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Geisteswissenschaft - Philosophie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Sept./Okt. 1999, Nr. 5, IV. Jahrgang, S. 327 ff.)

Lebenshilfe - Alles Grosse ist einfach

Vor mehr als zweitausend Jahren suchte ein wissensdurstiger Lehrer den chinesischen Philosophen LAOTSE auf und fragte ihn nach dem Weg zur Weisheit. Dieser sagte. "Ich habe gehört, ein guter Kaufmann verberge seine Schätze, als ob seine Warenhäuser leer stünden. So gibt sich der wirklich Weise nach aussen ganz einfach und bescheiden, ja gerade so, als wäre er einfältig. Lege also dein hochmütiges Benehmen ab und deine vielen Bedürfnisse, aber auch deine prunkvollen Gewänder und deine Wichtigtuerei! Diese tragen nichts bei zum wahren Werte deiner Persönlichkeit. Das ist mein Rat; sonst habe ich dir nichts zu sagen." Aus dieser Geschichte können wir lernen, dass wahrhaft grosse Menschen sich nicht zieren. Sie blähen ihr Ego nicht auf Sie sind bescheiden in ihrem Wesen. Ihre Grösse liegt in der Einfachheit.
Sowohl in den Naturwissenschaften wie in den Geisteswissenschaften kennt man das Prinzip der Einfachheit. Wenn etwas nicht einfach zu erklären und zu begreifen ist, erscheint es uns nicht logisch und daher gedanklich nicht nachvollziehbar. Daher sagten schon die alten Lateiner: "Simplex sigillum verum - Das Einfache ist das Gütezeichen des Wahren. " Die ganze Schöpfung ist auf einfachen Gesetzen aufgebaut: zunächst auf dem Gesetz der Zweiheit (Dualität). Aus diesem leiten sich zwei weitere ab, nämlich das Gesetz der Anziehung (Sympathie) und das Gesetz der Abstossung (Polarität). Alles andere ergibt sich aus diesen drei Prinzipien sozusagen wie von selbst. In einem Gespräch mit S. BOISSERÉE bestätigte GOETHE: "Ach Gott! Es ist alles so einfach und immer dasselbe, es ist wahrhaftig keine Kunst, unser Herrgott zu sein, es gehört nur ein winziger Gedanke dazu, wenn die Schöpfung da ist. Was vorher war, geht mich nichts an. Aber so einfach und so leicht der Gedanke ist, so schwer lassen es sich die Menschen werden, alles zu zerstückeln" (Fussnote 1) Und bei anderer Gelegenheit meinte er: "Es verdriesst den Menschen, dass alles so einfach ist."
Es ist nun Aufgabe der Naturforschung, diesen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Tatsächlich entziffert sie immer mehr die Rätsel der Schöpfung und entdeckt ihre einfachen Lösungen. Wie grossartig und zugleich einfach ist doch die berühmte Formel von Albert EINSTEIN, die unser Weltbild grundlegend verändert hat: "Energie gleich Materie mal doppelte Lichtgeschwindigkeit" (E = m mal c im Quadrat). Deren Wahrheitsgehalt leuchtet jedem ein, der nur ein bisschen mit der modernen Physik vertraut ist. Der grosse Forscher war der Ansicht, dass die Erklärung der Welt und ihrer Ursachen letztendlich ganz einfach sein muss und dass eine Weltformel nicht wahr sein kann, wenn sie nicht einfach ist.
Um den Begriff der Relativität der Zeit auf einfache Weise zu erklären, sagte Einstein: "Wenn man einem netten Mädchen den Hof macht, erscheint einem eine Stunde wie eine Sekunde. Wenn man auf glühenden Kohlen sitzt, erscheint einem eine Sekunde wie eine Stunde. Das ist Relativität."
Als Max PLANCK in den 30er Jahren in Lausanne an einem internationalen Physikerkongress einen Vortrag hielt über seine Quantentheorie, glaubten die meisten Wissenschaftler ihm nicht, weil ihnen die Lösung zu einfach schien. Dennoch blieb er, der erst später Anerkennung und Zustimmung fand, bei seiner Erkenntnis, indem er die Meinung vertrat: "Wenn ein Wissenschaftler einem einfachen Menschen auf der Strasse seine Erkenntnisse nicht so einfach erklären kann, dass dieser sie versteht, dann müssen sie falsch sein, denn die Natur funktioniert auf den denkbar einfachsten Grundsätzen." So ist die ganze materielle Welt aus der Verbindung von nur drei einfachen Bausteinen aufgebaut, nämlich aus Proton, Neutron und Elektron. Dieser Einfachheit begegnen wir vielfach auch in der vom Menschen geschaffenen Technik. Wer von den Abertausenden, die täglich mit dem Computer arbeiten und dessen Arbeitsweise für hochkompliziert halten, sind sich bewusst, dass die gesamte Computersprache auf den beiden Zeichen 0 und 1 aufgebaut ist? Diese kleinste Einheit des binären Systems heisst Bit.
Viele Erfindungen bestechen in der Regel durch ihre Einfachheit. So etwa ist das Besondere der bekannten Swatchuhr, die in den vergangenen Jahren zu einem riesigen Verkaufserfolg führte und die schwer angeschlagene Uhrenindustrie in der Westschweiz aus ihrer Krise herausholte, erstaunlich einfach. Die geniale Idee besteht nämlich darin, dass zum ersten Mal aus nur zehn Bestandteilen eine Uhr hergestellt wurde, statt aus rund hundert wie bisher. Dazu kommt das einfach gestaltete Zifferblatt und das griffige Markenzeichen "Swatch", eine simple Verkürzung der englischen Wörter "Swiss" und "watch" (Uhr).
Der leichtgläubige und unkritische Mensch misst gerne einer geschwollenen, mit Fachausdrücken und Fremdwörtern gespickten Aussage mehr Wahrheitsgehalt bei als einer einfachen Rede. Dies um so mehr, je weniger er sie versteht und begreift. So kommt Georg BAGBY zum Schluss: "Es gibt viele Leute, denen man sehr verwickelte und ganz unverständliche Theorien darstellen muss, damit sie ihnen der Aufnahme wert erscheinen." Diese Erfahrung machte auch Emil COUÉ. Er schrieb: "Es widerfährt mir öfter, dass ich meinen Zuhörern sage: Wenn ich Ihnen etwas sehr Kompliziertes auseinanderzusetzen hätte, so würden Sie mich ohne Zweifel viel besser verstehen, oder vielmehr Sie würden meinen, mich besser zu verstehen. Dies aber ist so einfach, dass es, eben wegen seiner Einfachheit, oft schwer zu erfassen ist. (Fussnote 2)
Dabei ist es doch eher so, dass ein Gedankengang um so fragwürdiger ist, je verworrener und umständlicher er vorgetragen wird. BISMARCKS Rat an seine Minister lautete daher. 'Je einfacher und schmuckloser Sie Ihre Gedanken vorbringen, desto stärker sind sie!' Grosse Weisheitslehrer wie Christus, Buddha oder Laotse haben daher mit Vorliebe einfache Erzählungen, Gleichnisse und Symbolgeschichten gewählt, um wichtige Wahrheiten zu vermitteln. Wer die grössten Dinge auf eine einfache Weise erklären kann, beweist wahre Bildung. So ist es geradezu das Merkmal eines guten Lehrers, dass er seinen Schülern schwierige Aufgaben auf einfache Art zu erklären versteht. Sehr häufig unterrichtet er gerade in jenen Fächern besonders erfolgreich, in denen er während seiner Schulzeit selber Mühe hatte und auf leichtfassliche Erklärungen angewiesen war.
Um die Fähigkeit der einfachen Aussage zu prüfen, können wir versuchen, einen Zeitungsbericht in ein Telegramm zu verwandeln, das nur das Allernötigste enthalten soll. Wir werden erstaunt sein, mit wie wenig Worten sich etwas Wichtiges sagen lässt. Eine immer noch gültige Stilregel in einem alten Duden heisst daher. "Wo du drei Wörter hintereinander gesetzt hast, weil du im ersten Eifer nicht genug tun konntest, da prüfe, ob nicht zwei genügen oder gar eins." (Fussnote 3)
Der Burmese U THANT, früherer UNO-Generalsekretär, gab seinem Chefbeamten den Auftrag, für ihn eine Rede vorzubereiten. U Thant stellte fest, nachdem er den Entwurf durchgelesen hatte, dass dieser zahlreiche ihm unverständliche Formulierungen enthielt wie "ökonomisches Aequilibrium". Der Generalsekretär bat nun um die Erklärung dieser Fremdwörter. Nachdem Muller sie ihm gegeben hatte, sagte U Thant. "Gut, wenn Sie es so einfach erklären können, warum sagen Sie es denn nicht genau so im Redetext? Sehen Sie, ich bin ein einfacher Mann und werde zu einfachen Menschen sprechen. Wenn ich selber nicht verstehe, was ich da sage, werden sie es auch nicht tun. Ich bin der Meinung, dass man sich schlicht und einfach ausdrücken sollte, wenn man eine Welt erschaffen will, in der sich Menschen gegenseitig besser verstehen. Es gibt nichts auf der Welt was sich nicht auf einfache Weise erklären liesse. Und wenn es das nicht tut, so ist es nicht wert, dass man darüber spricht, weil es in keinem Zusammenhang mit den Bedürfnissen des Menschen steht." (Fussnote 4)
Allerdings gibt es auch eine negative Form der Vereinfachung. In der Psychologie nennt man diese "Reduktionismus". Es ist dies der unzulässige Versuch, etwas Nebensächliches zur Hauptsache zu machen. Zumeist gebraucht man dabei die Formel "Nichts anderes als ... " Hierzu einige Beispiele: "Der Mensch ist nichts anderes als ein höher entwickeltes Tier" (Darwin), "Gedanken sind nichts anderes als Exkremente des Gehirns" (Nietzsche), "Liebe ist nichts anderes als ein sexuelles Phänomen" (Freud), "Diese Menschheit ist nichts weiter als eine Hautkrankheit des Erdenballs" (E. Kästner). Vor derartiger Simplifizierung will uns ein Wort von Papst Johannes XXIII, mahnen: "Vereinfache das Komplizierte, aber mache das Einfache nicht kompliziert!"
Bei der allzu vereinfachenden Denk- und Ausdrucksweise geht oft die Ganzheit verloren. Diese Gefahr liegt auch in der allzu einseitigen Spezialisierung in einem bestimmten Fach- oder Wissensgebiet. Mit recht meinte der Schweizer Astronom Fritz ZWICKY, langjähriger Forscher im Mount Palomar-Observatorium in Kalifornien: "Ein Spezialist ist ein Mensch, der von immer weniger immer mehr und vom Ganzen nichts versteht. "
Die höchsten Weisheiten beruhen nicht auf Vielwissen, sondern auf einfachen Einsichten in ewig gültige Wahrheiten, die ihrerseits auch wiederum höchst einfach sind. Je älter wir werden, kommen wir auf Grund unserer Lebenserfahrung zum Schluss, dass so vieles unwesentlich und zu vernachlässigen ist, und dass das, was wirklich gilt, an einer Hand abzuzählen ist. So schrieb der grosse Menschenkenner C. G. JUNG im hohen Alter von über achtzig Jahren: "Je älter ich werde, desto tiefer bin ich beeindruckt von der Vergänglichkeit und Unsicherheit unserer Erkenntnis und desto mehr suche ich Zuflucht bei der Einfachheit unmittelbarer Erfahrung, um den Kontakt mit den wesentlichen Dingen nicht zu verlieren". (Fussnote 5)
Bemühen wir uns also in der Nachfolge grosser Menschen um eine einfache Weise unseres Denkens, unserer Lebensart und unseres sprachlichen Ausdrucks. GOETHE lässt Doktor Faust zu Wagner sprechen:

Sei Er kein schellenlauter Tor!
Es trägt Verstand und rechter Sinn
mit wenig Kunst sich selber vor.
Und wenn's euch ernst ist, was zu sagen,
ist's nötig, Worten nachzujagen? -
Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
in denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,
sind unerquicklich wie der Nebelwind,
der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise:

Fussnote 1: Korrodi, Eduard, Goethe im Gespräch. Manesse Verlag, Zürich 1944, S. 436-437.
Fussnote 2: Coué, Emil, Was ich sage. Schwabe Verlag, Basel, 5. Auflage 1977, S.46.
Fussnote 3: Geissler, Ewald, Vom deutschen Stil, in: Der Grosse Duden. Stilwörterbuch, Leipzig 1938, S. 13.
Fussnote 4: Muller, Robert, Ich lernte zu leben. Dianus-Trikont Verlag, München 1985, S. 154-155.
Fussnote 5: Wehr, Gerhard, Selbsterfahrung mit C.G. Jung. Pattloch Verlag, Augsburg 1993, S.8.


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Letzte Änderung am 16. April 2000