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Renatus-Verlag in Lorch (Württemberg) Alle Rechte vorbehalten Copyright by Renatus-Verlag, Lorch (Württ.) 1929

Friedrich Funcke : Christentum als Weltanschauung und Lebenskunst

6. Kapitel

Die Sündenvergebung - Das Abendmahl - Das Opfer Christi - Die Sünde wider den heiligen Geist - Karma

Bei der nächsten Unterhaltung fragte Erna: "Ihr sagtet, dass der Mensch nur die Sünden vergeben könne, die gegen ihn selbst getan worden sind. Wie steht es aber mit dem Lossprechen von der Sünde durch die Geistlichen beim Abendmahl? Ist das eine Ausnahme? Und wie denkt Ihr jetzt über das Sakrament selbst, nachdem eure Ansichten sich so sehr gewandelt haben? Die Ansicht, dass man im Brot und Wein den Leib und das Blut Christi verzehre, hat mir das Abendmahl so verleidet, dass ich ihm seit langer Zeit ferngeblieben bin. Ich weiss zwar nicht, wie Ihr Wesen und Zweck des Abendmahls erklären werdet, aber ich getraue mich doch schon zu sagen, dass die Lehre der Kirche nicht wahr sein kann. Die Vernunft sagt mir, dass diese Lehre eine andere Bedeutung haben muss."
"Die Lehre vom Abendmahl und der Messe gehört gleich dem Glaubensbekenntnis zu den Kernstücken des Kirchentums und hat vielleicht noch mehr Hass und Hader hervorgerufen als dieses. Auf diesen Streit will ich nicht eingehen, er ist den Wissenden ja bekannt und diese Sachen aufzuwärmen hat keinen Zweck. Die Lehre, dass Brot und Wein sich unter den Händen des Geistlichen in Fleisch und Blut Christi verwandeln, ist Irrtum, und ebenso ist es Irrtum, dass man die Vergebung der Sünden erlangen könne durch gläubige Annahme dieser Lehre und Empfang des Sakramentes. Das Sakrament des Altars ist zu einer Form geworden, zu einer Form, dessen Sinn die Menschen nicht verstehen und die Geistlichen auch nicht. Ich sagte schon, dass der Geist im Menschen durch sein Denken und Tun die Beschaffenheit seiner fluidischen Hülle - seiner Seele - bildet, sie licht, leicht und fein, oder dunkel, schwer und grob macht, je nachdem er Gutes oder Ungutes denkt und tut. Der lichte Geist ist nach dem Leibestode selig und geniesst die Schönheiten der Lichtwelten, der dunkle Geist ist unselig und ausgeschlossen von diesen Schönheiten. Dies wissen wir aus zahllosen Kundgebungen der Geister selbst und ist nicht blosse Meinung von mir. Der Geist selbst ist seines Glückes oder Unglücks Schmied im wahren Sinn des Wortes und im Einklang mit Freiheit und Gerechtigkeit. Demgemäss aber kann der sündige Geist sich erlösen von der Sünde und ihren Folgen wieder nur durch sein Denken und Tun, durch lautere Gesinnung, nicht durch eine äussere Form und Feier, auch wenn er diese noch so oft und gläubig wiederholt. Das ist die wahre Erlösung, und Ihr werdet wohl nicht bestreiten, dass auch sie im Einklang steht mit Gerechtigkeit und Freiheit. So betrachtet, erscheint das Sakrament des Altars nur als eine Form, eine Form allerdings, die einen Gemütswert haben kann und oft auch hat, für sich allein aber die Erlösung von der Sünde nicht bewirken kann. Die lautere Gesinnung, der entschiedene Willen zum Guten ist die Hauptsache und die eigentlich erlösende Kraft, die Form ist Nebensache und für sich allein vermag sie nichts. Denn wo wäre Gerechtigkeit, wenn der Sünder der Folgen seiner Sünde so leicht ledig werden könnte? Und würde er in diesem Fall nicht immer wieder weiter sündigen und also immer in Sünde und Unvollkommenheit bleiben? Wir sind empört, wenn ein ungerechter Richter einen Verbrecher ohne Sühne entwischen lässt: sollte aber Gottes Gerechtigkeit minder sein als die der Menschen? Der Sünder allerdings und alle, die so denken wie er und auch sündigen möchten oder von der Sünde Vorteil erwarten: die werden mit einer so wohlfeilen und bequemen Erlösung zweifellos zufrieden sein und sie auch gerecht finden, wie die Beliebtheit der Kirchenlehre ja auch bezeugt, aber der rechtlich denkende Mensch urteilt anders."
"Wie stellt ihr euch aber zu den Worten, womit Christus das Abendmahl eingesetzt hat? Diese Worte sind doch so klar, dass man sie nicht anders verstehen kann als sie verstanden werden."
"Angenommen, dass Christus diese Worte wirklich gesprochen hat, müssen sie aus den Anschauungen seiner Zeit heraus verstanden werden. Das religiöse Leben jener Zeit war beherrscht von Gedanken des Opfers. Die Juden opferten Tiere, andere Völker opferten auch Menschen, um die Götter zu versöhnen und freundlich zu stimmen. Nun steht ausser Zweifel, dass die Anschauungen jener Zeit auf die Ausdrucksweise Christi und folglich auch auf die spätere Niederschrift der Evangelien abgefärbt haben, denn um verstanden zu werden, musste er seine Lehren in Form und Ausdruck den Anschauungen und der Fassungskraft der Zuhörer anpassen, sodass bei der geringen Intelligenz dieser Zuhörer Missverständnisse unvermeidlich waren - er beklagte sich ja über das geringe Verständnis der Jünger -, und schwer ist es heute, einen vernünftigen Sinn jener dunklen Worte zu finden, wenn man sie, wie die Kirchen tun, materiell auslegt. Auch unsere modernen Sprachen enthalten Ausdrücke und Bilder, die man nach tausend Jahren nicht mehr verstehen wird, zumal wenn sie wörtlich in eine andere Sprache übersetzt werden. Um Klarheit zu gewinnen, bat ich die Geisterfreunde, mir den wahren Sinn der Einsetzungsworte zu offenbaren und durch ein gutes Medium gaben sie mir folgende Antwort: "Christus sprach viel in Gleichnissen, so auch hier. Brot und Wein bedeuten seine Lehre. Wie ihr Brot und Wein durch die Verdauung zu einem Bestandteil eures Körpers macht, so müsst ihr seine Lehre in euch aufnehmen und sie gleichsam zu Fleisch und Blut in euch werden lassen; so soll die Wahrheit, die Christus euch gegeben, als geistiges Brot genossen werden, um das geistige Leben zu erhalten, und soll als geistiger Wein euch stärken. Alle, die im Gedenken an ihn sich mit ihm vereinigen (kommunizieren), haben teil an seinem Wesen und treten in fluidische Verbindung mit ihm. Durch die Verteilung von Brot und Wein brachte er dies symbolisch zum Ausdruck."
"Diese Kundgebung bringt uns auf die richtige Spur. Nicht alle Worte Christi sind aufgezeichnet worden. Wie nun, wenn unter den verschollenen Worten sich solche befänden, die den dunklen Sinn anderer Worte erläutern? Dann hätten wir eine Erklärung dafür, dass neben Worten hoher Weisheit solche stehen, die zu so üblen Missverständnissen führten, wie die Verse 51 bis 57 im 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums, Verse, die, wörtlich genommen, eine Aufforderung zur Menschenfresserei enthalten, wenn wir die Sache mit richtigem Namen nennen. Aber dieser Gedanke ist so verrückt, dass die Verse einen andern Sinn haben müssen, zumal Christus selbst im Vers 63 sagt: "der Geist ist's der lebendig macht, das Fleisch ist nichts nütze." Dieser rechte Geist ist allerdings den spätern Auslegern der fraglichen Bibelstelle ganz abhanden gekommen. Wenn Christus nun in jenen Werken ein Gleichnis oder Bild gebraucht hat, so wird er, der das schwache Verständnis der Zuhörer kannte, wohl nicht unterlassen haben, ihnen den geheimen Sinn seiner Rede zu erklären, wie er dies auch mit andern Gleichnissen getan, um Unbekanntes durch Bekanntes begreiflich zu machen. Das Gleichnis, als anschauliches Bild, haftet im Gedächtnis und wurde später aufgezeichnet, die weniger anschauliche Erklärung aber wurde vergessen, und so entstand jener Irrtum, aus dem so viel Hader hervorging."
"Deine Erklärung, wie auch die Kundgebung finde ich annehmbar, da sie meiner Vernunft keinen Unsinn zumuten; sie haben soviel innere Wahrscheinlichkeit, als man heute in Anbetracht der Umstände überhaupt erlangen kann. Aber du machtest einen Vorbehalt: "angenommen, dass Christus diese Worte wirklich ausgesprochen hat". Sind denn die Worte Christi nicht so echt, wie die Kirche sie hinstellt: als unantastbare göttliche Wahrheit?"
"Die Urschriften der Evangelien sind verloren gegangen. Was wir besitzen, sind spätere Niederschriften ohne die Treue und Genauigkeit, die wir von wichtigen historischen Dokumenten fordern. Und da sie auch Widersprüche enthalten, darf man sie nicht buchstabengläubig als absolute göttliche Wahrheit betrachten - womit ich aber ihren Wert nicht herabsetzen will. Sie enthalten Worte, die Christus wahrscheinlich nicht gebraucht hat in dem materiellen Sinne, den die Kirchen ihnen beilegen und woraus die Kirchen ihren Nutzen ziehen. Solche Worte erregen der Verdacht, dass sie zum Nutzen der Kirche oder aus Unwissenheit oder aus andern Gründen später eingeschoben worden sind. Jedenfalls halte ich es für ausgeschlossen, dass Christus, der hohe Geist, der die Gesetze der moralischen Weltordnung kannte, jene Worte in dem buchstäblichen Sinn der Kirchenlehre gesprochen haben könnte. So halte ich es auch mit andern Worten Christi, die zu Bedenken Anlass geben. Ich nehme eher an, dass sie missverstanden, entstellt oder falsch aufgezeichnet worden sind, als dass ich diesem erhabenen Geiste Worte zuschreibe, die der Vernunft und der moralischen Weltordnung widersprechen. Das ist eine einfache und gründliche, obwohl subjektive Lösung theologischer Streitfragen über Echtheit von Christusworten. Buchstabengläubige und Wortklauber werden ihr nicht zustimmen, ja sie für gefährlich halten, da sie der Willkür Tür und Tor öffne. Und sie haben auch recht, soweit sie selbst in Frage kommen, da sie keinen zuverlässigen Massstab haben, den Sinn eines Wortes zu messen und zudem - als Geistliche - amtlich auf gewisse Lehrsätze verpflichtet worden sind und sich solche Freiheit also nicht erlauben dürfen."
"Da könnte man einwenden, dass der Massstab an sich zwar brauchbar sei, aber zweifelhaft sei, ob unsere kleine Vernunft ihn richtig zu gebrauchen wisse."
"Gewiss kann man dies einwenden, aber ich halte es für richtiger, die von allen vernünftigen Menschen anerkannten Grundsätze: Liebe, Weisheit, Gerechtigkeit und Freiheit zur Grundlage eines Urteils zu machen, als Aussprüche und Dogmen anzuerkennen, die logische Widersprüche enthalten und in ihren Konsequenzen zum Unsinn führen. Solche Widersprüche können in der moralischen Weltordnung nicht real enthalten sein, weil es in der Wahrheit keine Widersprüche gibt. Auch sind sie unvereinbar mit der Vollkommenheit Gottes. Wenn wir sie in einer Lehre finden, müssen sie Irrtümer der Menschen sein, und wir haben recht, sie abzulehnen. Wir dürfen dies auch darum tun, weil über den ethischen Kern des Christentums - Matth. 7,12 - durchaus kein Zweifel besteht."
"Wenn es sich so verhält wie du sagst, dass der Mensch nur die Sünde vergeben kann, die ihm selbst angetan worden ist, so hat die Kirche ja gar kein Recht, von Sünden loszusprechen. Wie kommt sie aber dazu, es doch zu tun, und worauf gründet sie ihre vermeintliche Befugnis? Etwa auf das Christuswort vom Binden und Lösen? Und welche Bewandtnis hat es mit diesem Wort?"
"Die Kirche gründet ihre Befugnis vorwiegend auf dies Wort, das sie wie andere Worte erst missverstanden und dann missbraucht hat. Dies Wort hat mir viele Bedenken gemacht, die ich aus eigener Kraft nicht zu beseitigen vermochte, sodass ich meine Geisterfreunde um Belehrung bat. Unter Berufung auf Evgl. Joh. 20,23 fragte ich: "Was meinte Christus mit dem Worte vom Erlassen und Behalten der Sünde? Kann dem Menschen überhaupt eine Sünde erlassen werden, da er nach dem Gesetz vom Karma oder der ausgleichenden Gerechtigkeit seine Sünde doch selber sühnen muss? Widerspricht dies Erlassen nicht dem andern Christuswort: du wirst nicht herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlt hast?" - Darauf bekam ich folgende Antwort:

"Es gibt Kranke, die unheilbar sind. Wenn alle elementaren Stoffe im Körper total erkrankt sind: wie wäre da eine Heilung möglich? Ein solcherart Kranker muss die Krankheit auskosten, bis alle Kräfte des Körpers verbraucht sind. Solches Leiden ist die Tilgung einer Schuld, einer Verkehrtheit aus früherem Erdenleben, und der Erkennende weiss, dass dieses Leiden zugleich den Zweck geistiger Läuterung hat. In dem Leiden liegt die geistige Erweckung, und wenn es geduldig getragen wird, der Fortschritt. Es gibt aber auch Leiden, die noch nicht den ganzen Organismus ergriffen haben, sodass der Kranke noch heilbar ist und ein Heilverfahren hier wirksam eingreifen kann. - Genau so wie auf körperlichem Gebiet ist es auch auf geistigem. Christus sagte zu den Jüngern: "ich sende euch den heiligen Geist." Diesen Geist sandte er ihnen zu ihrer inneren Schau oder geistigen Erkenntnis der Übel auf Erden. Durch den heiligen Geist konnten die Jünger erkennen, wem noch zu helfen sei durch die Gnade, und wem nicht anders zu helfen sei als durch das Leid, das den total Erkrankten oder Verstockten zur Besinnung bringen müsse. Wo also die Jünger Christi erkannten, dass sie es mit Menschen zu tun hatten, die durch die Annahme des rechten Wortes, durch bewusstes Erfassen der ihnen gebotenen geistigen Hilfe den Genesungsweg beschreiten wollten, da durften sie vergeben oder erlassen. Sie mussten aber die Sünden behalten den Menschen, die in ihrer Verblendung den Heilsweg nicht anerkennen wollten; diese blieben an das Gesetz gebunden und mussten in der Wirkung die Ursache, am Leid die Sünde erkennen lernen.
Nicht jede Schuld muss gesühnt werden; vieles, vieles wird verziehen, denn wenn jede Schuld bezahlt werden müsste, käme kein Geist aus den Erdeneinverleibungen heraus. Nach der Entkörperung, bei der Gewissenserforschung erfahren die Geister, was ihnen vergeben wurde und welche Sünden sie zu sühnen haben.
Menschen, seid nicht schwächlich in der Erkenntnis der grossen Liebe des Vaters. Wer bereut, der hat schon Gottes Gnade gewonnen. Verzeiht von Herzen euren Schuldigern, also verzeiht Gott auch euch! Denn im Vaterunser heisst es: Vergib uns unsere Schuld, so, wie wir unsern Schuldigern vergeben! Habt ihr eurem Schuldner aus ganzem Herzen verziehen, so ist dessen Schuld auch vor Gott getilgt und eine Sühne ist nicht mehr nötig; wohl aber wird in dem ehemaligen Schuldner, wenn er eure Grossmut erkennt, der Wunsch lebendig werden, das Gute, das ihr ihm getan, zu vergelten. Also ist eure Verzeihung ein Fortschritt für euren und für den andern Geist. Dies ist das gegenseitige Freimachen in Liebe. Christus sagte: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet! Also auch hier wird von einer Erlassung der Schuld gesprochen, wenn ihr im selben Geiste an euren Brüdern handelt."

"Ich verstehe zwar noch nicht alle Einzelheiten, aber es scheint mir, dass wir es hier mit einer Lehre von grosser Tragweite zu tun haben, und darum wäre es nützlich, wenn du auf einige Punkte näher eingehen würdest. Um einen bekannten Fall anzuführen: wenn Christus dem Judas Ischariot seine schwarze Tat verziehen hat, woran nicht zu zweifeln ist, so geht der Verräter straffrei aus, aber wo ist da Gerechtigkeit?"
"Wer gegen einen andern sündigt, wird dadurch dessen Schuldner. Eine Schuld kann in zweierlei Weise getilgt werden; durch Bezahlen oder durch Erlassen. Wenn der Gläubiger freiwillig auf die Bezahlung verzichtet, so ist der Gerechtigkeit volle Genüge geschehen, und niemand hat das Recht, über solche Tilgung zu murren. So auch hier. Wenn es unser Gerechtigkeitsgefühl verletzt, dass Judas straffrei ausgeht, so wollen wir uns fragen, ob wir selbst fähig wären, eine solche Tat, an uns getan, zu vergeben und ob also unser vermeintliches Gerechtigkeitsgefühl in Wahrheit nicht doch ein geheimes Verlangen nach Vergeltung ist. Ferner: wenn zwei Menschen etwas miteinander abzumachen haben, so ist das ihre eigene Sache, in die auch Gott sich nicht einmischt, da der Sünder sich ja nicht gegen Gott vergangen hat. Denn indem Gott den Geist unvollkommen erschuf mit der Möglichkeit und Freiheit des Falles und der Sünde, so kann er ihn doch nicht dafür bestrafen, dass der Geist von der ihm verliehenen Freiheit Gebrauch macht und sündigt, sündigt nicht aus Bosheit, sondern aus Schwäche und Unwissenheit. Gott, die unwandelbare Liebe, ist nicht kleinlich, nicht übelnehmerisch und nicht rachsüchtig; er lässt nur die Folgen der Sünde an dem Sünder wirken, und diese bittern Folgen führen den Sünder schliesslich doch wieder zu Gott zurück. Es ist also logisch und auch rechtlich durchaus zutreffend, was jener hohe Geist sagte: dass dem Schuldner auch von Gott vergeben sei, wenn sein Gläubiger ihm vergeben hat. Sündigt aber der Mensch gegen Gott, etwa wie bei der sogenannten Gotteslästerung, so hat er das nur mit Gott abzumachen, und kein anderer Mensch hat das Recht sich einzumischen, weder der Richter mit dem Strafgesetzbuch, noch der Priester mit Kirchenstrafen. Denn wir Menschen wissen ja gar nicht, ob Gott sich überhaupt gelästert fühlt, und sollte dies wirklich der Fall sein - was ich bezweifle -, so hat Gott selbst genügend Mittel, den Sünder zu strafen, und bedarf dazu nicht der Hilfe der Menschen. In Wahrheit ist es nicht die Sache Gottes, weswegen die Menschen sich ereifern und den Richter anrufen, es sind nur die eigenen persönlichen Gefühle und Meinungen durch die vermeintliche Gotteslästerung verletzt worden."
"Noch ein anderes kommt in Betracht", fuhr Friedmar fort. "Um bei dem Beispiel zu bleiben: auch ohne besondere Sühne des Verrats hat Judas eine harte, sehr harte Arbeit zu leisten, um sich zu reinigen. Denn ein so tief gefallener Geist wie er hat seinen göttlichen Kern so verschmutzt und verhärtet, dass er nur durch grösste Anstrengung, Geduld und Ausdauer seine verlorene Reinheit wieder erlangen kann. Ich komme zurück auf das, was ich schon gesagt: wer sündigt, verschlechtert die Qualität seines Geistes und vergröbert seinen Fluidkörper, und diese üblen Folgen muss er in jedem Fall wieder gut machen, da wird ihm nichts geschenkt, und dies ist das "Bezahlen des letzten Hellers." Dies Wieder-gut-machen durch Reue und Leiden ist einem verstockten Geiste eine bittere, harte Arbeit, und oft muss das Leid lange, lange auf ihn loshämmern, bis er sich zur Umkehr entschliesst. Wer aber Gutes tut in selbstloser Absicht, verbessert die Qualität seines Geistes und verfeinert seinen Fluidkörper, sodass also Sünde und Tugend unvermeidlich ihre entsprechenden Folgen für den Geist oder Menschen haben, und diese Folgen sind gerecht in jeder Hinsicht. Nun das Vergeben. Wer vergibt, tut Gutes und liebt den Nächsten, denn er erspart ihm Leid und Schmerz in der Sühne, und da er selber liebevoll handelt, darf er gerechterweise mit dem Masse gemessen werden, womit er andere misst: auch ihm kann vergeben und erlassen werden in dem Masse, als er andern vergibt. Ich sehe Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit hier höchst weise in einander verwoben und sehe, dass die Liebe, die im Vergeben liegt, der kürzeste Weg ist, sich eigener Schuld und ihrer Sühne zu entledigen. Das Vergeben ist gewiss nicht immer leicht, mir scheint es aber, dass es in jedem Fall leichter ist als Sühne."
"Du hast recht, das Vergeben ist oft schwer, aber noch schwerer erfüllbar scheint mir das Gebot: Liebet eure Feinde! Einen Menschen, der mich zum Krüppel gemacht, der mich um Hab und Gut gebracht hat oder der mich anwidert mit seinem ganzen Wesen, den kann ich doch nicht lieben, wie ich Freund und Familie liebe. Eine solche Liebe wäre widernatürlich, und deshalb halte ich das Gebot der Feindesliebe für eine Übertreibung einer an sich vernünftigen Lehre."
"Wenn man die Feindesliebe so versteht, wie du es tust, dann ist sie allerdings eine unerfüllbare Forderung, jedenfalls für uns Menschen. Aber diese Liebe wird nicht verlangt. Es gibt eine rein sinnliche Liebe, wie bei Tieren und niedern Menschen; es gibt eine seelische Liebe, wie die Familienliebe des Durchschnittsmenschen, und es gibt eine rein geistige Liebe ohne sinnlich-seelische Erregung und Leidenschaft. Für diese verschiedenen Arten der Liebe hat unsere Sprache leider nur ein Wort - woraus leicht Missverständnisse entstehen. Die Feindesliebe - nicht die Mutterliebe - ist die höchste Liebe, weil sie rein geistig ist. Sie wurzelt in der Erkenntnis, dass Hass und Nichtvergeben immer Leid bringen und dass der Hass nur durch Liebe überwunden werden kann. Sie ist bereit zum Vergeben und zum Helfen. Sie will das Wohl auch des Feindes und sollte darum mit dem schönen Worte Wohlwollen bezeichnet werden. Dieses Wohlwollen genügt, und es kann auch vom Menschen geleistet werden, wenn er das Gute ernstlich will. Gewiss nicht von jedem Menschen, aber da es Beispiele gibt, dass Menschen dieses Wohlwollen geleistet haben, so liegt es im Bereiche der Möglichkeit und ist auch nicht widernatürlich."
Hallerstede hatte noch einen Einwand. "Aus dieser Theorie des Verzeihens können sich sonderbare Folgerungen ergeben. Wenn zwei Menschen - nennen wir sie A und B - sich gegenseitig bitter Unrecht getan haben und A verzeiht dem B, dieser aber nicht dem A, so muss A sühnen, während der nicht vergebende B nicht zu sühnen braucht, da ihm die Schuld ja erlassen ist."
"Gerade umgekehrt verhält es sich in diesem Fall. Gottes Gesetze wirken so, dass dem Sünder nur dann vergeben wird, wenn er selber auch vergeben hat. Da B dies nicht getan, wird ihm die Sünde und die Sühne behalten. A dagegen hat guten Willen gezeigt, hat vergeben und sich selbst dadurch der Vergebung würdig erwiesen, darum wird ihm die Sühne seiner Schuld gegen B erlassen. Gott hat es so eingerichtet, dass derjenige sühnen muss, der die Sühne zu seiner Besserung braucht, das ist in diesem Fall der Unversöhnliche, und indem Gott das Mass seiner Vergebung abhängig macht von unserer Bereitwilligkeit zum Vergeben, legt er das Mass unserer Sühne in unsere eigene Hand; der Unversöhnliche aber, der leiden muss für das Unrecht, das er andern getan, darf die Ursache dieses Leidens nur bei sich selber suchen. Die Bitte "vergib uns so, wie wir vergeben" ist ein Trost und Ansporn für die Versöhnlichen, eine Warnung an die Unversöhnlichen. Der eben genannte Fall ist etwas verwickelt durch das gegenseitige Verschulden, aber wenn man ihn richtig zergliedert, löst sich der scheinbare Widerspruch harmonisch auf."
"Wie ist das alles so ganz anders als ich es bisher wusste", sagte Erna, "nun erst verstehe ich die grosse Bedeutung von Christi Gebot der Feindesliebe. Wenn das die Menschen wüssten, könnten sie sich viel Leid ersparen. Dies Gebot Christi ist also keine schöne Phrase, keine schwärmerische Übertreibung, sondern tiefe Wahrheit liegt darin und seine Befolgung bringt Glück. Die Lehre vom Verzeihen steht hoch über der indischen Karmalehre, die mit ihrer Starrheit und Kälte mich so bedrückt, dass ich mich nicht mit ihr befreunden kann. Sie vertritt ja auch das Prinzip der Gerechtigkeit, aber in so harter Form, dass mir davor schaudert. Ich fühle instinktiv, dass da etwas nicht stimmt, und ich bin froh, dass Ihr mir Besseres gegeben."
"Die Karmalehre mit dem starren Prinzip von Ursache und Wirkung ist gewiss schwer erträglich, wenn sie einseitig als strafende Justiz verstanden wird, wie dies fast immer geschieht, aber auch in dieser Form ist sie besser als die greuliche Lehre von den ewigen Höllenstrafen, und auch besser als die Ansicht der Materialisten, dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit überhaupt nicht gebe. Die Karmalehre hat durchaus recht, wenn sie sagt, dass Denken und Tun den Charakter forme, und sie hat nicht minder recht, wenn sie die ausgleichende Gerechtigkeit verkündet, aber Karma ist elastischer als man es gewöhnlich versteht. Karma bedeutet eigentlich Tat, Handlung, nicht nur strafende Justiz, und es liegt kein Widerspruch darin, in die Kette von Ursache und Wirkung eine Tat der Liebe, eben das Vergeben, einzufügen; dadurch wird das Gesetz nicht aufgehoben, aber seine starre Härte wird gemildert, und nun ernte ich nach der milderen Seite dieses Gesetzes die guten Folgen meiner Tat. Denn wie schon gesagt, das Gute hat ebenso seine gesetzlichen Folgen wie das Böse. (Fussnote 11)"
"Ein Schleier nach dem andern fällt", sagte Erna, "aber was bedeutet es, dass die Sünde, die Lästerung wider den heiligen Geist ewig nicht vergeben werden könne."
"Der Sinn dieses Wortes ist nicht eindeutig; wir wollen versuchen, ihn herauszufinden. Eine Lästerung wider den heiligen Geist als dritte Person Gottes ist nicht gemeint, denn wir wissen, wie es sich mit dieser dritten Person Gottes verhält; richtet sich die Lästerung aber gegen einen heiligen Geist, dieser als erschaffenes Wesen verstanden, so hat dieser Geist das Recht, die Sünde zu vergeben, und er tut es auch. Dieser Fall kommt also nicht in Betracht. Wir müssen also dem Wort einen andern Sinn unterlegen, und als solchen glaube ich das Reden und Tun gegen eigene bessere Erkenntnis annehmen zu dürfen. Diese Sünde tut der Mensch gegen sich selbst, wie er überhaupt alles Schlechte und Böse, das er andern antut, zugleich auch sich selbst antut, indem er die Qualität seines Geistes verschlechtert, und diese Sünde kann ihm niemand vergeben oder erlassen, da nur die Sühne, das Wieder-gut-machen die Qualität des Geistes wieder verbessern kann. Vielleicht gibt es noch andere Auslegungen dieses Wortes, mir scheint die gegebene die richtige zu sein."
"Also so steht es mit der Vergebung der Sünden. Kein Geistlicher kann Sünde erlassen oder von ihr lossprechen, und ihre vermeintliche Befugnis dazu beruht auf Irrtum, ich will nicht sagen: ist Anmassung."
"So ist es. Christus gab diese Befugnis nur seinen Jüngern, und nur er konnte sie geben, da nur er, als Geist höherer Ordnung, die Erkenntnis und die Kraft hatte, sie zu geben. Wie wir jetzt wissen, beruht diese Befugnis auf der Fähigkeit, den moralischen Zustand eines Menschen zu erkennen. Christus hatte die Jünger in das Geheimnis des Reiches Gottes eingeführt, d.h. in die Gesetze der moralischen Weltordnung; durch seine Kraft, will heissen, durch die fluidische Verbindung mit ihm waren sie reine Medien seines Geistes und erkannten hellsehend, wem zu erlassen und wem zu behalten sei. Sind unsere Geistlichen auch so rein, so wissend, so hellsehend? Glauben sie diese Fähigkeit durch die Weihe erhalten zu haben? Wenn sie behaupten, die befugten Nachfolger der Apostel zu sein, so mögen sie ihre Befugnis durch Taten beweisen und ähnliche Wunder tun, wie die Jünger sie taten durch ihre Kraftgaben. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, heisst es. Wo sind diese Früchte, diese Wunder? Ich sehe keine."
"Wie verhält es sich mit der Erbsünde?", fragte Erna. "Mir will es nicht einleuchten, dass auch ich schuldig sein soll, weil Adam und Eva gesündigt haben. Das geht mich doch nichts an."
"Die Theologen haben sonderbare Dinge erfunden, und die Erbsünde ist eins davon. Die Erbsünde im Sinne der Kirche ist ein Irrtum, der auf irrtümlichen und daher missverstandenen Bibelstellen beruht. Die wahre Erbsünde, wenn wir diesen Ausdruck beibehalten wollen, besteht in der Schuld, die wir aus unserer Vergangenheit mitbringen in dies Erdenleben; diese Schuld können wir andern nicht aufladen und müssen wir selbst sühnen. Wir können und brauchen also auch nicht für andere und nicht ihretwegen zu sühnen."
"Wenn jeder Mensch, genauer gesagt, jeder Geist seine Sünde selber sühnen muss, was ich durchaus gerecht finde: worin besteht dann eigentlich das Opfer Christi und die Erlösung, die er uns gebracht haben soll?"
"Ihr berührt da den dunkelsten, wichtigsten und empfindlichsten Punkt der Kirchenlehre. Ich lasse wieder den hohen Geist reden, der uns den Schöpfungsbericht gab, da ich es mit eigenen Worten so schön und klar nicht sagen könnte:

"Als nach dem Fall der Erstlinge ein Riss in der Schöpfung entstanden war, überbrückte Gottes Weisheit diesen Riss, und die zwei Brückenpfeiler heissen: Erschaffung der Paradiesgeister und Erweiterung des Gesetzes - den Bedürfnissen der Geister angepasst - durch das neue Gesetz der Sühne durch eigene Arbeit. In dieses Gesetz führt der eigene Wille den Geist ein, und der eigene Wille führt ihn hindurch. Der Bogen aber, der diese zwei Pfeiler verbindet, ist die Solidarität der Geister: "einer für alle und alle für einen!" So waren die Gegensätze ausgeglichen, und die Schöpfung stand wieder harmonisch vor Gott. Das ist die Weisheit und Gerechtigkeit Gottes, er ist unser Erlöser. Christus hätte den Menschen nicht Versöhnung und Erlösung bringen können, wenn nicht er, der Vater, Erlösung und Versöhnung in seiner Weisheit geplant, in seiner Liebe und Gerechtigkeit ausgeführt hätte.
Christus verstand diese Weisheit und Gerechtigkeit und war der Träger dieser beiden in einer Welt, die so tief stand, dass sie eines Trägers oder Dolmetschers bedurfte. Er anerkannte das Gesetz der barmherzigen Weisheit Gottes, die Solidarität der Geister, und so wie er anerkannten es alle treuen Erstlinge. Sie waren das laute Wort, d.h. die Kundgebung und Ausführung des Gottesgedankens: einer für alle, alle für einen! Das Wort der Schrift: "es steht geschrieben, dass ich komme, um deinen Willen zu tun. Ja, ich komme! Ich bin zufrieden, deinen Willen zu tun, o Gott; dein Gesetz ist in meinem Geiste" (Fussnote 12) - dies Wort ist der Ausdruck des Empfindens aller treuen Erstlinge. Sie nehmen an die Solidarität und ziehen die ganze gefallene Geisterschaffung sich nach in den Lichtkreis des Vaters.
Und Gott sprach zu seinen treugebliebenen Söhnen: "Gehet hinaus, belehret, leitet, liebet eure Brüder. Zeigt ihnen den Weg, der zum Vater führt; zeigt ihnen das Leben, wie es beim Vater ist. Jede materielle Welt hat ihre Gesetze, wie ihre Stufe es bedingt, und wenn ihr hinausgeht, um das Wort zu sein, das von mir zeugt, so müsst ihr euch jenen Gesetzen unterwerfen, um diesen Kindern zeigen zu können unsere Gesetze. Denn die Gesetze der Materie sind nur Widerhall und Abglanz der geistigen Gesetze einer rein geistigen Schaffung. Liebe Söhne, so liebet sie, meine armen Kinder, wie ich euch geliebt habe in Ewigkeit." So sprach der Vater, und es erscholl im Weltall das Wort, das von ihm zeugt. Und um den Erdenmenschen "Wort" zu sein, nahm Christus das Erdenkleid, unterwarf sich dem Gesetz der Erde und empfing dafür den Tod. Das ist die Arbeit des Sohnes, und das ist sein Opfer, und beide - Arbeit und Opfer - begannen beim Fall der Erstlinge und dauern fort, bis die ganze Schöpfung sündlos geworden und der Misston der Sünde verklungen ist.
Verstehet mich recht. Wenn ich sage, das Opfer des Sohnes daure fort, so meine ich nicht nach euren Begriffen, dass er leide, denn er ist selig, wie ihr für dies Wort keinen Begriff habt. Aber seine Sehnsucht ist noch nicht befriedigt und kann nicht ganz befriedigt sein, bis das Ziel von allen erreicht ist. Der Schatten eurer Sünde fällt auch in seinen Lichtkreis und muss hineinfallen, denn nur das Licht kann die Finsternis aufzehren. So verstehet das Opfer Christi als ein weit zurückgreifendes und weit fortwirkendes Opfer, von dem sein Erdenleben nur ein Bruchteil ist, ein Bruchteil nur, aber so unendlich schwer in jedem seiner Augenblicke, dass nur eine Liebe, wie ihr sie noch nicht verstehen könnt, es wagen könnte, eine solche Last zu tragen.
"Dass aber Gott ein solches Wesen sei, dass er durch das Blut Christi, durch seine Qual, durch seine physische Qual sich versöhnen liesse mit der gefallenen Menschheit, das ist ein Gottesbegriff, wie er nur aus dem Denken tief gefallener Geister entstehen konnte. Ihr Menschen, die ihr aufwachst in diesem Begriff, ihr seid so gewohnt, das Opfer in diesem Lichte zu sehen, dass ihr das Ungeheuerliche dieses Begriffes gar nicht bemerkt. Ihr denkt euch einen Gott, dessen Rachsucht nach Blut schreit und der es nimmt auch vom Unschuldigen, wenn dieser aus Mitleid die Schuld bezahlen will. Ihr nennt dies Annehmen Gerechtigkeit; es ist aber keine Gerechtigkeit, weder darin, dass die Menschheit verloren sei durch die Schuld Adams, noch darin, dass sie gerettet werde durch das Blutopfer Christi. Ein Gott, der solches zugäbe oder gar bestimmen könnte, würde, milde gesagt, rachsüchtig sein und willkürlich handeln können. Wie aber sind bei Gott Fehler denkbar, die sogar bei den tiefstehenden Erdengeistern als Fehler gelten? Nein, er ist die Liebe und die Gerechtigkeit und die Weisheit selbst, und Christus ist Licht vom Urlichte, ein Abglanz dieses Lichtes." (Fussnote 13)

"Ich füge hinzu", fuhr Friedmar fort, "dass die Menschen nur den bittern Tod Christi als das eigentliche Opfer ansehen, weil sie selbst den Tod fürchten und den Kreuzestod besonders schrecklich finden; sie wissen aber nicht, dass für diesen Lichtgeist das Herabsteigen in die Materie auf unserem rohen Planeten vergleichsweise das war, was für uns etwa der Aufenthalt in einer schmutzigen, stinkenden Höhle unter Kannibalen, Räubern und Schurken sein würde. Sein Tod, in all seiner Bitterkeit, war für ihn auch die Erlösung aus dieser Räuberhöhle."
"Ich sehe immer mehr", sagte Hallerstede, "dass das Kirchenchristentum ein einziges grosses Missverständnis ist, und obgleich ich deine Erklärung in ihrer ganzen Tragweite noch nicht verstehe, da ich mich erst in diese Gedankenwelt einleben muss, so sehe ich doch, dass die Lehre Christi etwas ganz anderes ist als was die Kirchen daraus gemacht haben. Ich sehe Sinn und Zweck, wo ich früher nur Unsinn sah, Unsinn, der mir als ewige Wahrheit, als aller Weisheit letzter Schluss dargeboten wurde. Mehr will ich jetzt darüber nicht sagen, da ich nicht voreilig urteilen und die berührten Probleme noch durchdenken will, aber es ist traurig, zu sehen, dass die Berufenen, aber anscheinend nicht Auserwählten den hungernden Menschen Steine statt Brot geben, wo doch Licht und Wahrheit vorhanden ist. Aber zur Sache. In der Theorie von der Solidarität der Geister glaube ich einen Fehler zu finden, insofern Christus, als er das schwere Opfer brachte, doch unschuldig gelitten hat, was ich mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes nicht vereinbar finde."
"Ungerecht wäre das Leiden gewesen, wenn es nicht freiwillig war. Aber es war freiwillig, denn er konnte es verweigern. Das Verweigern kam jedoch nicht in Betracht für ihn, da seine Liebe stark genug war, es zu tragen. Wir sehen auf der Erde, dass wackere Menschen ihr Leben wagen, um andere aus Not und Gefahr zu retten. Man nennt solche Taten gross, und niemand fällt es ein, ein Leiden, das der Retter sich dabei zuziehen könnte, ungerecht zu nennen. Solche Hilfe ist ein Beispiel und Zeugnis für die Solidarität der Geister, beruhend auf Liebe, welche die Geister verbindet."
"Eine grossartige Ordnung", sagte Hallerstede. "Ob wahr oder nicht, nirgends sehe ich eine schwache Stelle, wo man angreifen könnte, ausgenommen die Dunkelheit, welche mir die Ursache meines Falles verbirgt."
"Auch diese Dunkelheit wird eines Tages weichen. Jener Geist, der den Schöpfungsbericht gab, sagte mir auf meine Frage, warum die jungen Geister bei ursprünglich gleicher Beschaffenheit teils fallen, teils der Versuchung widerstehen, dass diese Frage nicht beantwortet werden könne, weil die Antwort unser Verständnis weit übersteige; sie sei derart, dass sie sogar in höhern Sphären nicht verstanden werde. Es sei unnütz, sich mit dieser Frage zu befassen; Gott gebe seinen Kindern das Licht nur insoweit sie fähig seien, es aufzunehmen. Das heisst also, dass diese Frage zwar beantwortet werden kann, aber dass wir auf unserer jetzigen Stufe die Antwort nicht verstehen. Ich gebe euch dafür ein Gleichnis aus dem Gebiet der Ästhetik. Ihr wisst, dass der "Goldene Schnitt" rational und irrational zugleich ist: rational, indem er sich geometrisch - für die Anschauung - genau darstellen lässt; irrational, indem das Grössenverhältnis der beiden ungleichen Teile sich für den rechnenden Verstand nicht genau durch eine Zahl ausdrücken lässt, es ergibt sich ein endloser Bruch. So ist auch die Freiheit des neugeschaffenen Geistes irrational - unerklärlich - für den grübelnden Menschenverstand, aber rational für den vollkommenen Geist; dieser sieht, warum er oder ein anderer Geist fiel, kann es uns aber nicht begreiflich machen. Hiermit wollen wir die Erörterung über diesen ebenso interessanten wie dunklen Gegenstand schliessen."
"Aus euren Worten scheint hervorzugehen", sagte Erna, "dass das Sakrament nur eine leere Form ist, eine Form, die für mich keinen Zweck mehr hat. Anderseits ist aber wohl nicht zu leugnen, dass viele Menschen Trost und Erbauung in der Form finden, dass sie also doch mehr ist als Form. Wie ist das zu erklären? Und soll ich mich weiter an der Form beteiligen?"
"Man kann hier keine allgemeingültige Vorschrift aufstellen. Gott, der grosse, erhabene Geist, braucht die Form nicht, er steht über aller Form; er ist nicht kleinlich und macht die dem Geiste bestimmte Seligkeit nicht abhängig von der Erfüllung kleiner Formen; nur der Mensch bedarf ihrer oder glaubt ihrer zu bedürfen. Eine Form kann blosse Form sein, ein Gefäss ohne Inhalt; man kann ihr aber auch Inhalt geben oder sie als Hilfsmittel, als Stütze benutzen. Wer die moralische Weltordnung kennt und den Weg, der zum Vater führt, wer die Form als solche erkennt, der bedarf ihrer nicht mehr, wenn er sie nicht als Mittel benutzen will, um seine Andacht daran zu entzünden, und er tut keine Sünde, wenn er sie nicht beachtet. Wer dagegen dieser Erkenntnis ermangelt und glaubt, dass die Form ihm nütze, ihm Andacht, Trost, Erbauung gebe, der möge sie tun, der würde töricht handeln, wenn er sie unterliesse. Massgebend ist der Zweck. Wer die Verbindung mit Christus und durch ihn, den Mittler, mit dem Vater rein geistig nicht erlangen kann, möge sich der Form bedienen, wenn er meint, durch sie diese Verbindung zu erlangen, oder wenn sie ein Bedürfnis seines Gemüts befriedigt. Man kann da nichts gebieten und nicht verbieten, jeder muss nach eigenem Ermessen handeln. Man sollte allerdings auch wissen, dass die Form ohne den Aufschwung des Geistes nichts vermag; ferner, dass die Form des Gottesdienstes, die dem einen gefällt, dem andern vielleicht nicht gefällt, und dass niemand das Recht hat, seinen Formendienst, den er für Gottesdienst hält, für allein wahr oder seligmachend zu erklären oder gar andere damit zu belästigen. Die Achtung, die er für seine Gefühle verlangt, soll er andern Menschen nicht versagen. Er mag seine Form verehren, darf aber nicht verlangen, dass auch andere sie verehren sollen. Wenn also das Gemüt euch treibt, so feiert das Sakrament, feiert es aber in dem Sinne, wie die Jünger es gefeiert haben; ich vermute, dass solche Feier eurer Gemütsart am meisten zusagt."
"Wie haben sie gefeiert? Können wir das wissen?"
"Darüber will ich einen Jünger berichten lassen, der durch ein Medium folgendes sagte:

"Und was sprach der Herr, als er von uns Abschied nahm? Er sprach: "Meine Liebe hinterlasse ich euch; liebet euch einander, wie ich euch geliebt habe! Meine Lehre hinterlasse ich euch; belehrt euch einander, gleich wie ich euch belehrt habe! Meinen Trost gebe ich euch; tröstet euch einander, gleich wie ich euch getröstet habe! Meine Kraft teilte ich euch mit; stärket euch einander, gleich wie ich euch gestärkt habe! Nächstenliebe gebot ich euch; helfet euch einander, gleich wie ich euch geholfen habe! In den Tod gehe ich für euch; opfert auch ihr euch für einander, gleichwie ich mich opfere für euch! Dieses tuet zu meinem Angedenken!" Und er sagte uns das bei Gelegenheit des letzten Abendmahls, das er mit uns einnahm, und wir nahmen es auf und taten es. Und wir kamen zusammen hier und da in den Häusern der Jünger und assen und tranken miteinander und bekannten einer dem andern unsere Sorgen, Skrupeln und Fehler, unsere Bedrängnisse und unser Leid, und teilten uns auch mit unsere Freuden, unsere Errungenschaften, unsere Erkenntnisse der geistigen Dinge, unsere geistigen Gaben (Mediumschaften), und erinnerten uns so praktisch an die Worte unseres Meisters, die er uns als Andenken hinterlassen und geboten hatte zu tun: wir pflegten dieses Andenken ganz im Sinne unseres Meisters, wie er uns tatsächlich gezeigt. Um uns einander unsere Schicksale zu erzählen, unsere Freuden, Leiden und Bedürfnisse mitzuteilen, mussten wir zusammen kommen und kamen zusammen bei einem Mahle - nicht nur einmal im Jahre zu Ostern, sondern oft, weil es sich bei solchen Gelegenheiten besser, vertraulicher sprechen lässt, und nannten diese Mahle "Liebesmahle". Aber nicht das Mahl war das Andenken, nicht das Brotbrechen und Weintrinken war der Zweck unseres Zusammenkommens; dies alles war nur das geeignete Mittel für die Zusammenkünfte und für den Austausch unserer Gedanken, Erinnerungen und Erfahrungen und Pflege unserer geistigen Gaben; und unserem Gedankenaustausch folgte auf dem Fusse der Vorsatz, und diesem folgte auf dem Fusse die Tat, wie der Wunsch unseres Meisters es beim letzten Abendmahle ausgedrückt; Liebesmahle waren es, Liebesgefühle wurden dabei kundgetan, Liebesratschläge ausgetauscht und Liebestaten folgten darauf.
Was ist aber im Laufe der Zeit aus dem Vermächtnis des Herrn geworden? Die Christen gehen zu des Herrn Tische, brechen Brot und trinken Wein - aber Gedanken tauschen sie keine aus, Vorsätze fassen sie keine und Taten der Liebe folgen keine! Sie kommen zusammen und kennen sich nicht, gehen auseinander und wissen nicht, was sie bei ihrem Zusammenkommen eigentlich gewollt. Christum wollten sie empfangen? Seinen Leib wollten sie essen? Sein Blut wollten sie trinken? Was haben sie mit diesem Essen und Trinken getan? Haben sie dadurch Christum in sich aufgenommen? Sind sie dadurch gutwilliger, besser, verständiger geworden? Haben sie damit jemandem geholfen? Nichts von alle dem! Sie haben eine Form getan, deren Geist sie nicht verstehen, - in dieser Form auch nicht verstehen können. Sie haben sich dabei höchstens an das Abendmahl Christi und ein wenig seiner Leiden erinnert, aber an das Andenken, das Christus bei diesem Abendmahl seinen Jüngern gegeben, dass sie es tun sollen - an das haben sie sich nicht erinnert!
Christus sagte: "Ich werde bei euch sein, so oft ihr zusammenkommt in Liebe, eure Gedanken austauscht in Liebe, eure Fehler einander bekennt in Liebe, euch gegenseitig aufhelft und aufrichtet in Liebe;" und er hat gehalten, was er versprochen. Er kam zu uns, als wir uns zusammenfanden bei unsern Liebesmahlen, und wir sahen ihn öfter und fühlten ihn immer und vernahmen oft seine Stimme direkt. (Fussnote 14). Aber der Zweck unseres Zusammenkommens war nicht, seinen Leib zu essen und sein Blut zu trinken - das hätte ja keinen Sinn gehabt. Wir kamen zusammen, um uns zu freuen, ihn zu fühlen und des Trösters Worte zu vernehmen, der durch diesen oder jenen Jünger sprach. Und wir fühlten ihn und freuten uns, und er freute sich mit uns, und der Tröster tröstete uns, und wir folgten seinen Ratschlägen. So, liebe Menschen, war es damals, als das Andenken Christi noch nicht gefälscht war."

"Wer ist der Jünger, der dies mitgeteilt hat?", fragte Erna.
"Ich möchte keinen Namen nennen, um euch die Unbefangenheit beim Urteilen nicht zu nehmen. Prüfet erst, und wenn ihr euch eine Meinung gebildet habt, will ich euch sagen, wer er ist."
"Ich finde es einfach, klar und verständlich, dabei so warm und zum Herzen gehend, dass ich wohl annehmen möchte, der Jünger habe die Wahrheit gesprochen und habe das selbst mit erlebt. Und ein Gedächtnismahl in diesem Sinne können ja auch wir feiern, und überall, auch wenn wir nur wenige sind und kein Priester dabei ist, um Brot und Wein zu segnen und zu verteilen. Es will mir sogar scheinen, als seien unsere Unterhaltungen mit euch auch eine solche Gedenkfeier, denn unsere Gedanken bewegen sich ja grossenteils um Christus."
"Ich glaube, dass Mutter recht hat", sagte Mechthildis.
"Mir gefällt diese Erklärung am besten", sagte Hallerstede. "Sie ergibt sich ungezwungen aus den Verhältnissen, sie sagt ohne Umschweife und gewaltsame Wortauslegung, was sich damals begeben hat. Nun, wer ist der Jünger?"
"Er möge sich selbst vorstellen:

"So, liebe Menschen, war es damals, als das Andenken Christi noch nicht gefälscht war. Heute sehe ich keine Liebesmahle mehr und sehe auch keine Jünger mehr, denn die sich "Christen" nennen, kennen Christum nicht, fühlen Christum nicht und leugnen den Tröster; es gibt nur Namen-Christen, christliche Jünger aber gibt es nicht! ...
Oh, ihr ungerechten Haushalter, ihr werdet schwer verantworten müssen, was ihr aus dem Andenken Christi gemacht. Von euch werden Christen gefordert werden, und ihr werdet keine liefern können, denn drüben im Reiche der Gerechtigkeit gibt man nichts auf den Namen, dort wird nicht geurteilt nach äusserem Scheine, dort wird geurteilt nach innerem Gehalt. Ihr werdet Rechenschaft geben müssen, was ihr mit dem Gute des Herrn getan - und ich fürchte, ich fürchte, ihr werdet es nicht können. Ihr werdet lange, lange Ferien halten müssen, bis ihr wieder in diese Schule kommen dürft, eure Aufgabe von einst zu wiederholen.
Wahrlich, wahrlich, ich kenne meine Gemeinde nicht mehr. Sie hat keine Ader mehr von mir, und doch spricht sie in meinem Namen aus, und doch vermisst sie sich, mich ihren "ersten Papst" zu nennen. Welche Verleumdung! Ich bin nie ein Papst gewesen, habe nie in einem Palast gewohnt, habe nie Marställe, Karossen und Maitressen gehalten, habe nie eine bewaffnete Leibgarde gehabt, habe nie Krieg geführt noch Gewalt ausgeübt auf die Gewissen meiner Brüder; sondern habe sie geliebt, wie ich meinen Herrn geliebt, und habe sie geduldet, wie mein Herr sie geduldet, und habe mich für sie geopfert, wie sich mein Herr geopfert. Ich habe keinen Hirtenstab getragen von Gold und Edelsteinen, sondern ging mit einem Stab von Holz; trug auch keine reichen Kleider, sondern blieb einfach, wie mein Herr; habe auch niemanden verflucht, der mir widersprochen, sondern habe gebetet Tag und Nacht, Gott möge ihn erleuchten! (Fussnote 15)

"Der Jünger ist leicht zu erkennen. Sollte er es wirklich sein? An gewissen Stellen wird man seine Worte nicht gern hören und ihre Echtheit leugnen."
"Das ist nicht anders zu erwarten. Aber glaubt ihr, Allvater lasse sich vorschreiben, nur in Rom zu sprechen und nur das zu sagen, was in Rom für gut befunden wird? Die Jünger Christi, seine Boten und Gehilfen, arbeiten unter der Leitung des Meisters, den Menschen Licht zu bringen, und sie benutzen dazu jedes für diesen Zweck taugliche Werkzeug. Christus sagte damals den Jüngern, er habe ihnen noch viel zu sagen, aber sie verstünden es noch nicht. Jetzt lässt er durch seine Worte einiges von dem verkünden, was damals nicht gesagt werden konnte, aber Glauben findet er jetzt so wenig wie zu jener Zeit. Er kommt wieder in sein Eigentum und wieder nehmen die Seinigen - d.h. die sich dafür halten - ihn nicht auf. Sie fragen nach der Echtheit seiner Boten, und da diese keinen von kirchlichen und weltlichen Behörden gestempelten Pass vorweisen können, so gelten sie als Lügner und Betrüger. Den strengen Identitätsbeweis kann ich euch also nicht erbringen, doch sprechen gute Gründe dafür, dass jener Geist wirklich der Geist des Jüngers ist, als welchen er sich ausgibt. Über diese und andere hierher gehörige Fragen werden wir uns später noch mehr unterhalten können."


Fussnote 11: A. Besant in ihrem Buch "Esoterisches Christentum", worin sie das Christentum im Lichte der Theosophie zeigt, widmet ein ganzes Kapitel der Sündenvergebung. Was sie in diesem Kapitel sagt, ist gut und wahr, abgesehen von einigen belanglosen Nebensachen, aber sie bleibt stecken im engen Karmabegriff, und von der fünften Bitte des Vaterunsers "vergib uns unsere Schuld so, wie wir unsern Schuldnern vergeben" - sagt sie kein Wort. Bloss Vergesslichkeit dürfte bei dieser kundigen Schriftstellerin kaum vorliegen. Wahrscheinlich weiss sie die fünfte Bitte nicht in Einklang zu bringen mit dem Karmagesetz und ist sie der Meinung, dass alle Schuld gesühnt werden müsse.

Fussnote 12: Psalm 40, 8, 9: Siehe, ich komme; im Buch ist von mir geschrieben. Deinen Willen, mein Gott, tu ich gern, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen.

Fussnote 13: Bergbach: Geisterkundgebungen 127.

Fussnote 14: Das Phänomen der direkten Stimme. Man siehe hierüber: H. D. Bradley: Den Sternen entgegen. - Der Autor dieses Buches, ein angesehener englischer Journalist, Zweifler, wie die meisten Gelehrten und Zeitungsmenschen, wurde durch verblüffende Tatsachen von der Wahrheit des Spiritismus überzeugt. In Gegenwart des für Ton-Phänomene begabten Mediums Valiantine, eines einfachen Mannes, hörte er die Stimme seiner verstorbenen Schwester, die sich mit ihm lange und ausführlich unterhielt über Dinge, die nur sie beide wissen konnten. Aber auch andere Töne und Stimmen wurden gehört, so eigenartige, wie kein Beobachter sie hervorbrächte. Bradley, ein guter Beobachter, beseitigt gründlich alle Einwände, die man gegen die Tatsachen vorbringen könnte.

Fussnote 15: Ref. Blätter II 336.



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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"