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Psychologie

Artikel von Prof. Dr. Werner Schiebeler, erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 3/2005, S. 26-31.

Die Eidetik

von Prof. Dr. Werner Schiebeler

Die Eidetik ist die Lehre von den Anschauungsbildern. Diese wurde erstmals 1907 von dem Wiener Ohrenarzt Viktor Urbantschisch in einer Arbeit über die "subjektiven optischen Anschauungsbilder" entwickelt und vorgestellt. Der Begriff Eidetik kommt von dem griechischen Wort to eidos = das Sehen, das Schauen, die Vorstellung.

Um die Wahrnehmungsform des eidetischen Sehens in ihrer Eigenart erfassen zu können, sollen zunächst die bekannten Erscheinungen des normalen Sehens erläutert werden. Sehen ist die Aufnahme von Informationen durch Zuführung von Energie elektromagnetischer Wellen auf die Netzhaut des Auges. Von dort erfolgt eine Weiterleitung der Information durch frequenzmodulierte elektrische Impulse über die Fasern des Sehnerven an das Gehirn. Dort entsteht durch Informationsverarbeitung dann der Eindruck von Bildern.

Man unterscheidet:

1. Das objektive optische Wahrnehmungsbild
2. Das subjektive Nachbild
 a) Das positive, nur kurzzeitige Nachbild, was dadurch entsteht, dass die Lichtempfindung noch eine kurze Zeit (1/20 Sekunde) andauert, nachdem der Lichtreiz aufgehört hat. Das führt dazu, dass man bei Betrachtung eines Kinofilmes oder eines Fernsehbildes den Eindruck von gleichmässig fliessenden Vorgängen hat und nicht von flimmernden Einzelbildern.
 b) Das negative oder komplementäre Nachbild. Es entsteht durch Ermüdung von Sehzellen, die durch lange und starke Reize beansprucht wurden. Bei ihnen ist der Sehfarbstoff durch den langen Reiz so stark vermindert, dass er durch den Blutstrom erst nach geraumer Zeit ergänzt werden kann. Dadurch ist die Lichtempfindlichkeit an diesen stark gereizten Stellen zeitweilig stark vermindert, an den unbelichteten Stellen demgegenüber vermehrt. Das führt dazu, dass man ein negatives Nachbild mit vertauschten Helligkeitsunterschieden wahrnimmt, wenn man unmittelbar nach dem starken Reiz seinen Blick auf einen schwach belichteten Untergrund richtet. Wenn Sie also im Schlafzimmer im Bett liegend auf das helle leuchtende Fenster blicken und mit unbeweglichem Auge etwa 20 Sekunden das Fensterkreuz fixieren und danach den Blick auf eine dunkle Schlafzimmerwand richten, werden sie dort das Fensterkreuz hell auf dunklem Hintergrund wahrnehmen. So etwas nennt man ein komplementäres Bild. (franz. compléter = vervollständigen, complément = Ergänzung).
 Und wenn sie ein intensives farbiges Bild genügend lange fixiert haben, wandeln sich in dem Nachbild die Ursprungsfarben auch in die sogenannten Komplementärfarben um. Das sind die Farben, die mit der Ursprungsfarbe zusammengemischt den Eindruck weiss ergeben. Aus der Ursprungsfarbe blau wird im Nachbild die Farbe rot bis gelb, und aus rot wird türkis bis grünlich und aus grün wird violett bis tiefblau. Wenn ich im Hörsaal dieses Phänomen auf der Leinwand vorgeführt habe, ging immer ein vielstimmiger Ruf des Erstaunens durch die Zuhörerschaft, wenn jeder die eindrucksvolle Intensität dieser farbigen Nachbilder wahrnehmen konnte.
3. Das subjektive Vorstellungsbild. Das ist die Bildfolge, die in Ihrem Gehirn entsteht, wenn Sie an eine bestimmte Szene aus Ihrem bisherigen Leben denken. Diese Bilder sind wesentlich unschärfer als die objektiven optischen Wahrnehmungsbilder.
4. Das Traumbild. Es ist schärfer als das subjektive Vorstellungsbild aber unschärfer als das objektive Wahrnehmungsbild.

Darüber hinaus gibt es nun

5. Das eidetische Bild als subjektives Anschauungsbild.

Die eidetischen Anschauungsbilder, also das eidetische Sehen, ist eine Zwischenform zwischen dem optischen Sehen und seinen Nachbildern und dem visionären Sehen, wie es bei Paragnosten beobachtet wird. Letztere Form des "Sehens" soll in einer späteren nachfolgenden Arbeit behandelt werden. Hier soll jetzt nur über das eidetische Sehen berichtet werden.

Bietet man ein kompliziertes Objekt, z.B. eine nicht ganz einfache Silhouetten-Darstellung mit zahlreichen Einzelheiten etwa 15 Sekunden einem Betrachter zur Fixation dar, so wird ein Nichteidetiker nach Wegnahme des Bildes in dem subjektiven Nachbild auf einem neutralen Untergrund nur ganz wenige Einzelheiten wahrnehmen können. Kann der Betrachter jedoch nicht ein verschwommenes komplementäres Nachbild sondern ein positives Nachbild mit zahlreichen Einzelheiten oder ein fast völlig scharfes Bild erkennen, so ist dies ein deutliches Anzeichen für das Vorhandensein einer eidetischen Anlage. Es ist ein sicheres Anzeichen, wenn die Farbe des Bildes sich gegenüber der Vorlage nicht verändert hat.
Solche eidetischen Bilder werden am besten auf dunkelgrauer Unterlage bei mässiger Beleuchtung wahrgenommen.

Die eidetische Anlage wird besonders bei Kindern beobachtet, tritt in seltenen Fällen aber auch bei Erwachsenen auf. Im Alter von 10 Jahren ist die Zahl der eidetischen Kinder bereits auf die Hälfte gesunken.

Wie äussern sich nun die eidetischen Wahrnehmungen? Was "sehen" die entsprechend veranlagten Personen? Die Untersucher waren häufig Lehrer, die mit ihren Schülern experimentierten. Ein solcher Lehrer Namens Kroh (6), Studienrat an einem Gymnasium, hatte einmal seinen Schülern eine Aufgabe gestellt, zuhause naturwissenschaftliche Vorgänge zu beobachten. Eines Tages erzählte ein elfjähriger Schüler auf Grund einer solchen Beobachtungsaufgabe, wie eine Kreuzspinne ihr Netz anlegt. Die Schilderung des Jungen war lebendig und geradezu dramatisch. Es fiel auf, dass der Schüler dabei aufmerksam beobachtend zur Wandtafel blickte. Auf die Frage: „Warum siehst du dauernd zur Tafel?“ antwortete er: „Da sehe ich es besser.“ „Was denn?“ „Die Spinne mit dem Netz.“ Der Schüler gab dann auf Verlangen die Stelle der Tafel genau an, an der er das Anschauungsbild des Netzes sah, auch die Spinne hatte ihren jeweils bestimmten Ort, wie er durch den Fortgang ihrer Tätigkeit gefordert war. – Die ganze Netzanlage, so wie er sie am Tage vorher in der freien Natur beobachtet hatte, vollzog sich hier vor ihm aufs Neue im Bilde."

Ein anderer Lehrer Namens Bonte (2) beschreibt einen sehr lebhaften Schüler in seiner Hamburger Schulklasse, der von seinen eidetischen Bildern oft so eingenommen war, dass die wirkliche Umwelt völlig für ihn versank. (7, S. 41) Als er im zweiten Schuljahr, also im Alter von etwa acht Jahren, einmal im Unterricht von der Arbeit der Feuerwehr erzählen sollte, erlebe er als Anschauungsbild einen Brand, den er äusserst plastisch, anschaulich, sichtlich unter grösster innerer Erregung berichtete. „Er hörte das Signal und das Rattern des Feuerwehrautos, die Klasse belebte sich mit Feuerwehrleuten, und die Flammen schlugen empor. Als es nach 20 Minuten läutete, fand er erst allmählich wieder in die Wirklichkeit zurück. Also eine Art Brandgesicht, dem nur die prophetische Komponente fehlte.

Einige jugendliche Eidetiker sind deshalb auch imstande, ihre Anschauungsbilder im Zeichenunterricht zu verwenden, oder ein Gedicht, das sie aufsagen, von dem eidetischen Bilde abzulesen. Manche werden beim Lesen durch eidetische Bilder gestört, die den gedruckten Text überdecken. Ein Volksschüler des Lehrers Karl Schmitz (7, S. 41) sah die Zahlen in feinen Ziffern geschrieben vor sich, wenn er kopfrechnen sollte. Einmal sollte er eine Aufgabe an der Schultafel rechnen. Er war sehr aufgeregt und fürchtete, die Aufgabe nicht lösen zu können. Als er aber an die Tafel kam, stand die ganze Aufgabe schon da, mit Kreide in feiner Schrift geschrieben, er brauchte die Schriftzüge nur nachzuziehen. Es war ihm zumute, als führe ihm jemand die Hand, so leicht war die Kreide. Er löste die Aufgabe gut, zur Verwunderung des Lehrers. Ein anderes Mal rechnete er auch an der Tafel, während der Lehrer einen Schüler strafte. Plötzlich sah er den Lehrer auf der Tafel den Jungen strafend. Er wurde dadurch in seiner Rechnung verwirrt, weil er die fein vorgeschriebenen Ziffern nicht mehr erkennen konnte. Der Schüler galt als guter Denker mit gesundem Menschenverstand.

(7 S. 42) Ein Mädchen wurde im Alter von 13 3/4 für die Aufnahme auf eine höhere Schule geprüft und nach einer mineralogischen Reihe gefragt, die ihm nicht mehr in Erinnerung war. Aber rechtzeitig erschien, nur ihm selbst sichtbar, an der Wandtafel der Text der Gesteinsnamen, in der gleichen Schrift, in der sie acht Wochen vorher von der Lehrerin angeschrieben worden waren.

(7, S. 43) Die Forschung hat gezeigt, dass die eidetische Anlage wahrscheinlich schon vor dem Schulalter häufig ist, aber schwer nachgewiesen werden kann. Bei Schulanfängern ist sie eine vielfach beobachtete Erscheinung. Im 10. Lebensjahr ist die Zahl der eidetischen Kinder bereits etwa auf die Hälfte gesunken; zu Beginn der Reifezeit scheint sich ein neuer Aufstieg auszuprägen. Mit dem 14. Lebensjahr kommen die Erscheinungen in den meisten Fällen zum Abklingen. Aber in seltenen Fällen entsteht die Anlage in der Reifezeit neu oder bleibt bis in das Erwachsenenalter hinein erhalten.

Einer der Untersucher, der Studienrat Oswald Kroh, hatte selbst einmal ein eidetisches Erlebnis (7, S. 39). Er hatte eine grosse Anzahl mathematischer Sextanerarbeiten korrigiert. Ermüdet blickte er von der Arbeit auf und sah vor sich in der Luft ein aufgeschlagenes Heft stehen, eine Seite seiner Korrektur, in der er sogar die rote Schrift seiner Korrektur verfolgen konnte. Das Bild blieb unbeweglich in der Luft stehen, auch wenn er den Kopf wandte, bis es schliesslich zerfloss.

Die Zahl der jugendlichen Eidetiker – es gibt viele Intensitätsgrade von der latenten bis zur hochgradig manifesten Anlage – ist in den einzelnen Landschaften Deutschlands verschieden. In Sachsen hat man so gut wie gar nichts finden können, an anderen Orten steigen die Ziffern bis zu 70 % und mehr. Die eidetischen Erscheinungen sind nicht nur auf das Auge beschränkt, sondern treten, hingegen seltener, auch auf anderen Sinnesgebieten auf. In manchen Fällen verbinden sich visuelle und akustische Erlebnisse.

Für Künstler ist die eidetische Anlage in einigen, keineswegs aber in allen Fällen eine Voraussetzung oder Unterstützung ihres Schaffens. Der englische Maler William Blake (1757-1827) berichtet: „Ich erfasste den Menschen in meinem Geiste, ich setzte ihn auf den Stuhl, wo ich ihn ebenso deutlich wahrnahm, wie wenn er sich in Wirklichkeit dort befunden hätte, und ich kann selbst hinzufügen mit bestimmteren und lebhafteren Formen und Farben. Ich blickte von Zeit zu Zeit nach der imaginären Gestalt und begann zu malen; ich unterbrach meine Arbeit, um die Stellung zu prüfen, genau so, wie wenn das Original vor mir gewesen wäre. Jedesmal, wenn ich einen Blick auf den Stuhl warf, sah ich den Menschen“ (nach Kroh, 5).

Ein französischer Graveur arbeitete in der Weise, dass er die Konturen, die für ihn bereits auf der Platte sichtbar waren, nachzog (ebenda).
Kroh (5) hat auch auf die eidetische Anlage verschiedener Dichter hingewiesen. Auch Goethe war Eidetiker. Eidetische Erscheinungen höchsten Grades zeigte Gustav Frenssen, der in seiner Abstammung wie in seinem Schaffen tief im niederdeutschen Volke verwurzelt war. Er lebte von 1863 bis 1945 und war von 1890 bis 1902 evangelischer Pastor. Danach war er nur noch Schriftsteller. In seinen "Grübeleien" schildert er, wie seine ersten Romane entstanden, wie die einzelnen Personen immer mehr Gestalt gewannen und schliesslich sichtbar bei ihm im Zimmer standen, so deutlich, dass er ihnen geradezu aus dem Wege ging. Er hörte sie sprechen, lachen und weinen. „Das waren böse Stunden, als Maria Land – in den ‚drei Getreuen' – an einem Teich kniete. Ich erinnere mich, dass ich immer an dem Tisch vorbei hin und her ging, weil sie da an der Schwelle der Tür lag und mit der Welt, die zu hart für sie war, den letzten Kampf kämpfte, in dem sie unterlag. Man möchte dann gern helfen; aber man ist machtlos. Man ist armseliger Zuschauer. Man darf nicht einmal ein armselig Wörtlein dazwischen reden. Man ist nur stummer Protokollführer. Und man führt das Protokoll um so besser, je kälter und ruhiger Blut man in solcher Stunde zu bewahren weiss.“
Damit ist sehr plastisch ein gewisses Fremdgefühl gegenüber den Produkten der eigenen Phantasie zum Ausdruck gebracht, das Gefühl der Objektivität der Erscheinungen, das auch die Vorschauer gegenüber ihren Gesichtern haben.

Frenssen hat das in einer persönlichen Mitteilung an Dr. Schmeing noch deutlicher beschrieben: (7, S. 45) „Ich sehe, was ich sehen will, durchaus nicht vorstellungsmässig, erinnerungsmässig, sondern die ich haben will und rufe, kommen leibhaftig und wirklicher, als denen ich in Fleisch und Blut begegne. Wenn ich will, gehe ich auf dem Wege zur Kirche unter lauter früheren toten Predigern und sitze nachher unter vielen in vergangenen Trachten. Ob diese Fähigkeit der Gesichte etwas Besonderes ist, oder die aller Leute, die eine lebhafte Einbildung haben, wie der gewohnte Ausdruck ist, weiss ich nicht. Wie mit dem geistigen Sehen, so ist es mit dem Hören. Ich höre, wenn ich will, die Stimmen, den Tonfall ihrer Stimmen; jeder hat seine Weise. Sie sind mir in solchem Grade leiblich gegenwärtig dass ich einen Bogen um die Stelle mache, wenn nötig, wo sie stehen. Ich sehe mit Lächeln die Gestalt eines toten Jugendgefährten, der, wenn er etwas getrunken hatte, sehr komisch war, und mit ehrerbietigen, stillen Augen die kleine gebückte Gestalt meiner Mutter.“

Die Eidetik ist imstande, die Brücke zu bauen vom alltäglichen Wirklichkeitssehen bis zum visionären Schauen. Diese Brücke ist zwar in ihrer ganzen Ausdehnung nur hochgradigen Eidetikern praktisch zugänglich, aber die ersten Sprossen dieser Stufenfolge, die Nachbilder, können nahezu von allen Versuchspersonen erreicht werden.


Literaturangaben

1) Bonte: "Die personale Bedeutsamkeit der eidetischen Anlage", Beiheft 43 der Zeitschrift für angewandte Psychologie, Leipzig 1929

2) Bonte: "Die eidetische Anlage", Leipzig 1934

3) Jaensch, E. R.: "Die Eidetik und die typologische Forschungsmethode in ihrer Bedeutung für die Jugendpsychologie und Pädagogik: für die Psychologie und die Psychophysiologie der menschlichen Persönlichkeit", Verlag Quelle und Meyer, Leipzig 2. Aufl. 1927

4) Jaensch, E. R.: "Die eidetische Anlage und das kindliche Seelenleben", 1934

5) Kroh, Oswald: "Eidetiker unter deutschen Dichtern", Zeitschr. für Psychologie, Bd. 83, 1920

6) Kroh, Oswald: "Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen", Göttingen 1922

7) Schmeing, Karl: "Das Zweite Gesicht in Niedersachsen. Wesen und Wahrheitsgehalt", Verlag Joh. Ambrosius Barth, Leipzig 1937


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"