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Aus dem Buch 'Der Prophet' von Khalil Gibran, Walter Verlag, Zürich, Düsseldorf, 33. Auflage 1996 (Copyright 1973 Walter Verlag), ISBN 3-530-26719-8

Khalil Gibran - Der Prophet

Von der Religion - Vom Guten und Bösen - Vom Tod

Ein Weiser spricht über die Liebe, das Leben, den Tod, über alltägliche und philosophische Fragen und wird gegen Ende seiner Ausführungen zu wichtigen Themen befragt.

Von der Religion

Und ein alter Priester sagte: Sprich uns von der Religion. Und er antwortete: Habe ich heute von etwas anderem gesprochen?
Ist nicht jede Tat und jede Betrachtung Religion? Und ist sie nicht gleichzeitig weder Tat noch Nachdenken, sondern ein Wunder und eine Überraschung, die ewig der Seele entspringen, selbst während die Hände den Stein behauen oder den Webstuhl bedienen?
Wer kann seinen Glauben von seinen Taten trennen oder seinen Glauben von seinen Tätigkeiten?
Wer kann eine Stunde vor sich ausbreiten und sagen: "Dies für Gott und dies für mich; dies für meine Seele und dies für meinen Körper?" All eure Stunden sind Flügel, die von Ich zu Ich durch den Raum gleiten. Wer seine Sittlichkeit bloss als sein bestes Gewand trägt, wäre besser nackt. ... Und wer seinen Lebenswandel durch die Sittenlehre begrenzt, sperrt seinen Singvogel in einen Käfig. Durch Gitter und Draht dringt nicht das freie Lied. Und wem die Andacht ein Fenster ist, das man öffnet und schliesst, der hat noch nicht das Haus seiner Seele besucht, dessen Fenster von Morgenröte zu Morgenröte reichen.
Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion. Wann immer ihr ihn betretet, nehmt alles mit, was ihr habt. Nehmt den Pflug und den Amboss und den Hammer und die Laute, die Dinge, die ihr aus Notwendigkeit oder zur Freude geschaffen habt. Denn in euren Tagträumen könnt ihr euch nicht über eure Leistungen erheben und auch nicht tiefer fallen als eure Misserfolge.
Und nehmet mit euch alle Menschen. Denn in der Anbetung könnt ihr nicht höher fliegen als ihre Hoffnungen und euch nicht tiefer erniedrigen als ihre Hoffnungslosigkeit. Und wenn ihr den Gott erkennen wollt, bildet euch deshalb nicht ein, die Rätsel lösen zu können.
Schaut lieber um euch, und ihr werdet sehen, wie Er mit euren Kindern spielt. Und schaut in den Raum; ihr werdet sehen, wie Er in die Wolke geht und Seine Arme im Blitz ausstreckt und im Regen herabsteigt. Ihr werdet sehen, wie Er in den Blumen lächelt, aufsteigt und aus den Bäumen winkt.

Vom Guten und Bösen

Und einer der Ältesten der Stadt sagte: Sprich uns vom Guten und Bösen. Und er antwortete: Vom Guten in euch kann ich sprechen, aber nicht vom Bösen.
Denn was ist das Böse anderes als das Gute, von seinem eigenen Hunger und Durst gequält? Wahrhaftig, wenn das Gute hungrig ist, sucht es Nahrung sogar in dunklen Höhlen; und wenn es durstig ist, trinkt es sogar aus toten Gewässern.
Ihr seid gut, wenn ihr eins mit euch seid. Doch wenn ihr nicht eins mit euch seid, seid ihr dennoch nicht böse. Denn ein uneiniges Haus ist keine Räuberhöhle; es ist nur ein entzweites Haus. Und ein Schiff ohne Ruder kann zwischen gefährlichen Inseln treiben und doch nicht auf den Grund sinken.
Ihr seid gut, wenn ihr danach strebt, von euch selber zu geben. Doch ihr seid nicht böse, wenn ihr danach trachtet, etwas für euch selber zu gewinnen. Denn wenn ihr nach Gewinn trachtet, seid ihr nichts als eine Wurzel, die sich an die Erde klammert und an ihrer Brust saugt. Sicher kann die Frucht nicht zur Wurzel sagen: "Sei wie ich, reif und voll, und gib immer von deiner Fülle." Denn für die Frucht ist das Geben eine Notwendigkeit, so wie Empfangen eine Notwendigkeit für die Wurzel ist.
Ihr seid gut, wenn ihr hellwach seid in eurer Rede. Doch ihr seid nicht böse, wenn ihr schlaft, während eure Zunge ziellos stammelt. Und selbst holpriges Reden kann eine schwache Zunge kräftigen.
Ihr seid gut, wenn ihr fest und mit kühnen Schritten auf euer Ziel zugeht. Doch ihr seid nicht böse, wenn ihr hinkend darauf zugeht. Selbst die Hinkenden gehen nicht rückwärts. Aber ihr die ihr stark und schnell seid, seht zu, dass ihr nicht vor den Lahmen hinkt und es für Freundlichkeit haltet.
Ihr seid auf zahllose Weisen gut, und ihr seid nicht böse, wenn ihr nicht gut seid; ihr seid nur säumig und faul. Schade, dass die Hirsche den Schildkröten nicht Schnelligkeit beibringen können.
In eurer Sehnsucht nach Gott und eurem höchsten Ich liegt eure Güte; und diese Sehnsucht ist in allen von euch. Aber in einigen von euch ist diese Sehnsucht ein Wildwasser, das mit Macht zum Meer rast und die Geheimnisse der Hügel und Lieder des Waldes mit sich trägt. Und in anderen ist sie ein flacher Bach, der sich in Windungen und Biegungen verliert und sich aufhält, ehe er die Küste erreicht.
Aber wer viel ersehnt, sage nicht zu dem, der wenig ersehnt: "Warum bist du so langsam und zaghaft?" Denn der wahrhaft Gute fragt nicht den Nackten: "Wo ist dein Gewand?" und auch nicht den Obdachlosen: "Was ist mit deinem Haus geschehen?"

Vom Tod

Dann sprach ein anderer: Wir möchten nun nach dem Tod fragen. Und er sagte: Ihr möchtet das Geheimnis des Todes kennenlernen.
Aber wie werdet ihr es finden, wenn ihr es nicht im Herzen des Lebens sucht? Die Eule, deren Nachtaugen am Tag blind sind, kann das Mysterium des Lichts nicht entschleiern. Wenn ihr wirklich den Geist des Todes schauen wollt, öffnet eure Herzen weit dem Körper des Lebens. Denn Leben und Tod sind eins, so wie der Fluss und das Meer eins sind.
In der Tiefe eurer Hoffnungen und Wünsche liegt euer stilles Wissen um das Jenseits; und wie Samen, der unter dem Schnee träumt, träumt euer Herz vom Frühling. Traut den Träumen, denn in ihnen ist das Tor zur Ewigkeit verborgen.
Eure Angst vor dem Tod ist nichts als das Zittern des Hirten, wenn er vor dem König steht, der ihm zur Ehre die Hand auflegen wird. Doch gewahrt er sein Zittern nicht viel mehr? Denn was heisst sterben anderes, als nackt im Wind zu stehen und in der Sonne langsam zu schmelzen? Und was heisst nicht mehr zu atmen anderes, als den Atem von seinen rastlosen Gezeiten zu befreien, damit er emporsteigt und sich entfaltet und ungehindert Gott suchen kann?
Nur wenn ihr vom Fluss der Stille trinkt, werdet ihr wirklich singen. Und wenn ihr den Gipfel des Berges erreicht habt, dann werdet ihr anfangen zu steigen. Und wenn die Erde eure Glieder fordert, dann werdet ihr wahrhaft tanzen.

Aus dem Buch "Der Prophet" von Khalil Gibran


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"