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Geisteswissenschaft - Philosophie / Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Juli/Aug. 1999, Nr. 4, IV. Jahrgang, S. 243 ff.)

Lebenshilfe - Das Leben lieben

Der junge Albert SCHWEITZER, kaum acht Jahre alt, ging an einem Sonntagmorgen mit seinen Kameraden auf die Spatzenjagd. Wie er gerade seine Schleuder auf einen Sperling ansetzen wollte, begannen in der benachbarten Pfarrkirche von Günsbach die Glocken zu läuten. Entsetzt und beschämt warf er seine Mordwaffe weit weg und nahm sich vor, nie mehr gegen ein Leben anzutreten. In diesem Augenblick wurde grundgelegt, was der grosse Menschenfreund später seine Philosophie von der "Ehrfurcht vor dem Leben" nannte. (1)
Das Phänomen Leben ist in hohem Masse achtens- und liebenswert, denn es ist mit Sicherheit die erstaunlichste Errungenschaft unseres Universums. Wenn wir bedenken, dass auch heute noch kein Wissenschaftler schlüssig erklären kann, was Leben ist und wie dieses auf unserem Planeten vor rund zwei Milliarden Jahren entstanden ist, bleibt dem einen nur das unwissende Staunen, dem anderen die gläubige Annahme, dass eine göttliche Intelligenz da im Spiele war. An einen blinden Zufall ist dabei wohl nicht zu denken, denn allein die Informationen, die in einem winzigen Bakterium enthalten sind, entsprechen derjenigen eines mehrbändigen Lexikons (2). Eher wäre es denkbar, dass sich aus einer Handvoll Buchstaben, die wir in die Luft wirbeln, zufällig ein sinnvoller Satz zusammenfügt, als dass aus zehn Aminosäuren durch Zufall ein Eiweissmolekül als Baustein des Lebens entsteht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche intelligente Lösungen von selbst ergeben, ist äusserst gering, selbst wenn man diesem Zufallsspiel viele Milliarden an Jahren einräumen würde (3).
Ob die ersten Lebenskeime auf unserem Planeten entstanden oder ob sie aus den Tiefen des Weltraums durch Meteore zu uns gelangt sind, ist für die Entstehungsgeschichte des Lebens einerlei. Jedenfalls ist es bis heute in keinem Labor der Welt gelungen, nur eine einzige lebende Zelle zu schaffen. Auf unserer Erde hat die Natur über hunderte von Jahrmillionen verschiedenartige Lebensformen hervorgebracht, ausprobiert, angepasst oder wieder verworfen. Am Ende der langen Entwicklungsreihe steht der Mensch, gemäss dem Dichterwort, das GOETHE den Thales in den Felsenbuchten des ägäischen Meeres sprechen lässt: "Da regst du dich nach ewigen Normen / Durch tausend, abertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit" (Faust II). Gleich einer olympischen Flamme wird das Leben von Generation zu Generation weitergetragen bis auf den heutigen Tag.
Wer das Leben als ein Wunder der Schöpfung sieht, liebt es in seiner Vielfalt und Vielgestalt. Er empfindet Ehrfurcht vor der ganzen Natur und Kreatur. Er gewährt dem Leben, was es braucht, um zu überleben. Bei allen Lebewesen gibt es ein intelligentes Steuerungs- und Sicherungssystem, welches dafür sorgt, dass lebensnotwendige und lebenserhaltende Bedürfnisse seit Jahrtausenden das Schwungrad des Lebens in Bewegung halten. Auch der Mensch bildet da keine Ausnahme.
Der amerikanische Psychologe Abraham MASLOW (1908 -1970) entwarf eine Stufenpyramide, um die menschlichen Bedürfnisse schematisch darzustellen (4). Deren Fundament bilden die körperlichen Grundbedürfnisse, nämlich das Verlangen nach Nahrung, Atmung, Bewegung und sexueller Befriedigung. Auf der zweiten, seelischen Stufe erleben wir die Ansprüche nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Geborgenheit, verbunden mit dem Wunsch, von anderen anerkannt und geliebt zu werden. Erst auf der dritten Stufe stellt sich das Streben nach geistiger Orientierung ein, nämlich nach dem Erleben und Verwirklichen des Schönen, Wahren und Guten im ästhetischen, kulturellen und spirituellen Sinne.
Wie bei einem Hausbau, so ist auch bei dieser Bedürfnispyramide jede niedere Stufe die tragende Voraussetzung für die nächstfolgende. Hierbei ist die Mahnung Nietzsches zu beachten: "Überspringe keine Stufe, denn das verzeiht dir keine Stufe". Wenn die vitalen Grundbedürfnisse der untersten Stufe zu kurz kommen, kann man nicht erwarten, dass sich der Mensch zu höheren Zielen aufrafft, es sei denn, er schränke diese Befriedigungsformen freiwillig ein, um seine Energien auf einer höheren Stufe einzusetzen. In diesem Fall ist der Triebverzicht der Preis für die Kultur. Aus einem Naturbaum wird auch dann erst ein Kulturbaum, wenn man seine niederen Triebe und Schösslinge zurückschneidet oder hochbindet. Dem Menschen gelingt dies nur im freigewählten Verzicht. Ansonsten meldet sich die Triebnatur recht aufdringlich und fordert ihren Tribut. "Erst kommt das Fressen, dann die Moral" pflegte Bertold BRECHT zu sagen. Die alten Römer sprachen dies auf feinere Weise aus mit ihrem "Primum vivere, deinde philosophari" - zuerst leben, dann philosophieren.
Wer das Leben liebt, kann die natürlichen Freuden, die es uns bietet, bejahen und massvoll geniessen. Wer hingegen nicht geniessen kann, der wird bald ungeniessbar. Wer jedoch ausschliesslich auf Lustgewinn aus ist, der ist ein Hedonist. Das griechische Wort für Lust heisst "Hedond". Die Hedonisten waren im Altertum jene Philosophen, die empfahlen, jeden Lustgewinn in vollen Zügen zu geniessen, um ja nichts zu verpassen für das kurze Leben und den langen Tod. Ihr Grundsatz hiess, und der gilt für viele noch heute: Die Lust ist Anfang und Ziel des glücklichen Lebens.
Wer sich aber alle Lust- und Lebensfreuden versagt, fällt leicht in das andere Extrem, nämlich in das der Stoiker, die vor zweitausend Jahren als ideale Lebenskunst die "Apathia" lehrten, nämlich das Bestreben, dem Glück wie dem Unglück gegenüber eine gleichmütige, ja gleichgültige Haltung zu bewahren. Diese eher lebensfeindliche Einstellung ist jedem Lusterleben abhold und führt nicht selten in eine neurotische Abwehrhaltung.
Nun ist der Mensch nicht ein reines Lustwesen und das Leben gleicht auch nicht einem Vergnügungspark oder Plauschgarten. Wir brauchen aber auch nicht Erich KÄSTNER zuzustimmen, der in einer pessimistischen Anwandlung schrieb: "Da ist das Verhängnis zwischen Empfängnis und Leichenbegängnis: nichts als Bedrängnis." Die gesunde Lebensweise empfiehlt, nach der goldenen Mitte zu streben, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen.
Die grosse Mystikerin Theresia von AVILA (1515 -1582) sah dies so: "Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn Fasten, dann Fasten."
Das Leben ist Lust und Last, ist Wonne und Weh zugleich. Dem Lustprinzip stellt sich das Realitätsprinzip entgegen, das von uns auch Pflichtleistungen abverlangt. So empfiehlt es sich, das Leben als Aufgabe anzunehmen und zu lieben. Nur wenn wir diesem Anspruch genügen, werden wir es auch als liebenswert erfahren, denn "Das Leben ist nicht eine Lust, das Leben ist nicht eine Last, das Leben ist eine Aufgabe." (Goethe). Die Liebe zum Leben erwächst uns aus der frohen Hingabe an einen Auftrag, an eine sinnvolle Lebensaufgabe und aus der Gewissheit, nicht umsonst gelebt zu haben. Wer da Mühe hat, sein eigenes Leben zu bejahen und zu lieben, der frage und sage sich: Wieviele Menschen sind froh, dass du lebst, dass du da bist, dass es dich gibt? Wievielen hat dein Leben etwas gegeben, um das sie froh und dankbar sind? Wievielen war deine Art zu leben und deine Art zu lieben ein Ansporn, es dir gleich zu tun? Wieviele konnten sich in freudvollen Tagen mit dir freuen und in leidvollen Tagen auf deine Hilfe und dein Verständnis zählen?
Die innere Sicherheit, dass wir von unseren Mitmenschen gebraucht werden, macht das Leben liebenswert. Ebenso tut es das Bewusstsein, dass wichtige Aufgaben von uns erledigt werden wollen, damit unsere Welt besser und liebeerfüllter wird.
Der Schlüssel zu einem lebenswerten Leben ist die Fähigkeit, in ihm das Liebenswerte zu erfahren. Es gibt so viel Schönes in unserer Welt, das unserer Zuneigung wert ist: Blumen, die am Wege blühn, der zutrauliche Blick eines Tieres, die warme Hand eines Menschen, der uns spüren lässt, dass er es gut mit uns meint. Wer aber sein Leben liebt, erfüllt es mit Daseinsfreude und verleiht ihm den Glanz der Unsterblichkeit, unabhängig davon, wieviele Jahre es dauert.
Wer sich dem Leben nicht vorenthält, dem wird es immer wieder gelingen, sich auf dessen Sonnenseite zu stellen. "Selbst in meinen schlimmsten Augenblicken habe ich nie aufgehört, das Leben leidenschaftlich zu lieben" schrieb C.F. RAMUZ in seinem Tagebuch (5).
Sogar ein schweres und leidvolles Leben kann man lieben. Ein grossartiges Beispiel hierfür ist Ruth RIESER, die mit dreizehn Jahren an Kinderlähmung erkrankte und nun seit Jahrzehnten fast vollständig gelähmt ist. Sie beschreibt in ihrem Buch "Ich liebe mein Leben trotz allem" (6), wie sie ihrem Dasein trotz schwerster körperlicher Behinderung einen hohen Wert abgerungen hat, unter anderem indem sie fünf Fremdsprachen erlernt, sich in viele Wissensgebiete eingearbeitet und zwei Bücher geschrieben hat. Auch ist sie eine erfolgreiche Mundmalerin geworden.
Das Leben ist wie eine Flamme, die brennend Licht und Wärme verstrahlt. Dies meint die folgende Symbolgeschichte von Gabriele UNKELBACH:
Es kam der Tag, da sagte das Zündholz zur Kerze., "Ich habe den Auftrag, dich anzuzünden." "0 nein", erschrak die Kerze, "nur das nicht. Wenn ich brenne, sind meine Tage gezählt. Niemand mehr wird meine Schönheit bewundern".
Das Zündholz fragte: "Aber willst du denn ein Leben lang kalt und hart bleiben, ohne zuvor gelebt zu haben?"
"Aber Brennen tut doch weh und zehrt an meinen Kräften", flüsterte die Kerze unsicher und voller Angst.
"Es ist wahr", entgegnete das Zündholz. "Aber das ist doch das Geheimnis unserer Berufung: Wir sind aufgerufen, Licht zu sein. Was ich tun kann, ist wenig. Zünde ich dich aber nicht an, so verpasse ich den Auftrag meines Lebens. Ich bin dafür da, Feuer zu entfachen. Du bist eine Kerze. Du sollst für andere leuchten und Wärme schenken. Alles, was du an Schmerz und Leid und Kraft hingibst, wird verwandelt in Licht. Du gehst nicht verloren, wenn du dich verzehrst. Andere werden dein Feuer weitertragen. Nur wenn du dich versagst, wirst du an deiner Bestimmung vorbeigehen und niemand wird sich an dir freuen."
Da besann sich die Kerze eine Weile. Schliesslich spitzte sie ihren Docht und sprach voller Erwartung: "Ich bitte dich, zünde mich an!".

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise:

(1) Bentley, Jarnes: Albert Schweitzer. Arena Verlag, Würzburg 1991, S. 16.
(2) Rifkin J.: Genesis zwei - Biotechnik - Schöpfung nach Mass. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg, 1986, S. 139.
(3) Mussard, Jean: Gott und der Zufall. Origo Verlag, Zürich, Bd.1, 1965, S.91 ff.
(4) Maslow, Abraham: Motivation und Persönlichkeit. Walter Verlag, Olten, Freiburg i.Br., 1977, S. 74-162.
(5) Ramuz, C.F.: Tagebuch 1896-1947. Verlag Huber, Frauenfeld, Stuttgart, 1982, S. 431.
(6) Rieser, Ruth: Ich liebe mein Leben trotz allem. Kunstverlag Au, 1987.



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Letzte Änderung am 18. April 2000