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Geisteswissenschaft - Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel von Dr. Beat Imhof stammt aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Januar 1997, Nr 1, II. Jahrgang, S. 6 ff)

Seele - was ist das?

red. - In der Rubrik "Lebenshilfe" bezeichnet der Psychologe Dr. Beat Imhof einen Notstand der "Wissenschaft von der Seele". - Kennen Sie einen Psychologen, der plausibel zu erklären vermag, was die Seele eigentlich ist?

Ein Arzt beschwichtigte seinen Patienten, der eine unheilvolle Diagnose befürchtete: "Es ist nichts Ernstes, es ist nur seelisch." - Was heisst hier "nur seelisch"? Wird die Seele als unwichtig, als nebensächlich bewertet? Ist das, was wir Seele nennen, nur etwas für zartbesaitete und überempfindliche Leute? Der berühmte Chirurg Rudolf Virchow (1821 - 1902) in Berlin soll gesagt haben: "Ich habe hunderte von Menschen operiert und nie eine Seele gefunden." Demnach ist die Seele kein Ding und kann nicht dingfest gemacht werden, weder hinter dem Röntgenschirm noch unter dem Mikroskop. Dennoch redet man seit mindestens zweitausend Jahren von der Seele, freilich ohne sich bis zum heutigen Tag darauf geeinigt zu haben, was sie eigentlich ist.
Das griechische Wort für Seele heisst "Psyche", was soviel bedeutet wie Hauch, Odem, Atem. Noch heute spricht man davon, ein Mensch habe sterbend seine Seele ausgehaucht. Früher gab es in den alten Bauernhäusern ein kleines Seelenfenster, um der abgeschiedenen Seele einen Weg ins Jenseits zu öffnen. Mit dieser Vorstellung verband sich der Glaube an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod. Die Wissenschaft von der Seele, wie wir sie bis heute kennen, reicht zurück bis zu den griechischen Philosophen des Altertums. Bei Platon (427-347 v. Chr.) ist die Seele geistig und unsterblich. Für die Dauer des Menschenlebens wohnt sie im Körper wie in einem Gefängnis. Nach dem Tod kehrt sie zurück in die geistige Welt der Ideen, wo sie bereits während ihres früheren Aufenthalts alles gesehen und erfahren hat. Im Verlauf ihrer verschiedenen Erdenleben soll sie sich daran erinnern, um sich ihrer selbst bewusst zu werden. Diese Ansicht beinhaltet sowohl den Gedanken der vorgeburtlichen Existenz (Präexistenz) als auch den der Wiedergeburt (Reinkarnation). Beide Annahmen werden bis heute von den meisten christlichen Kirchen abgelehnt. Deshalb folgen sie lieber der philosophischen Lehre des Aristoteles (384-322 v. Chr.), der wesentlich diesseitsorientierter war als sein Lehrer Platon. Nach ihm ist die Seele eine formende und belebende Kraft, die auf drei verschiedenen Ebenen in Erscheinung tritt. Als pflanzliche (vegetative) Seele befähigt sie alle Lebewesen, sich zu ernähren, zu wachsen und sich fortzupflanzen. Als empfindende (sensitive) Seele ermöglicht sie die Sinneswahrnehmung und Fortbewegung. Als denkende (rationale) Seele, die nur dem Menschen eigen ist, steuert sie die vernünftigen Tätigkeiten des Denkens und WolIens.
In der unmittelbaren Nachfolge des Aristoteles steht der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274), dessen Philosophie während Jahrhunderten die Lehre von der Seele beeinflusste. Die Pflanzen- und Tierseele interessierte ihn nur am Rande. Seine volle Aufmerksamkeit galt der menschlichen Seele, die seiner Meinung nach geistigen Ursprungs ist. Sie soll für die körperlichen, seelischen und geistigen Tätigkeiten zuständig sein. Diese Geistseele, wie Thomas sie nannte, wird gemäss seiner Ansicht während der Zeugung oder in den Anfängen der Schwangerschaft unmittelbar von Gott erschaffen. Einige moderne Theologen halten dafür, dass Gott bei jeder Schwangerschaft einen "Umbau" vollzieht, indem er die belebende Seele des Kindes in eine Geistseele umgestaltet, die dann mit dem Körper eine untrennbare Einheit darstellt (Fussnote 1). Die Lehre des Thomas von Aquin, heute unter dem Namen Scholastik bekannt, wurde schliesslich zur offiziellen Doktrin der katholischen Kirche erhoben und soll noch heute geglaubt werden, obwohl sie viel Widersprüchliches enthält. Es sei mir hier ein einziger ketzerischer Hinweis erlaubt: Wenn diese geistige Seele tatsächlich und unbedingt bei der Zeugung von Gott geschaffen wird, dann könnte ein Menschenpaar, dem es passt oder passiert, ein Kind zeugen, Gott zwingen, schöpferisch tätig zu sein. Dies widerspricht doch völlig der Freiheit Gottes. Ausserdem beweisen die zahllosen ausserkörperlichen Erfahrungen in Narkose und Trance sowie im todnahen Zustand klar, dass Körper und Geistseele nicht eine unabdingbare Einheit darstellen, sondern trennbar sind.
Hinsichtlich der Frage, ob der Mensch eine geistbegabte Seele hat, haben sich im Verlauf der folgenden Jahrhunderte drei verschiedene Denkmodelle entwickelt. Da ist zunächst jenes, das annimmt, der Mensch habe überhaupt keine Seele. Alles, was wir als seelische und geistige Regungen am Menschen beobachten, sei die Wirkung von Instinkten und Hirntätigkeiten. Demnach wäre der Mensch nur eines: eine Maschine, bestenfalls ein höher entwickeltes Tier. So war Nietzsche der Meinung: "Man hat ein Nervensystem, aber keine Seele." Prof. Campell kommt zum simplen Schluss: "Der Mensch hat keine Seele, weil er keine braucht." In diesen Umkreis gehören auch jene Denker, welche die Frage nach der Existenz einer Seele offen lassen, weil diese nicht beweisbar sei. Zu diesen gehörte der französische Philosoph Voltaire, der sich wegen jenes Schweizer Hauptmanns amüsiert zeigte, der da vor der Schlacht gebetet hat: "Herrgott im Himmel, falls du existierst, rette meine Seele, falls ich eine habe."
Eine radikale Trennung zwischen beseelter und nichtbeseelter Natur vollzog René Descartes (1596-1650), der Begründer der modernen Philosophie, indem er zwischen den ausgedehnten Dingen (res extensa) und den denkenden Dingen (res cogitans) unterschied. Zu den letzteren zählte er nur den Menschen auf Grund seiner geistbegabten Seele, der allein er Vernunft und Denkfähigkeit zusprach. Damit wurden Pflanzen und Tiere zu seelenlosen Sachwerten erklärt und dies blieb gemäss dem öffentlichen Recht so bis zum heutigen Tag. Selbst die Kirchen haben dieser Ansicht nie widersprochen. Es ist mir keine einzige lehramtliche Verlautbarung zum Schutz der stummen Kreatur bekannt, obwohl deren Leid heute mehr denn je zum Himmel schreit.
Die Psychologie als Lehre von der Seele entwickelte bis in die neuere Zeit keine eigenständige Ansicht über das Wesen der Seele, befand sie sich doch während des ganzen Mittelalters im Schlepptau der Philosophie. Für sie waren Bewusstsein und Seele zunächst gleichbedeutend. Ein unbewusstes Seelisches gab es demnach ebensowenig wie hölzernes Eisen oder eisernes Holz. Das wäre als Widerspruch in sich selbst angesehen worden. Dies änderte sich aber schlagartig vor rund hundert Jahren, als Seelenärzte wie Freud, Jung und Szondi anfingen, sich um das Unbewusste zu kümmern, weil sie hier die Ursache für zahlreiche Krankheiten vermuteten. Als Wissenschaftler entwickelten sie eine völlig neue Seelenlehre, welche die seelischen Tiefenschichten zum Gegenstand ihrer Forschung machte. Damit wurden ganz andere Horizonte erschlossen, so dass der grosse Seelenkenner C. G. Jung einsehen musste: "Ich weiss nicht, wo die Seele eigentlich aufhört." Danach ist Seele das, was bewirkt, dass etwas lebt, also Lebensenergie, auch Libido genannt. Diese ist allen Lebewesen eigen. Es ist immer dieselbe Energie, ob sie nun Pflanzen, Tiere oder Menschen belebt, ob sie Trieben, Gefühlen, Empfindungen oder Gedanken zum Ausdruck verhilft. Der Chirurg Prof. Dr. August Bier beschrieb die Seele als fliessende Energie, welche den Körper durchpulst und ihn lebendig macht, so dass er Reize empfangen und darauf reagieren kann (Fussnote 2).
Was spitzfindige Philosophen und Theologen bis anhin an der Seele unterteilten und unterschieden, war nun auf einmal hinfällig. Viele Forscher sehen nun alles beseelt, sogar die sogenannte leblose Materie. So war etwa die Rede von "Kristallseelen", von der "Seele der Atome" und sogar von der "Seele des Weltalls". Es handelt sich hier um Denkansätze, die wir bereits im 4. vorchristlichen Jahrhundert beim griechischen Philosophen Demokrit finden, der die erste Atomlehre entwarf. In diesem Sinne besagt ein kleines Gedicht: "Es gibt nichts Totes auf der Welt / hat jedes sein Verstand / es lebt das kahle Felsenriff / es lebt der dürre Sand."
Eine ganz neue Sicht, die einfach und einleuchtend ist, bringt die esoterische Philosophie, so vor allem die Theosophie und Anthroposophie. Sie sieht den Menschen als eine Dreiheit von Körper, Seele und Geist. Die Seele als belebende Kraft wird, der olympischen Flamme gleich, auf dem Wege der Vererbung von einem Lebensträger auf den nächsten weitergereicht. Wissende und Eingeweihte sprachen schon immer vom Seelenfunken und vom belebenden Feuer. Körper und Seele, die wir haben, stammen demnach aus der Jahrmillionen langen Erdentwicklung. Der Geist aber, der wir sind, hat seine ursprüngliche Heimat in der geistigen, göttlichen Welt, aus der er ehemals selbstverschuldet herausgefallen ist. Im Wiederaufstieg und auf dem Weg nach Hause ist ihm die Möglichkeit gegeben, in immer neuen Erdenleben sich so lange zu verkörpern, bis er jenen ursprünglichen Zustand der Reinheit wiedererlangt, den er verloren hat. Hier begegnen wir erneut der Auffassung des Platon, der eine geistige, präexistente Seele annahm und für den die Geisteswelt die einzig wahre Wirklichkeit darstellt. In diesem Denkmodell hat der christliche Erlösungsgedanke durchaus seinen Platz, denn die oft missverstandene Erlösungstat Christi bestand gerade darin, für die gefallenen Geistwesen, die wir ja sind, eine Befreiung aus höllischer Abhängigkeit zu erwirken und den Weg zum Wiederaufstieg in die himmlische Welt zu ermöglichen. Diesen Weg müssen wir freilich selber gehen durch unser eigenes Bemühen. Da dieser Weg für uns gewöhnliche Sterbliche weit und beschwerlich ist, wird uns die Gnade zuteil, ihn in Etappen zurückzulegen. Gleichzeitig haben wir den Vorteil, dabei unseren beseelten menschlichen Körper als Fahrzeug benutzen zu können. Gemäss dem esoterischen Weltbild wäre der Körper des Menschen also mit einem Fahrzeug zu vergleichen. Die Seele ist die Betriebsenergie, der Fahrer aber ist der Geist. Dieser steigt aus seinem vorgeburtlichen Dasein im Verlauf der Schwangerschaft in das betriebsbereite Fahrzeug ein. Im Sterben verlässt er dieses nach Verbrauch der zugeteilten Lebensenergie auf natürliche Weise am Etappenziel, falls das Körperfahrzeug nicht wegen selbstverschuldeten Fehlverhaltens des Fahrzeugführers vorzeitig seinen Dienst versagt. Dann käme es zu einem unnatürlichen Tod etwa durch Krankheit, Unfall oder Selbsttötung.
Wenn der priesterliche Seelsorger sich um das Seelenheil der Menschen bemüht, geht es ihm dabei nicht in erster Linie um Psychotherapie, sondern um die "Rettung der unsterblichen Seele", die wir hier Geist nennen. Da es sich immer um den ganzen Menschen handelt, solange das Erdenleben dauert, sollte er freilich die Heilung von Körper und Seele mit in Betracht ziehen, genau so wie der Psychologe sich auch um die letzten Fragen der menschlichen Existenz, nämlich um die Geistigkeit seines Patienten oder Klienten und um dessen Woher und Wohin kümmern sollte. Denn aus den Antworten auf diese Fragen ergibt sich letztlich das heilsame Warum und Wozu, welches unsere Leiden erträglich und unser irdisches Dasein sinnvoll erscheinen lässt.
Körper, Seele und Geist stehen für die Dauer ihrer vorübergehenden Verbindung miteinander in steter Wechselwirkung, ähnlich wie der Fahrer mit seinem Fahrzeug und dessen Betriebsenergie. Verantwortlich für die Fahrweise ist doch weitgehend der Fahrer. So liegt auch beim Menschen die letzte Verantwortung vorwiegend in seiner sich selbst steuernden Geistigkeit und nicht in der Vererbung oder in der Umwelt und auch nicht in den frühkindlichen Erlebnissen. Der Mensch steht mit seiner Dreiheit von Körper, Seele und Geist in der Mitte zwischen der materiellen und geistigen Welt, Das vermittelnde und bindende Band ist die Seele. In unserem diesseitsbezogenen und erdgebundenen menschlichen Zustand nehmen wir vor allem den Körper wahr, nämlich seine Bedürfnisse, seine Abhängigkeiten und seine Hinfälligkeiten. Die Seele spüren wir nur aus ihrem Erleben und Verhalten. Unser Geist jedoch, der uns wirklich sagen könnte, wer wir eigentlich sind, bleibt vorläufig die Grosse Unbekannte, mit der wir aber auf jeden Fall rechnen sollten.
Der berühmte Chirurgie-Professor Carl Ludwig Schleich von der Berliner Universität fand für diese geheimnisvolle Gegebenheit die Dichterworte:

Auf den feinsten Nervensaiten
Spielt ein Spielmann sein Gedicht.
Wohl fühlst du die Finger gleiten,
Doch den Spielmann siehst du nicht.

Dr. Beat Imhof


Fussnote 1: Schamoni, Wilhelm: Theologisches zum biologischen Weltbild, Schöning Verlag, München 1964, S. 79
Fussnote 2: Bier, August: Die Seele, Berlin 1939, S. 36-37


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Letzte Änderung am 21. März 2000