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Geisteswissenschaft - Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Mai 1998, Nr. 3, III. Jahrgang, S. 101 ff. )

Lebenshilfe - Mut zum Verzeihen

Eine betagte Frau fühlte ihr Lebensende nahen. Sie liess den Pfarrer rufen, um bei ihm die letzte Beichte abzulegen. "Können Sie verzeihen?", fragte dieser die Kranke, als er ins Zimmer trat. "Ja, allen und alles" beteuerte die Sterbende. " Das genügt ", sagte der Priester, " Ego te absolvo. "
Es ist wichtig, sich zeitlebens im Verzeihen zu üben. Allerdings braucht es Mut hierzu. Die Zahl jener ist nicht gering, die sich rühmen, erlittene Beleidigungen niemals zu vergessen und zu verzeihen. Sie denken über Jahre hinweg verbittert und unversöhnlich an eine erlittene Verletzung, sie schüren ihr Beleidigtsein wie eine Glut, pflegen die Erinnerung daran und meinen, dies sei ein Zeichen von seelischer Stärke und Charakterfestigkeit. Dabei bedenken sie kaum, dass sie mit solch negativer Gesinnung ihren Alltag vergiften und ihre Gesundheit schädigen.
Vor Jahren kam eine geschiedene Frau wegen einer schweren Depression zu mir. Nachdem sie mir ihr trauriges Eheschicksal geklagt hatte, meinte sie: " Ich lebe nur noch in der Erwartung, dass der Herrgott meinem Ex-Mann tausendfach all das heimzahlen wird, was er mir angetan hat. " Auf meinen Rat, solche Rachegedanken aufzugeben, flehte sie mich mit erhobenen Händen an: " Bitte, nehmen Sie mir diese Hoffnung nicht! " Bei mir selber aber dachte ich: Wünsche nie jemanden in die Hölle, sonst musst du ihm dort begegnen. Es war mir klar, dass diese Frau in ihrer unversöhnlichen Haltung des Lebens nicht mehr froh werden konnte. Ihr Hass trabte ihre Gedanken und verfinsterte ihr Gemüt.
Wohl jeder von uns fühlt sich gelegentlich verletzt, missverstanden, ungerecht behandelt oder gedemütigt. Dies dem anderen heimzahlen zu wollen, ist ein Aufwand, der sich nicht lohnt. Wer nicht verzeihen kann, der igelt sich ein, zieht eine Mauer des Schweigens um sich, hinter der er schliesslich vereinsamt und versauert. Die Harmonie unter den Menschen wird verunmöglicht. Zwischen Eltern und Kindern, unter Geschwistern, Verwandten und Nachbarn kann diese Unversöhnlichkeit ein Zusammenleben erschweren. Besonders schlimm ist es, wenn Ehepaare sich das Leben zur Hölle machen, indem sie fortwährend alte Geschichten auftischen, vernarbte Wunden aufreissen und vejährte Vorwürfe aufwärmen. Irgendeinmal müsste man durch das Ganze einen Strich machen können und dann Schwamm darüber. Sonst erstirbt mit der Zeit jede freundschaftliche Zuwendung, jede liebende Zuneigung.
Ein neugeweihter Priester machte sich viele Gedanken um seine erste Hochzeitspredigt. Auf einem Spaziergang begegnete er einer alten Walliserin, der er seine Schwierigkeiten gestand: "Eigentlich weiss ich nicht, was ich den Brautleuten empfehlen kann". "Ach", antwortete diese ohne lange zu überlegen, "sagen Sie ihnen, sie sollen einander immer wieder verzeihen. "
Wer nicht verzeihen und vergeben kann, ist ein ausgesprochener Egoist, befangen in seinem kleinkarierten und engstirnigen Denken. Er stellt sein, eigenes Ich in den Mittelpunkt und diesem lädt er nebst dem erlittenen Schmerz noch die Schuld jener auf, die sein Verzeihen vergebens suchen. Dadurch schädigt er sich selbst, weil er sich so des inneren Friedens beraubt. Solange wir einem anderen Menschen, der an uns schuldig geworden ist, sein Fehlverhalten nicht nachsehen, bleiben wir an seine verletzende Tat gebunden und ziehen deren zerstörende Energie fortwährend auf uns selbst. Eine Frau, deren 20jährige Tochter bei einem Ferienaufenthalt in Spanien ermordet wurde, erkrankte kurze Zeit danach an einem lebensgefährlichen Leiden, das einen längeren Spitalaufenthalt notwendig machte. Sie versicherte mir, dass es ihr gesundheitlich erst dann wieder besser ging, als sie anfing, dem Mörder ihres Kindes zu verzeihen.
Alles Negative wie Kummer, Wut, Groll und Verdruss geben wir auf, sobald wir jenen vergeben, die tatsächlich oder vermeintlich daran schuld sind. Dadurch befreien wir uns von einer Last, die uns bis dahin das Leben schwer gemacht hat und wir entlasten uns von blockierenden und kräfteverzehrenden Gefühlen des Hasses, der Rache und des Gekränktseins. Verzeihen ist demnach der beste Schutz für uns selbst und ein ausgezeichnetes Mittel gegen das Gift, das uns körperlich und seelisch schwer schädigen kann.
Wer nicht grossmütig verzeihen kann, dem fehlt es an innerer Stärke. Er ist kleinmütig darauf bedacht, sein Gesicht zu wahren, seinen sogenannten guten Ruf zu retten und sein Ansehen nach aussen zu pflegen. Damit hegt und hätschelt er nur sein wenig belastbares Egodenken. Der Egoismus verbindet sich leicht mit dem Stolz, der uns glauben lässt, wir würden uns demütigen und erniedrigen, indem wir verzeihen. Wer keine Entschuldigung annimmt, keine Sünde verzeiht und keinen Fehler vergibt, der haust im fensterlosen Gefängnis seiner Selbstsucht.
Wem das Verzeihen schwer fällt, der möge sich selber hinterfragen: Was in mir fühlt sich verletzt? Wie hätte ich reagiert, wäre ich an der Stelle des anderen gewesen? Was hat den anderen veranlasst, mich bewusst oder unbewusst zu kränken? Wer darauf ehrliche Antworten findet, ist eher bereit, den ersten Schritt zur Versöhnung zu wagen, ein verzeihendes Wort zu finden, um einen Neuanfang zu versuchen und eine Brücke zu schlagen.
Letzten Endes werden wir dadurch erst fähig, uns selbst zu verzeihen, indem wir zu der Einsicht gelangen, dass wir nicht ganz unschuldig am entstandenen Zerwürfnis sind. Dies ist vielleicht der schwierigste Schritt, der wahrhaft Mut und Ehrlichkeit zu sich selbst und zum anderen voraussetzt. Folgende Symbolgeschichte gibt zu Denken:
Eine Frau kam zu einem Weisen und fragte ganz verzweifelt: "Herr, ich weiss nicht mehr, was ich mit der Untreue meines Mannes manchen soll. Ich habe alles versucht, aber nichts hilft!" Der Weise antwortete: " Verzeihung! " " Aber, Herr, ich habe ihm schon mehr als tausendmal verziehen. Ich habe es schon satt, dieses ständige Verzeihen. " Und wieder gab der Weise den Rat: " Verzeihen! " " Das einzige, was dabei herauskommt, ist, dass er mein Verzeihen ausnützt, um weiterhin fremd zu gehen " beteuerte die Betrogene. Doch der Weise blieb dabei: " Wenn ich zu dir Verzeihung sage, meine ich nicht, dass du ihm seine Untreue vergeben sollst, sondern dass du ihn um Verzeihung bittest, weil du ihm das nicht gegeben hast, was er ausser Hauses gesucht hat. Bitte ihn um Verzeihung dafür, dass du nicht genügend verständnisvoll und zärtlich zu ihm gewesen bist, dass du ihn verurteilt und verwünscht hast, dass du für ihn nicht das gewesen bist, was er von dir hätte erwarten können, und bitte ihn um Verzeihung für all das, womit du zu seinem ehelichen Fehlverhalten beigetragen hast. "
Die Einsicht in die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten stärkt in uns den Mut zum Verzeihen. Wir werden einem anderen Menschen leichter die versöhnliche Hand reichen, wenn uns bewusst wird, dass wir selber friedfertiger hätten handeln sollen. So kann das Verzeihen tatsächlich zur doppelten Wohltat (1) werden, nämlich für den, der verzeiht, und für den, dem verziehen wird.
Vergeben und verzeihen wir, solange uns die Zeit hierzu gegeben ist. Daher sollten wir uns nicht unausgesöhnt schlafen legen. " Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen ", mahnt der Apostel PAULUS in seinem Brief an die Epheser (4, 26). Vor Jahren stand schon morgens um 8 Uhr eine Frau in heller Aufregung vor meiner Sprechzimmertüre. Sie berichtete, wie sie am Vorabend mit ihrem Mann in einen heftigen Streit geriet. Grollend und schmollend gingen die beiden zu Bett und ein jeder wies dem anderen die kalte Schulter zu. Am Morgen lag der Ehemann tot neben ihr. Bei solch einem tragischen Geschehen fällt einem das Gedicht von FERDINAND FREILIGRATH ein: " 0 lieb, solang du lieben kannst, / o lieb, solang du lieben magst. / Es kommt die Zeit, es kommt die Zeit / wo du an Gräbern stehst und klagst. "
Wer an ein Weiterleben über den irdischen Tod hinaus glaubt, der bringt den Mut zum Verzeihen sicher leichter auf, weil er weiss, dass Unversöhnlichkeit auch in der geistigen Welt abgearbeitet werden muss. Der religiös denkende Mensch hegt dabei die Hoffnung, dass ihm dort Vergebung zuteil wird. Als HEINRICH HEINE auf dem Sterbebett lag, wurde er gefragt, ob er wegen seines unfrommen Lebenswandels nicht Angst habe vor dem göttlichen Richter zu erscheinen. Da antwortete der Dichter: "Gott wird mir verzeihen, denn dies ist schliesslich sein Beruf." Das Gesetz von der ausgleichenden Gerechtigkeit, auch Karma-Gesetz genannt, besagt: Wer vergibt, dem wird vergeben und wer verzeiht, dem wird verziehen. Es liegt also an unserem Denken und an unserer Gesinnung, ob und wie wir dereinst Gerechtigkeit erfahren. Hüten wir uns vor nachtragenden Hass- und Rachegedanken. Sie sind gewiss die grössten Hindernisse auf unserem Weg zum Licht.
Verzeihen kann erlernt werden. Die Luzerner Psychologin CHRISTA SCHNEIDER bietet in ihrem Buch Von der inneren Heilkraft des Vergebens (2) praktische Übungen an, damit die Menschen lernen, durch Verzeihen und Versöhnen ihr Herz zu befreien und zu innerem Frieden zu gelangen.
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Yoga-Übung teil. Die Anwesenden brachten von zu Hause Zettel mit, auf denen sie ihren Groll, ihre feindliche Gesinnung anderen gegenüber und ihre Hass- und Rachegedanken aufgeschrieben hatten. Nach einer meditativen Einstimmung warfen alle ihre Zettel in einen grossen Bronzekessel. Dann wurden diese angezündet und symbolisch lösten sich die negativen Gedankeninhalte in Rauch und Asche auf. Die damit verbundene Vorstellung des Verzeihens übte tatsächlich eine befreiende und erlösende Wirkung aus.
Besonders schmerzlich ist ein jahrelanges Zerwürfnis zwischen Eltern und Kindern. Dies kann das Alter und den Abschied schwer belasten. Vor kurzem schrieb mir eine Frau, die als Sterbebegleiterin tätig ist: "Eine ältere Frau lag seit Wochen im Spital, bereit zu sterben, aber sie konnte einfach nicht heimgehen, weil sie ein ungelöstes Mutter-Tochter-Problem hatte, das sie seelisch unwahrscheinlich plagte. Die Tochter zeigte sich unversöhnlich und, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter todkrank im Spital *lag, reiste sie für längere Zeit nach Amerika, ohne zuvor von ihr Abschied zu nehmen. Sie blieb für jeden unerreichbar. Das Schlimmste ist, von dieser Welt im Unfrieden abtreten zu müssen, ohne den Menschen verzeihen zu können, denen man Unrecht zugefügt hat oder umgekehrt, die einem selbst Unrecht getan haben ".
Nach einem Vortrag in Schaffhausen kam ein älteres Ehepaar zu mir. Beide sagten voller Bedauern: " Wir haben seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr mit unserem Sohn. Er will von uns nichts mehr wissen. Je älter wir werden um so mehr bedrückt uns diese Entfremdung. Wir möchten bevor wir sterben mit ihm in Frieden kommen. " Dann bat mich die Frau: " Könnten wir von Ihnen jenes Gedicht bekommen, mit dem Sie Ihren Vortrag beendet haben? Vielleicht können wir damit unserem Sohn ein Zeichen der Versöhnung zukommen lassen. " Es handelt sich um die Poesie Später von ROSMARIE NEIE:

Ob du später mir verzeihst,
wenn du weisst,
wie ich an dir fehlte, Kind?
Ob du im Verstehen reifst
und begreifst, dass wir alle schuldig sind?
Ob du dann die Mauer brichst
und zu mir sprichst.
" Wir sind uns nah. "
Irgendwann einmal, mein Kind,
ist die Stunde da.

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise:
(1) TAUSCH, REINHARD: Verzeihen.- Die doppelte Wohltat, in: Psychologie heute, Nr. 4, 1993, S.20-26.
(2) SCHNEIDER, CHRISTA: Von der inneren Heilkraft des Vergebens. Ansata Verlag, Interlaken 1996.


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Letzte Änderung am 9. April 2000