist du nur schwach gekannt, kannst nicht empfunden werden in Wahrheit. Nur ein schwacher Abglanz ist des Menschen Liebe vom Urgefühl, und dennoch weltbeglückend, unaussprechliche Freuden schaffend.
Die Gemeinde der Liebe ist klein auf Erden, so klein, dass sie nicht gesehen wird von den Menschen; und doch ist sie vorhanden, und doch hat sie ihre Vertreter hier; und zu diesen muss ich sprechen, ich, ein Geist der Liebe, auf Erden einst Johannes genannt, der ein unansehnlicher Mensch, aber ein Liebejünger Jesu gewesen, ein Mensch, der wenig Worte hatte, der nicht reden konnte vor Gefühl; mein Gefühl erdrückte meine Worte, ich konnte nur wenig sagen, aber empfinden tat ich viel. Und Menschen meiner Art können auch nicht aussprechen, was sie empfinden, darum bemerkt man sie nicht auf Erden, denn hier in diesem Kampfgetümmel wird nur der bemerkt, der viele laute Worte macht, die stark in der Menschen Ohren klingen; der viele offene Taten tut, die auffallen den Menschen; ein solcher wird gelobt und gepriesen, wenn seine Worte und Taten den Menschen gefallen, und ist verpönt und verfolgt, wenn sie ihnen missfallen - aber gekannt ist er immerhin, man spricht von ihm in allen Weltteilen und fällt Urteile über ihn allerorten. Aber der unbedeutende Mensch, der sich nicht bemerkbar macht durch laute Worte und auffällige Taten, der nur in Empfindungen lebt und im Stillen wirkt, den kennt man nicht. Darum kennt man die Liebe nicht auf Erden, weil Liebe nicht auffällig ist, weil Liebe nur im Stillen wirkt, sich nicht kreischend fortbewegt auf der Menschen Wegen. Und doch, und doch - auch wenn man sie nicht sieht, empfindet man ihre Spuren. Wo Liebe gewandelt und eingekehrt, dort hat sie etwas hinterlassen, ohne es zu sagen; auf solchem Platz hat sie einen Teil ihrer Kraft zurückgelassen, und dieser Teil verschafft den Menschen Linderung ihrer Leiden, gibt ihnen Mut zum Weiterkämpfen und stärkt ihren Glauben, den Glauben, dass es eine Liebe geben muss, obwohl sie nicht gesehen wird von den Menschen. Wo Liebe eingekehrt, hat sie dem Streiter, der schon den Mut verloren im Kampfe des Lebens, neues Vertrauen eingeflösst und Zuversicht gegeben, dass der Kampf nicht ewig währen kann, dass einmal Sieg muss sein und Ruhe und Preis und Ehre, wenn auch der Hohn, die Schmach und das Leid noch so gross gewesen.
Selig nenne ich die Menschen, die Liebe fühlen können in ihrem Glauben, die da wissen, dass sie einen guten Glauben haben, der zur Liebe führen muss, zu einer Liebe, wie Gott sie erschaffen.
Du kleine Gemeinde der Liebe, harre aus! Verliere nicht dein Gefühl und mit ihm deine Natur und nimm nichts von der Welt, lasse alles der Welt, auch dich! Denn würdest du dich entziehen der Welt, müsste sie erstarren - die Wärme ist ja ohnehin so gering auf ihr! - ohne dich würde sie aber ganz aufhören, die Gefühle der Menschen würden vereisen und einer würde den andern nimmer fühlen können. Darum musst du der Welt erhalten bleiben als ein Wärmobjekt, dass sie sich an deiner kleinen Flamme wärmen und das himmlische Blut in ihr zirkulieren könne und sie nicht noch mehr ihr himmlisches Leben und ihre göttliche Abstammung verleugne.
Du kleine Gemeinde, wachse und sei still und begnüge dich mit deiner Stärke und freue dich, wenn du erwärmen und auftauen siehst der Menschen immer mehr und sie reicher werden siehst an ähnlichen Gefühlen. O bereichere die Welt, indem du Wärme spendest den Menschen, damit auftauen könne das vereiste Urgefühl in ihnen und sie sich immer mehr und mehr bewusst werden, dass in ihnen etwas lebt, das einst anders gewesen und das sie anspornen soll zum Kampfe mit sich selber, um sich diese, alte, verlorene Urnatur wieder zu erkämpfen.
Du Wundergemeinde der Welt! Deine Natur ist eine Wundernatur in den Augen der Menschen - denn wo gibt es Menschen, die da vermöchten alles zu geben und nichts zu nehmen? Dieses Wunder ist so gross, dass die Menschen nicht daran glauben können und dieser Unglaube ihnen auch nicht verdacht werden kann. Aber wenn sie alle Phasen, die diesem Wunder vorhergehen müssen, durchgemacht haben und dann fühlen werden dies Wunder in sich regen und lebendig werden: dann werden sie glauben, dass es existiert, werden sich dann aber auch überzeugen können, dass es nicht plötzlich bewirkt werden kann, sondern wachsen und sich natürlich entwickeln muss, um immer deutlicher in Erscheinung zu treten, und werden dies Wachstum fühlen und sich verwundern: wie man ein Wachstum fühlen kann. Darum kann die Liebe sich keinem Menschen erklärlich machen, weil ja kein Mensch sie verstehen kann, ausser der sie selber in sich fühlt, den sie in der Gewalt hat, den sie beherrschen kann, und ein solcher fühlt sich dann der allerkleinste, muss sich so fühlen vor der Gewalt, die ihn beherrscht.
Liebe Kindlein, was soll ich euch noch sagen? Soll ich euch eine lange Predigt machen? Die braucht ihr nicht. Oder soll ich euch das Wort Gottes enthüllen? Ihr fühlt es im Wesen, braucht der Enthüllung durch Worte nicht. Oder soll ich euch den Geist erklären? Ihr seid ja von seiner Macht regiert. Was also soll ich denn? Soll ich euch ermahnen, euch untereinander fort zu lieben? Ihr könnt ja nicht anders, euer Gefühl treibt euch dazu. Was also soll ich euch hinterlassen, da ich doch zu euch gekommen bin?
Ich will euch hinterlassen einen schwachen Ausdruck meines Gefühls, und das ist und kann nur sein ein Dank an Gott.
Sollen wir Gott um etwas bitten? Die Liebe verlangt ja nichts, ist mit ihrem Gott zufrieden und mit allem, was von ihm kommt, und freut sich alles dessen, wozu Gott sie verwendet, sie freut sich Gottes Waltens und ist selig in ihrem Tun. Was also bleibt mehr übrig da als Dank?
So lasst uns danken Ihm, dem grossen Geist des Alls, der uns hervorgehen liess aus seiner Liebe, der uns leben lässt in seiner Liebe, der uns Frieden gibt durch seine Liebe!
Dir danken wir, o Allvater, du erster Geist des Alls! Dir danken wir für unser Leben; dir danken wir für alles, was von deiner Allmacht zeugt; in dir verschwinden wir, denn du hast mitgeteilt von deinem Gefühle deinen Kindern, und sie fühlen dich, und du fühlst sie. Lasse wachsen dies Gefühl in ihnen, damit es sich ausbreiten könne über die ganze Menschheit und diese dich auch fühlen könne, wie du bist ein lieber Vater! Dank sei dir, Allmächtiger, dass du bescheinst den Glauben deiner Menschen, damit er sich entfalten könne zu einem Gefühle, das dich fühlen kann, und sie selig sein können in diesem Gefühle!
Höre, Vater, den Dank deines geringen Kindes, das dich fühlt und alles, alles zu tun fähig wäre für deine armen Menschenkinder! Dein Name möge wachsen auf Erden und die Wärme deiner Liebe möge sich ausbreiten über die Menschen und sie glücklich machen bald, bald, wie du es willst, o Vater! Amen. " (Fussnote 23)


Fussnote 16: A. Drews: Die Christusmythe. Zwei Bände. - Der Sternhimmel in der Dichtung und Religion der alten Völker und des Christentums.

Fussnote 17: Jülicher: Die Gleichnisreden Jesu, I, 4

Fussnote 18: F. Heiler: Das Wesen des Katholizismus. - Ein vortreffliches Buch, ehrlich, vornehm, gründlich ohne Weitschweifigkeit. Es beleuchtet sachlich und klar die Zusammensetzung des Katholizismus aus heidnischen, jüdischen, römischen, griechischen und christlichen Bestandteilen, zeigt seine Vorzüge und Nachteile im Vergleich mit den evangelischen Kirchen und sollte gelesen werden von Katholiken und Protestanten, die ihre eigene Religion richtig verstehen wollen.
Heiler und andere Theologen sehen das kirchliche Ideal in der "evangelischen Katholizität", in einer Kirche, die das Gute aller christlichen Kirchen vereinigt, ohne ihr Ungutes. Vom kirchlichen und theologischen Standpunkt aus ein schönes Ideal; ob mehr, ist fraglich. Wer die römische Kirche kennt, kann nicht hoffen, dass sie an der Verwirklichung dieses Ideals ehrlich mitarbeiten wird. Also bleibt nur die Umwandlung der evangelischen Kirchen und Sekten in die Idealkirche. Aber auch dieser Plan wird auf grosse, wahrscheinlich unüberwindliche Schwierigkeiten stossen. Eins der grössten Hindernisse ist, dass der Gottesbegriff, die Erlösungstheorie und die Jenseitsvorstellungen auch der evangelischen Kirchen den Forderungen der Vernunft nicht mehr genügen. Was daran auszusetzen ist, habe ich in diesem Schriftchen in grossen Zügen zusammengefasst. Da ist ferner das Apostolikum. Ob man meine hier gegebene Auslegung desselben annimmt oder nicht, soviel ist immerhin daraus zu ersehen, dass es neben der theologischen Auslegung noch eine andere gibt, der man Klarheit und Logik nicht absprechen kann. Soll nun das Apostolikum in seiner bisherigen Form und Auslegung beibehalten werden und fernerhin eine Gewissensfessel für viele Geistliche und Laien sein? Wie will man die Denker für die Idealkirche gewinnen, wenn die Dogmen der Vernunft widersprechen? Sollen sie wieder draussen bleiben? Will man das Apostolikum still verschwinden lassen und auf ein Glaubensbekenntnis überhaupt verzichten? Wird dann aber das Volk eine dogmenlose Religion der lautern Gesinnung und Tat annehmen? Wie soll man sich das Jenseits, Himmel und Hölle denken? Ist die Offenbarung göttlicher Wahrheiten endgültig abgeschlossen? Wenn nicht: wie denkt man sich ihre Kundgabe, wenn man nicht wie Rom über ein unfehlbares Sprachrohr verfügt? Soviel Fragen, soviel Schwierigkeiten. Man täusche sich nicht: wie die römische, so ist auch die evangelische Theologie bei dem toten Punkt angekommen, wo es eine Weiterbildung entsprechend den Forderungen einer fortschreitenden Erkenntnis nicht mehr gibt; sie wird sich mit neuem Leben füllen müssen, oder - sie wird nicht mehr sein. Ob das Experiment, neuen Wein in alte Schläuche zu tun, gelingen wird, ist zweifelhaft; Christus empfahl es nicht.
Die Umstände sind der Entstehung der Idealkirche nicht günstig. Wahrscheinlicher ist, dass die religiöse Entwicklung in den nächsten Jahrhunderten den von mir angedeuteten Verlauf nehmen wird, weil die von den Theologen bisher nicht beachtete Geisterwelt sich nicht dauernd ausschalten lässt und die Gruppierung der Menschen in autoritätsgläubige, in selbstdenkende und in gleichgültige mehr den natürlichen Verhältnissen entspricht. Das evangelisch-religiöse Leben wird gewiss nicht erlöschen, aber es wird sich einen andern Ausdruck schaffen. Form und Name sind Nebensache. Hauptsache ist, dass der Mensch den Weg zum Vater findet. "Auf jedem Wege, den der Mensch zu mir wandelt, will ich ihn empfangen, denn alle Wege sind mein." (Bhagavad-Gita).

Fussnote 19: Der Spiritismus will weder eine neue Religion sein noch die alten Religionen bekämpfen, er ist nur Mittel, unsere Erkenntnis zu vermehren und zu vertiefen und den Wahrheitskern der Religionen besser zu begründen. Wer sich in seinem Glauben wohl fühlt und die Bedürfnisse von Vernunft und Gemüt durch ihn befriedigt sieht, wer sich nicht nach höherer Erkenntnis sehnt, der bleibe in seinem Glauben, er ist für ihn der richtige, und es ist kein Grund vorhanden, sich von ihm abzuwenden. Wenn er die von Christus gegebene Lehre der Liebe tatkräftig befolgt, wird er dereinst an den ihm gebührenden Ort kommen, und es macht wenig aus, ob er an Geister geglaubt hat oder nicht.
Es gibt aber zahllose Menschen, denen die Lehren der Kirchen nicht genügen. Ihnen soll der Spiritismus geben, was sie in den Kirchen nicht finden. Der Autor des Schöpfungsberichtes sagt über Wesen und Zweck des Spiritismus:
"Verschieden ist eure Ansicht und verschieden muss sie sein infolge der Verschiedenheit eurer geistigen Stufe. Dem einen ist er Beweis der Unsterblichkeit des Geistes, dem andern ist er Unterhaltung und Interesse, wieder anderen dünkt er vom Bösen auszugehen und scheu ziehen sie sich von ihm zurück. Aber es gibt auch Menschen, die ihn erkannt haben als das, was er ist, als das Wort unseres Gottes, und schon auf Erden finden sie Frieden und Seligkeit in ihm. Solchen ist der Tod ein seliges Heimfliegen in alte, liebe Heimat, ein Entgegenjauchzen dem Vater, der ihnen die Aufgabe gegeben und zu dessen Füssen sie die fertige Arbeit niederlegen dürfen, um das beseligende Gefühl seiner Liebe dafür zu empfangen.
Liebe Menschen! Der Spiritismus ist der Beweis der Zeit der Reife, die über euch gekommen, der Zeit, wo die Grenze des Fleisches verschwindet und Gutes das Gute und Böses das Böse findet und sich damit verbindet in Mensch und Geisterreich. Das ist der wichtigste Grundsatz, den ihr Spiritisten euch zu eigen machen sollt: Gleiches zieht Gleiches an. Also kann nur eure höchste Reinheit hohe Geister anziehen und es ihnen ermöglichen, mit euch zu verkehren. Darum leget ab alles Niedere, Kleinliche, ringet mit der ganzen Kraft eures Willens, rein zu werden und frei von Sünde, denn diese Freiheit allein ist ewig und wahr, jede andere Freiheit enthaltend. Ihr seid ja bestimmt zur Seligkeit, darum ringt und jagt die ganze Menschheit nach Glück, und dennoch erkennen nur wenige, dass es nur ein wahres Glück, nur eine wahre Freude gibt: in der Reinheit, in der Grösse, in der in ihnen liegenden Gottähnlichkeit. Der Zweck des Spiritismus ist, den Menschen die Lehre der vollkommenen Liebe, der Gerechtigkeit Gottes zu bringen, direkt aus Gottes Liebe eine Antwort zu sein auf all das klagende "Warum?" der leidenden Menschheit. Eine Verbindung der Wissenschaft und der Religionen, indem er aus allen die Wahrheit nimmt, denn in ihr müssen Widersprüche schwinden. Den Menschen durch geistige Wahrheit geistige Freude zu geben, denn Gottes Liebe möchte dem Menschen auch in der Leidenszeit seiner Sühne Frieden und geistige Freude geben, denn dieser so unverstandenen, so oft verkannten Liebe ist ein Dankeslächeln eines Menschen auch eine Freude. Sagte nicht der Sohn: "Und ich sage nicht, dass ich für euch bitte, denn Er selbst, der Vater, hat euch lieb!" Also Erkenntnis bringt euch der Spiritismus, die Erkenntnis Gottes, den Beweis seiner Gerechtigkeit, seiner Liebe, den Beweis eurer Unsterblichkeit. Und indem hohe Geister euch von eurem Geisterheim erzählen, lernt ihr es lieben und dem Tod ist der Stachel genommen. Durch den Verkehr mit armen, gefallenen Geistern aber lernt ihr, welches Leiden die unabwendbare Folge der Sünde ist, lernt ihr das Reich der Finsternis (das Reich der Sünde) im Weltall kennen, und indem ihr Mitleid und Liebe für diese Geister habt und ihnen helft durch Gebet und durch die Lehre der hohen Geister, die euch geworden, werdet ihr eurem Zweck gerecht als Bindeglied zwischen Hoch und Nieder. So lernt ihr, um zu lehren, so empfangt ihr das Gute, um es weiter zu geben, denn das Licht ist göttlich in seiner Eigenschaft: Je mehr ihr von ihm weitergebt, desto heller brennt es euch.
Darum bleibet nicht am Niedern hängen, nehmet und verwertet den Spiritismus zu seinem eigentlichen, gottbestimmten Zweck. Alle Kundgebungen der Geisterwelt regen eure Neugier an, aber gebet euch nicht zufrieden mit Wenigem, wenn der Spiritismus euch den ganzen reichen Schatz von Gottes Wahrheit eröffnet. Er soll euch den Beweis der Unsterblichkeit eures Geistes geben - doch bleibet dabei nicht stehen, strebet vorwärts, aufwärts. Lernet nun von Gott, aus dessen Ewigkeit eure Unsterblichkeit hervorging, aus dessen Gerechtigkeit euer Leiden, aus dessen Gnade die Umwandlung des Leidens zur Sühne hervorgeht; aus dessen Liebe die endliche Heimkehr aller seiner Kinder und aus dessen Unwandelbarkeit endliche Vollkommenheit des ganzen grossen Weltalls hervorgehen wird. Die Antwort ist euch gegeben auf alle fragende Klage, und also verwandelt sich die Frage zum Dank und zum Jubel. Das ist der Zweck des Spiritismus. Menschenbrüder, hindert nicht die Erfüllung, indem ihr in den Staub zieht, was euch aus dem Staub erheben soll. In der Schöpfungsparabel verbindet sich Gottes Hauch mit dem Staub, und der Mensch ist geschaffen; nun verbindet sich Gottes Geist mit eurem Geist, und aus dieser Verbindung soll Wahrheit hervorgehen, die, wieder euch umwandelnd, zu Kindern des Lichtes euch umbilden soll." -
Der Spiritismus soll uns also belehren über das Jenseits und über die Folgen unseres Erdenwandels nach dem Tode, und tatsächlich hat er tausende von Menschen zum Glauben an Gott, Unsterblichkeit und Gerechtigkeit geführt, und dieser Glaube war ihnen Stütze im Leben und Trost im Sterben. Wenn nun die Kirchen - allen voraus die römische - den Spiritismus als dämonisch, als Teufelswerk bezeichnen, so stehen sie mit dieser Behauptung vor der seltsamen Tatsache, dass dann der Teufel für Gott arbeitet, und zwar bewusst. Gewiss sind die Teufel töricht, dass sie sich gegen Gott auflehnen, aber so töricht, dass sie bewusst für Gott arbeiten, indem sie die Menschen zu reinem, sittlichem Lebenswandel, zum Glauben an Gott und zum Gebet auffordern, so töricht sind sie nun doch nicht. Wohl kann Gott in seiner Weisheit auch die Werke der Gegensatzgeister für seine Zwecke verwenden und Gutes aus ihnen hervorgehen lassen, aber das ist doch etwas ganz anderes als die bewusste Arbeit der Bösen für Gott. Wenn die Kirchen weiter sagen: die Teufel verstellen sich, hüllen sich in das Gewand scheinbarer Wahrheit, sprechen mit Engelzungen, um für ihre Irrlehre leichter Glauben zu finden, so kann man fragen: wenn die Teufel als Engel des Lichts erscheinen, wie wollen dann die Kirchen sie von den wahren Engeln unterscheiden, und welche Gewähr haben sie, dass nicht auch die Geistlichen von solchen verkleideten Teufel inspiriert und getäuscht werden und getäuscht worden sind bei der Aufstellung von Dogmen, sodass also das ganze Dogmengebäude auf Täuschung beruhen könnte? Die Dogmen sollen massgebend sein für Lehre und Leben, aber wie können sie das sein, wenn ihre Wahrheit selbst zweifelhaft ist? In dem blinden Eifer, den Spiritismus als Teufelswerk hinzustellen, greifen die Kirchen zu bedenklichen Behauptungen, übersehen aber, dass diese Behauptungen sich auch gegen die Dogmen der Kirchen wenden, und so geraten die Kirchen selbst in die Schlinge, die sie andern gelegt haben. So geht es, wenn man gar zu schlau sein, wenn man durchaus recht haben will, wenn man in andern geistigen Bewegungen nur das Schlechte sieht und das Gute nicht anerkennen darf, damit die eigenen Schäfchen nicht darauf aufmerksam werden.
Es ist hier nicht der Ort, einzugehen auf die aus Unkenntnis, Vorurteil und Angst vor der Wahrheit entspringenden Angriffe auf den Spiritismus, ich beschränke mich auf die Abwehr einer der übelsten Verleumdungen. Wer seine Vernunft nicht hat benebeln lassen, durch Vorurteil und Dogma, urteile selbst, ob es wahrscheinlich ist, dass z.B. die Kundgebungen "an die Gemeinde der Liebe" einen Dämon zum Urheber hat. Um das Urteilen zu erleichtern und auf eine breitere Grundlage zu stellen, gehe ich von den vielen schönen Gebeten, welche die Geister uns mitgeteilt haben, das folgende:
"Mein Gott und Vater, der du die eine grosse Liebe bist, dein ist die Welt und dein bin ich. Erfülle deinen heiligen Willen an mir, an allem, was ich habe. Erkenntnis gib du mir, mein Gott, Erkenntnis deiner Liebe, Erkenntnis deiner Weisheit, Erkenntnis meiner Pflichten, Erkenntnis meiner selbst. Jeden Tag bringe mich dir näher, jede Stunde führe, segne mich, mit deiner Liebe, Vater, halte mich. Dein ist mein Leben, dein ist alles, was ich bin und habe; nicht lichtleer, nicht freudlos kann es sein, wenn du in ihm enthalten bist, wenn es mich emporzieht zu deinem Throne. Und nimm hinweg von mir Müdigkeit und Schwäche; mit deiner Kraft durchdringe mich und gib mir volles Verständnis der leisen Jubelmelodie, die da und dort hervorbricht aus deiner Schöpfung und hervorbrechen muss, weil du sie bestimmt hast zu Vollkommenheit und Seligkeit. Und allen, allen gib Erkenntnis, Erkenntnis deiner Grösse, deiner Wahrheit, Erkenntnis ihrer Sünde, und Erkenntnis, dass in der Sünde allein ihr Leiden liegt. Dies gib, mein Vater, allen meinen verirrten Brüdern in der Geisterwelt, auf dass alle deine Liebe fühlen und alle in das eine Jubellied mit einstimmen können. Und nimm meinen Dank, mein Vater, für alles, was du mir gegeben, für alles, was du mir getan, für deine verstandene und unverstandene Liebe. Nimm du, mein Heiland, Meister, meinen Dank und trage ihn zum Vater, um deiner Liebe willen." -
Orthodoxe Theologen müssen nach ihrer Theorie dies Gebet als das Gebet eines Dämons bezeichnen. Ob wirklich jemand so beschränkt ist, es auch zu tun, weiss ich nicht, ich möchte es nicht glauben. Sollte es aber doch der Fall sein, so möchte ich wissen, worin das Dämonische bestehen soll und was man sonst an dem Gebet auszusetzen findet.
Vorsichtige Theologen werden vielleicht sagen, dass sie die Herkunft dieser Kundgebungen vom Teufel nicht behaupten, sie könnten auch aus dem Unterbewusstsein des Mediums stammen. Lassen wir die Behauptung von der Herkunft der Kundgebungen aus dem Unterbewusstsein - diesem "Mädchen für alles" - einmal gelten, so wäre zu erwidern: auch die Theologen haben ein Unterbewusstsein, wie wollen sie nun einwandfrei beweisen, dass die Inspirationen, die sie dem heiligen Geist zuschreiben, wirklich von ihm und nicht aus ihrem Unterbewusstsein kommen? Woran soll man die göttliche Wahrheit ihrer Inspirationen erkennen? Etwa daran, dass der Inspirator sich weislich hütet, etwas zum Nachteil der Priesterkaste zu sagen? Unbefangene Kritiker schliessen aus diesem Merkmal auf die menschliche Quelle der angeblich göttlichen Inspirationen.
Die Geisterkundgebungen sind schon zu Bibliotheken angewachsen und sollen auch künftig reich fliessen. Sie sind nicht gleichwertig. Nur ein Teil genügt höhern, philosophischen Ansprüchen, und nur nach diesen besten Leistungen darf die geistige Bedeutung des Spiritismus beurteilt werden, nicht nach den minderen. Aber auch diese minderen Kundgebungen, die jedoch nicht immer schlecht sind, dienen einem Zweck, nicht nur, indem sie Menschen mit mässigem Verstande belehren, - die ja auch der Belehrung bedürfen und die guten philosophischen Kundgebungen wahrscheinlich nicht verstehen würden - sondern auch, indem sie den kläglichen Zustand der Geister offenbaren, die als Menschen nicht nach Erkenntnis und Tugend strebten, die gleichgültig, leichtsinnig dahinlebten oder sich auf die Versprechungen der Kirchen verliessen und - sich nun bitter getäuscht sehen. Man darf von Geistern auf niederer und mittlerer Stufe keine hohen Lehren erwarten, niemand kann mehr geben als er hat, aber was sie uns über ihren Zustand sagen, verdient Beachtung, weil diese Aussagen bei aller Verschiedenheit doch darin übereinstimmen, dass es eine grundfalsche Ansicht ist, dass der Geist sofort nach dem Ablegen des Körpers ein weises, vollkommenes Wesen sei und dass der "verzeihende, schenkende Vatergott" ihm aus Gnade und um des Glaubens willen die Seligkeit gebe. Nichts dergleichen. Wie wenig der Tod unser Wesen ändert, zeigt sich u.a. darin, dass viele Geister, die als Menschen sehr materiell dachten und lebten, nicht einmal wissen, dass sie gestorben sind; sie leben weiter in ihrer Gedankenwelt, wähnen noch Menschen zu sein und müssen über ihren neuen Zustand belehrt werden, was besonders bei Materialisten nicht immer leicht ist.
Die Erkenntnis, dass die Kirchen über das Jenseits nicht die Wahrheit lehren, wird sich mehr und mehr verbreiten und langsam, aber unaufhaltsam die Grundlagen der evangelischen Kirchen unterhöhlen, auch der römischen Kirche viele Mitglieder entziehen und so die Scheidung der Menschen in die schon genannten drei Hauptgruppen bewirken. Diese Entwicklung braucht Zeit, man muss mit Jahrhunderten rechnen und heute ist das Problem noch nicht akut. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass unerwartete Ereignisse die Entwicklung beschleunigen werden, und früher oder später wird an die Theologie aller Kirchen die Frage herantreten, ob sie Öl auf ihren Lampen haben.

Fussnote 20: Bergbach: Geisterkundgebungen 139. - In dieser Kundgebung sind zwei Sätze versehentlich ausgefallen. Seite 256, Zeile 8, ist hinzuzufügen: "deshalb auch kann Christus nicht Gott sein, denn Gott konnte nicht in die Materie. Es gibt eben Dinge, die sich nicht vermischen lassen."
[Anm.d.Erf.: Die Sätze wurden in []-Klammer im Text eingesetzt.]

Fussnote 21: Friese: Das Leben jenseits des Grabes; von einem Geist geschildert. Gibt wertvolle, leider nicht erschöpfende Aufschlüsse über die Wahrnehmungen der geistigen und materiellen Welt durch Geister auf niederer und mittlerer Stufe. Eine gründliche, umfassende Darstellung dieser Frage fehlt noch. Einzelne Mitteilungen finden sich zerstreut in medialen Kundgebungen, und es wäre nützlich, sie zu einem Ganzen zu sammeln. Klare Einsicht in diese verwickelte Frage könnte die Untersuchung und Beurteilung mediumistischer Phänomene erleichtern, denn es scheint, dass die Forscher in Unkenntnis dessen, was die Geister leisten können, Forderungen stellen, die nur unter besonders günstigen, nicht immer gegebenen Bedingungen erfüllbar oder überhaupt unerfüllbar sind. Misserfolge werden dann den Medien oder Geistern zur Last gelegt und führen zu voreiligen Schlüssen. Im allgemeinen sei nur noch gesagt, dass die Geister von der Wahrnehmung der materiellen Welt nicht so dicht abgeschlossen sind wie wir mit der sinnlichen Wahrnehmung der geistigen Welt.

Fussnote 22: Real.-Enzyklopädie für protest. Theologie und Kirche, 3. Aufl. XXI. 315.

Fussnote 23: Reformierende Blätter II. 387

Bemerkung [von F. Funcke]: Eben vor Beendigung des Druckes bekomme ich das neu erschienene Werk von Ingenieur Hans Malik: Der Baumeister seiner Welt. (600 Seiten gross 8° mit 123 Abbildungen. Im Selbstverlag des Verfassers, Wien VI, Mollardgasse 39). Viele Fragen, die ich nur flüchtig berührt oder ganz übergangen habe, sind in diesem Werk ausführlicher behandelt, so die Planetenbewohner (nach Kundgebungen durch Adelma Vay); Besessenheiten und deren Behandlung (für Ärzte und Geistliche gleich lehrreich); die Beschaffenheit der zu unserem Erdkörper gehörigen Regionen (Sphären) des Jenseits; die Entstehung der Welt; Probleme des Mediumismus; und viele andere interessante Einzelfragen. Der Verfasser verfügt über grosse Erfahrung auf dem Gebiete der psychischen Forschung, und seine Beobachtungen und Ansichten sind wertvoll für die Beurteilung der immer mehr in den Vordergrund rückenden Probleme des Mediumismus.

[Fussnote 33:] Anmerkungen zu Seite 186: Bei der Frage der Gotteslästerung habe ich nur die Rechtslage, das Schuldverhältnis zwischen Gott und dem Mensch rein theoretisch dargestellt, um klare Begriffe zu schaffen. Praktisch ist selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden, dass die Religionen gegen Beschimpfungen geschützt werden, insoweit dieser Schutz die berechtigte sachliche Kritik nicht behindert, und auch innerhalb der Religionsgesellschaften mögen Bussen oder Strafen verhängt werden, wie die Leiter der Gesellschaften es für gut befinden. Ob es empfehlenswert ist, die "Gotteslästerung" unter Strafe zu stellen, bleibe hier unerörtert.



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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"