[ Startseite ]  -   [ Wegbegleiter ]  -   [ Zurück ]  -   [ Weiter ]  -   Download -  Kontakt

Geisteswissenschaft - Philosophie / Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom März 1997, Nr. 2, II. Jahrgang, S. 58ff.)

Die Lichter umstellen

ÜBERSICHT: "Die Lichter umstellen" heisst in der Symbolsprache religiöser und spiritueller Riten: den Standpunkt wechseln, die Einstellung verändern, einen neuen Gesichtspunkt gewinnen. Dies ist von Zeit zu Zeit notwendig, um die ganze Wahrheit zu erfahren, denn zumeist sehen wir einseitig und schauen einäugig. Sobald wir uns nur die Gesinnung, die Ansicht und die Haltung eines anderen Menschen zu eigen machen, sieht die Welt für uns sogleich etwas anders aus. Auf diese Weise könnten wir uns so manchen Meinungsstreit ersparen.

Drei Brüder bestiegen einmal einen hohen Berg, um dort den Sonnenaufgang zu bewundern. Im ersten Strahl der aufgehenden Sonne sahen sie an einem Strauch einen Tropfen Tau glitzern. "Seht doch", rief der eine der Brüder, welcher unmittelbar vor dem Strauch stand, "wie der Tautropfen strahlt. Wie schön blau ist er. Er leuchtet wie ein Saphir!" - "Du irrst Dich", gab der zweite zurück, der nach rechts etwas abseits stand. "Der Tropfen, den Du siehst, ist nicht blau, sondern rot wie ein Rubin. Herrlich, wie er funkelt!" - "Aber meine Brüder", warf der dritte ein, der mehr links neben dem Strauch stand, "wie schlecht steht es doch um eure Augen! Der Tautropfen ist weder blau noch rot, sondern zartgrün wie ein Smaragd." Da gerieten die drei Brüder ob ihrer unterschiedlichen Sichtweise miteinander in heftigen Streit und vergassen, den Aufgang der Sonne zu bewundern, wegen dem sie eigentlich auf den Berg gestiegen waren.
Wenn wir die Lichter umstellen, wird es uns bewusst, wie alles in unserer Welt seine zwei Seiten hat. Diese sind untereinander austauschbar. Nie ist etwas nur gut oder nur schlecht. Es kommt nur auf den Standpunkt an, von dem aus wir etwas sehen. Da also alles zweiseitig und doppelwertig ist, fragen und sagen wir uns bei jedem unerwünschten Ereignis: Wer weiss, wozu das gut ist? Damit geben wir diesem eine positive Wende zum Guten hin und gleichzeitig stellen wir uns auf die Sonnenseite des Lebens. Diese gedankliche Kehrtwendung wendet die Logotherapie an mit der Methode der Einstellungsmodulation. Diese sei an einem Beispiel erläutert:
Vor einem Vortrag kam eine Frau mit einem älteren Herrn daher, den sie am Arm führte. "Wissen Sie", sagte mir die Dame, "dieser Herr hat vor einem halben Jahr seine Frau durch den Tod verloren. Noch immer kann er sich damit nicht abfinden. Er ist völlig untröstlich und verzweifelt. Daher habe ich ihn zum Vortrag mitgenommen." In Anlehnung an ein Therapiegespräch von Dr. Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie (1), fragte ich den Trauernden: "Wie wäre es denn gewesen, wenn Sie vor Ihrer Frau gestorben wären?" - "Das ist nicht zum ausdenken! Meine Frau hätte das nicht verkraften können." Nun gab ich ihm zu bedenken: "Überlegen Sie sich doch einmal, wie gut es für Ihre Frau war, dass sie zuerst gehen konnte. Sie haben Ihr damit gewiss viel Leid erspart und haben ihr einen grossen Dienst erwiesen dadurch, dass Sie zurückgeblieben sind." Da schaute der Mann mich gross und erstaunt an und begriff, dass es doch sehr darauf ankommt, mit welcher Einstellung und von welcher Seite aus man ein Geschehen ansieht.
Entscheidend ist nicht so sehr, welche Erfahrungen wir machen, ob freudvolle oder leidvolle. Wichtig allein ist unsere Einstellung dazu. Es ist erstaunlich, was wir alles ohne bleibende seelische Verletzungen verkraften können, wenn wir nur eine positive Einstellung hierzu gewinnen ohne zu bedauern, ohne nachtragend zu sein und ohne mit dem eigenen Schicksal zu hadern, einzig allein mit der Frage: Wer weiss, wozu das gut ist? Wer imstande ist, in diesem Sinne seine Lichter umzustellen, der lebt wirklich positiv und beweist, dass er kein Talent hat, um unglücklich zu sein. Eine verneinende Einstellung führt zu einem unzufriedenen, sinnleeren und trostlosen Lebensgefühl, eine bejahende Haltung dagegen verleiht Lebenslust und Daseinsfreude.
Wie eine veränderte Sicht zu gewinnen ist, zeigt symbolisch die 12. Tarotkarte mit der Bezeichnung "Der Hängende". Wir sehen da einen jungen Mann, der mit dem Fuss an einen Balken gebunden kopfüber nach unten hängt. Sein Blick ist offen und nach oben gerichtet, als wolle er uns sagen: schaut die Welt mal von unten an, wechselt den Gesichtspunkt und gewinnt dadurch eine neue Einsicht, ja sogar ein verändertes Bewusstsein. Die umgekehrte Sichtweise lässt uns so manches in einem anderen Lichte erscheinen oder von einer anderen Warte aus beurteilen.
Vor kurzem hörte ich von einem Mann, den die Psychiatrie mit der Diagnose "Schizophrenie" bedacht hatte. Von ihm wurde mir berichtet, dass er jeweils in Tränen ausbrach, wenn er hörte, dass ein Kind geboren wurde, und dass er lachte, wenn er vernahm, ein Mensch sei gestorben. Da kann man sich wahrhaft fragen: Ist dieser Mann tatsächlich verrückt, oder sind wir es, die sogenannten "Normalen", die wir zumeist eine falsche Einstellung haben zum Geborenwerden und zum Sterben. Eine esoterische Weisheit heisst daher: "Als aus der Raupe ein Schmetterling wurde, da weinten die Erdenwürmer." - "Es ist sehr wohl möglich", schrieb C.G. Jung, "dass wir die Welt von der verkehrten Seite anschauen und dass wir die richtige Antwort finden könnten, wenn wir unseren Standpunkt änderten und sie von der anderen Seite her betrachteten, das heisst nicht von aussen, sondern von innen." (2)
Nicht zufällig ist die Karte "Der Hängende" in der Mitte der Grossen Arkana des Tarot plaziert. Sie bildet in diesem Lebensstil einen Scheitelpunkt, der auf die grosse Wende um die Lebensmitte hinweist. Er steht nicht nur für das, was wir "Midlife Crisis" nennen, sondern auch für die entscheidende Wendezeit zwischen dem 36. und 42. Lebensjahr. Dieser Lebensabschnitt bringt häufig einschneidende Veränderungen und Umstellungen im privaten und beruflichen Bereich. An diesem Punkt der Lebensuhr muss manches sterben, was bisher Bestand hatte.
In vielen Fällen entsteht zwar der Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung, aber nicht selten wird diese verhindert durch schicksalshafte Fügungen oder äussere Lebensumstände, in die man sich selbst hineinmanöveriert hat. Der Mensch fühlt sich dann wie in einer Zwangsjacke oder wie in einer ausweglosen Sackgasse festgefahren. Jetzt ist es an der Zeit, die Lichter umzustellen, und seine Einstellung sich selber und dem Leben gegenüber zu ändern. Die Lösung wird dann nicht unbedingt heissen: Berufswechsel, Wohnortwechsel oder Partnerwechsel, sondern Veränderung seiner inneren Gesinnung und Anschauung. Nicht alles, was verändert werden kann, darf geändert werden. Da gilt es, das Gebet des Theosophen Friedrich Christoph Oetinger (1702 - 1782) zu beherzigen: "Gott gebe mir die Kraft, die Dinge anzupacken, die zu ändern sind. Gott gebe mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen und anzunehmen, die nicht zu ändern sind. Gott gebe mir die Einsicht, das eine vom anderen zu unterscheiden."
In diesen Jahren muss der Mensch ein gültiges Welt- und Menschenbild gewinnen, das ihm ein solides Fundament hergibt, um seine Zukunft darauf zu bauen und seinem Dasein einen tieferen Sinn zu geben. Es gilt, die bisherige Verhaltensweise zu überdenken, ja in Frage zu stellen, die Blickrichtung zu ändern und überlebte Denkmuster aufzugeben. Deshalb schreibt C. G. Jung: "Von der Lebensmitte an bleibt nur der lebendig, der mit dem Leben sterben will. Denn das, was in der geheimen Stunde des Lebensmittags geschieht, ist die Umkehr der Parabel, die Geburt des Todes. Das Leben der zweiten Lebenshälfte heisst nicht Aufstieg, Entfaltung, Vermehrung, Lebensüberschwang, sondern Tod, denn sein Ziel ist das Ende. Seine Lebenshöhe nicht wollen ist dasselbe wie sein Ende nicht wollen. Beides heisst: Nicht-leben-Wollen. Nicht-leben-Wollen ist gleichbedeutend mit Nicht-sterben-Wollen. Werden und vergehen ist dieselbe Kurve." (3)
Von der astrologischen Psychologie werden Sonne und Mond als die zwei Lichter des Himmels bezeichnet. In der Alchemie stehen diese beiden Gestirne für das männliche und das weibliche Prinzip im Menschen. Die Lichter umstellen würde hier heissen, dass der Mann auch den weiblichen Anteil in seinem Unbewussten (Anima) und die Frau den männlichen Teil ihrer unbewussten Seele (Animus) erkennen und bewusst leben soll. Wenn sich heute fortschrittlich denkende Frauen unter dem Einfluss ihres erstarkenden Eigenwertgefühls mit dem Symbol der goldenen Sonne schmücken, wollen sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie die Lichter umstellen und sich nicht mehr mondhaft mit der althergebrachten Rollenverteilung abfinden, wonach der Mann verdienen, die Frau aber dienen soll. Im Selbstverständnis der Geschlechter zeichnet sich immer deutlicher eine Wende ab.
Auf einen bemerkenswerten Rollentausch mit oft tragischem Ausgang weist C. G. Jung hin: "Im modernen Gesellschaftsleben, besonders in Amerika, ist das break down, der nervöse Zusammenbruch, nach dem vierzigsten Jahr ein ungemein häufiges Erlebnis. Untersucht man die Opfer genauer, so sieht man, dass das, was zusammengebrochen ist, der bisherige, männliche Stil ist, und zurückgeblieben ist ein verweiblichter Mann. Umgekehrt beobachtet man in denselben Kreisen Frauen, welche in diesen Jahren eine ungemeine Männlichkeit und Härte des Verstandes entwickeln, welche Gefühl und Herz in den Hintergrund drängen. Sehr häufig sind diese Verwandlungen begleitet von Ehekatastrophen aller Art, denn es ist nicht allzu schwer, sich vorzustellen, was es dann gibt, wenn der Mann seine zarten Gefühle und die Frau ihren Verstand entdeckt." (4)
Noch offensichtlicher wird in unserer Zeit eine tiefgreifende Wandlung im kollektiven Denken. Dies hängt zusammen mit jener Zeitenwende, der wir in wenigen Jahren mit dem Ende eines Jahrzehnts, eines Jahrhunderts, eines Jahrtausends und eines grossen Weltenmonats entgegengehen. Gegenwärtig vollziehen wir, kosmisch gesehen, den Wechsel vom Fischezeitalter zum Wassermannzeitalter. Jedes Zeitalter umfasst rund 2100 Jahre. Die letzten beiden Jahrtausende standen unter dem Zeichen einer Weltveränderung im äusseren, das kommende Zeitalter muss eine innere Veränderung im Bewusstsein der Menschen herbeiführen. Passend hierzu ist der Kalenderspruch, den ich dieser Tage las: "Ich wollte die Welt verändern, doch es veränderte sich nichts. Da änderte ich mich selbst, und siehe da, es veränderte sich die Welt." Die modernen Schlagwörter wie "Paradigmenwechsel" und "Mut zum Aufbruch" sind deutliche Signale nicht nur für weltweite Krisenerscheinungen, sondern auch für die Versuche, im politischen und gesellschaftlichen Denken die Lichter umzustellen.
Albert Einstein hat es schon vor Jahrzehnten angekündigt: "Auf die Füsse kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen lässt, dass ihr Heil nicht in neuen Massnahmen, sondern in neuen Gesinnungen besteht." Sicher wird in unserer schnellebigen Zeit so manches nicht von Bestand sein. Was heute noch gültig ist, kann morgen schon überholt sein. Trotz grossartiger Zukunftserwartungen darf nicht alles Bisherige zum alten Eisen geworfen werden. Es gilt, das Bewährte und Gültige in die Zukunft hinüberzuretten.
Der Dichter Rilke mahnt uns:

Oh das Neue, Freunde, ist nicht dies,
dass Maschinen uns die Hand verdrängen.
Lasst euch nicht beirren von Übergängen,
bald wird schweigen, wer das Neue pries.
Denn das Ganze ist unendlich neuer
als ein Kabel und ein neues Haus.
Seht, die Sterne sind ein altes Feuer
und die neuen Feuer löschen aus.

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise:
(1) Frankl, Viktor, Logotherapie und Existenzanalyse, Piper Verlag, Zürich, München 1987, S. 236.
(2) Wehr, Gerhard, C.G. Jung in seinen letzten Lebensjahren, in: Selbsterfahrung durch C.G. Jung, Pattloch Verlag, Augsburg 1993, S. 8
(3) Jung, C.G., Seele und Tod, Gesammelte Werke, Band VIII, Walter Verlag, Olten 1971, S.466.
(4) Jung, C.G., Die Lebenswende, Gesammelte Werke, Band VIII, Walter Verlag, Olten 1971, S. 454-455.



[ Startseite ]  -   [ Wegbegleiter ]  -   [ Home ]  -   [ Zurück ]  -   [ Weiter ]  -  Download -  Kontakt

Letzte Änderung am 21. Juli 2000