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Geisteswissenschaft - Philosophie / Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Juli 1997, Nr. 4, II. Jahrgang, S. 162 ff.)

Spiegelbilder der Seele

Vor vielen Jahren stand in Indien mitten im Urwald ein heiliger Tempel, dessen Mauern in purem Golde erglänzten. Seine Innenwände waren mit tausend Spiegeln ausgekleidet. Da geschah es einmal, dass sich ein Hund in diese Tempelanlagen hinein verirrte. Er freute sich an dem prachtvollen Bauwerk und glaubte, dessen ganzer Reichtum gehöre nun ihm allein. Wie er in die grosse Halle der tausend Spiegel trat, sah er sich dort plötzlich tausend Hunden gegenüber, die ihn genau so grimmig anschauten wie er sie. Da er fürchtete, die tausend Hunde könnten ihm das Gold des Tempels streitig machen, fletschte er die Zähne und fing an, wütend zu bellen. Da bellten die anderen Hunde genau so zurück und auch sie zeigten ihr Gebiss. Nun steigerte sich die Wut des verirrten Hundes derart, dass er zornig einen der tausend Hunde anspringen wollte, dabei raste er gegen die gläsernen Spiegel und brach sich das Genick. - Nach langer, langer Zeit kam wieder ein verlaufener Hund zu jenem vergessenen Tempel im Urwald. Wie er in den hohen Spiegelsaal kam, sah auch er sich tausend Hunden gegenüber. Erfreut darüber, in der entlegenen Wildnis auf Seinesgleichen zu stossen, fing er an, mit dem Schwanze zu wedeln, und alle tausend Hunde wedelten friedlich zurück. Dies gefiel ihm so sehr, dass er immer wieder zu jenem Tempel zurückkehrte, um seine freundlichen Artgenossen wiederzusehen.
Diese Symbolgeschichte lehrt uns, dass wir unsere Aussenwelt stets gemäss unserer eigenen Innenwelt erleben. Wir begegnen fortwährend den Spiegelbildern unserer Seele. Daher kommt es, dass der positiv denkende Optimist alles wie durch eine rosarote Brille sieht, der negativ denkende Pessimist aber ein finsterer Schwarzseher ist. Wir schaffen die farbige Stimmung unserer Erlebniswelt selber durch unsere Gesinnung. - Ein Mann, der wegen einer Magenblutung in ein Spital eingeliefert wurde, sagte erbost zum Chefarzt: "Eigentlich sollte ich die Fotografien meiner Mitarbeiter an die Wände des Krankenzimmers heften, denn diese sind schuld, dass ich jetzt arbeitsunfähig hier liege." Wie leicht sind wir versucht, die Schuld an unseren eigenen Verfehlungen anderen in die Schuhe zu schieben. Das ist sowohl in der hohen Politik so als auch im alltäglichen Umgang mit unseren Mitmenschen. Die Dummen, die Bösen, die Gemeinen, das sind immer die anderen. Dieses Sündenbock-Denken zielt darauf ab, sich selber reinzuwaschen. In der Bibel können wir nachlesen, wie die Israeliten am Versöhnungstag ihre Sünden einem armen Ziegenbock aufhalsten, um ihn dann in die Wüste zu jagen (3 Mo 16,1-34). Wenn sich der zum Sündenbock gestempelte Mensch selber als Versager und Sünder vorkommt, entwickelt sich bei ihm ein Sündenbock-Komplex. Er erlebt sich immer wieder als der "dumme August", als das "schwarze Schaf", als der "Prügelknabe" und fängt an, sich selber schwere Vorwürfe zu machen. Im Extremfall kann dies zu einem regelrechten Versündigungswahn führen.
Sehr oft geschieht diese Schuldzuweisung unbewusst. Kleine Kinder und primitive Erwachsene, die noch im magischen Denken befangen sind, pflegen sogar unbelebte Gegenstände zum Bösewicht zu stempeln. So bezeichnet ein Kleinkind etwa den Tisch als "böse", wenn es seinen Kopf an dessen Kante oder Ecke angeschlagen hat. Gewisse Dinge scheinen uns manchmal wie verhext, wenn wir ungeschickt mit ihnen umgehen. Der Ängstliche vermutet hinter jedem Baum eine drohende Gestalt, wenn er nachts durch einen finsteren Wald geht. Wer sich unsicher und minderwertig fühlt, glaubt in seiner Umwelt genügend Beweise für seine Benachteiligung zu finden. All dies sind jedoch Spiegelbilder aus unserem Unbewussten, die wir in die Aussenwelt projizieren.
Auf solchen Projektionen beruhen auch unsere Vorurteile, die sich immer dann einstellen, wenn wir andere Menschen nicht nach ihrem tatsächlichen Verhalten, sondern gemäss unserer vorgefassten Meinung beurteilen. Eine voreilige Vorverurteilung wirft stets einen Schatten der Missgunst auf jenen, der sich vielleicht nicht einmal wehren und rechtfertigen kann. Wir sollten zunächst vor der eigenen Türe wischen, bevor wir den Besen einem anderen in die Hand geben. Dies meint ja auch die Geschichte vom Splitter im Auge des Nachbarn, der uns so leicht den Balken im eigenen Auge übersehen lässt (Mt 7,3). Der Psychotherapeut Ignace Lepp hat diesem moralischen Ärgernis ein ganzes Buch gewidmet.
Wer anderen immerfort Lug und Trug vorwirft, der nimmt es selber mit der Wahrheit nicht genau. Wer überall nur Bosheit wittert, der trägt den bösen Argwohn in sich. Wer sich von allen anderen nicht verstanden fühlt, dem mangelt es an Verständnis für andere. Wer allerorts nur Schmutz und Dreck sieht, dem fehlt es an innerer Sauberkeit. Wer fortwährend unzufrieden ist mit seinen Mitmenschen, der entbehrt des inneren Friedens. Wer ständig moralisierend über andere den Stab bricht, dem gebricht es an eigener Moral. Wer immer wieder sich durch andere angegriffen fühlt, der trägt eine Menge von Aggressionen in seinem Unbewussten mit sich herum.
Nicht selten spiegeln wir eigene negative Seelenzustände auf unsere allernächsten Bezugspersonen: Kinder, Ehepartner, Eltern und Vorgesetzte. Ungewollt kreiden wir diesen Gedanken und Gefühle, Eigenheiten und Absichten an, die unsere eigenen sind. Was uns an anderen auf die Nerven geht, ist fast immer das, was wir selber uneingestanden selber auch sind oder haben. Unbewusst gelebte Unarten haben tatsächlich die Neigung von aussen zu uns zurückzukehren; ja, wir ziehen diese geradezu an, denn gleiches und gleiches gesellt sich gern. Eine Mutter sagte mir einmal: "Wenn ich bloss sehe, wie mein Bub seine Schuhe bindet, bekomme ich schon eine Wut." Dieser tat es nämlich auf die gleiche Manier wie sein Vater, der geschiedene Mann jener Frau. Es handelt sich dabei offenbar um eine seelische Allergie, die auf eigene Unverträglichkeit hinweist. Deshalb bekämpft mancher Vater seine eigene Schwäche im Sohn, manche Mutter kritisiert jene Untugend an ihrer Tochter, die sie gewiss nicht gestohlen hat. Auch Erwartungen, welche die Eltern ihren Kinder gegenüber hinsichtlich Schullaufbahn, Berufswahl und Partnerwahl hegen, beruhen nicht selten auf der Spiegelung eigener Wunschbilder, die sich bei ihnen selber nicht erfüllt haben.
Ein buntes Bild von Spiegelungen unbewusster Vorstellungsbilder begegnet uns in der Verliebtheit, die ja bekanntlich blind macht. Die "Liebe auf den ersten Blick" ist wohl in den allermeisten Fällen eine Projektion, in deren Licht man den Partner nicht sieht wie er ist, sondern so wie man ihn gerne hätte. Unheilvoll für eine Liebesbeziehung sind aber vor allem jene leidvollen Erfahrungsbilder, die aus einer enttäuschenden Elternbeziehung stammen und das Urvertrauen verletzten, so dass man später Mühe hat, Vertrauen zu geben und anzunehmen. Die alten Römer schon wussten: "Wem als Kind die Eltern kein Lächeln geschenkt, den würdigt weder ein Gott des Mahles noch eine Göttin des Lagers." Rainer Maria Rilke bekannte: "Ich kann kein Liebhaber sein, vielleicht weil mich meine Mutter nicht geliebt hat." Eine 27jährige Frau sagte mir kürzlich in der Sprechstunde: "Ich hasse alle Menschen, weil mich niemand liebt." Aus dem Beratungsgespräch ergab sich dann, dass jene junge Frau sich selber nicht lieben und annehmen konnte, weil sie sich selber als Kind von ihrer Mutter nicht angenommen fühlte. "Was als Liebe innen hätte verspürt werden sollen, wurde als Hass von aussen wahrgenommen" (Sigmund Freud). Diese schmerzende "Wunde der Ungeliebten" (3) kann oft erst in einer langwierigen Therapie geheilt werden, wo die tiefen und frühesten Zusammenhänge aufgedeckt und die Spiegelung verdrängter Erlebnisinhalte bewusst gemacht und verarbeitet werden. Neue Beziehungen laufen gerne nach altem Muster ab. Deshalb ist es notwendig, diese zu durchschauen und aufzulösen. Erst wenn der Mensch fähig und willig ist, sich selber auf gesunde Weise zu schätzen und auch zu lieben, kann er liebes- und partnerfähig werden. Der beziehungsgehemmte Mensch leidet fast immer an einem Mangel an Wertschätzung seiner selbst. Der Psychotherapeut P. Schellenbaum schreibt aus seiner Praxiserfahrung: "Wir erkennen den Ungeliebten daran, dass er da, wo er sich nicht kennt und liebt, in anderen Menschen spiegelt" und zwar in einer Form, die es ihm Mühe macht, sich anderen liebend zu nähern.
So werden die bewussten und unbewussten Seelenbilder zu Spiegelungen in unserer Umweltbegegnung. Wollen wir also die Welt mit anderen Augen sehen, müssen wir unsere inneren Vorstellungs- und Erlebnisbilder verändern, aufhellen. Unsere Aussenwelt kann sich nicht verbessern, ohne dass wir uns selber bessern. Das Heil kommt nicht von äusseren Massnahmen, sondern von inneren Gesinnungen und diese müssen sich zum Guten wandeln. Bedenken wir: In den Augen der Guten ist auch die Welt gut.
Auch jene Verhältnisse, die wir nach unserem Hinübergang in die jenseitige Welt vorfinden, sind Spiegelungen unserer eigenen Seele. Wir werden von jenen Zuständen angezogen, die wir durch unsere Gesinnungen ein Leben lang selber geschaffen haben. Da Diesseits und Jenseits sich lediglich durch die Wellenlänge unterscheiden, gelangen wir nach dem Tod in jene Schwingungswelt, die unserer selbstgeschaffenen geistigen Frequenz entspricht. So sehen sich die Liebenden unter ihresgleichen und die Hassenden ebenso, denn Himmel und Hölle sind in uns. Es ist wie bei einem Luftballon. Dieser steigt so weit in die Höhe, bis dessen innere Druckverhältnisse denjenigen der äusseren Atmosphäre entsprechen, dort bleibt er stehen.
Über ein mir bekanntes Medium berichtete ein verstorbener Mann, dass er in seinem vergangenen Erdenleben recht rücksichtslos nur auf den eigenen materiellen Vorteil bedacht war. Nach seinem Tod fand er sich in einer düsteren, kahlen und kargen Landschaft. Nackt und mittellos stand er da und fror am ganzen Körper, den er in feinstofflicher Art besass. Eine grosse Müdigkeit hing an ihm und wegen des dämmerhaften Dunkels, das ihn umfing, reichte sein Blick nicht weit. So wollte er sich zunächst einmal hinsetzen, um auszuruhen. Aber schon stand ein Wesen neben ihm und machte ihm klar: "Verschwinde! Dies hier ist mein Platz." Gleiches erfuhr er an jedem Ort, wo er einen Ratsplatz zu finden glaubte.
Einmal sah er nicht weit entfernt ein weisses Tuch an einem Strauch hängen. Mühsam schleppte er sich dort hin in der Hoffnung, er könnte damit seine frierende Blösse bedecken. Wie er den Tuchfetzen ergreifen wollte, stand wieder eine Gestalt neben ihm und befahl: "Lass das! Hier hast du nichts zu suchen!"
Langsam dämmerte es jenem Mann auf, dass er auf diese Weise immer wieder seinen eigenen Spiegelbildern begegnete. Es wurde ihm bewusst, dass er sich im Erdenleben genau so verhalten hat, wie jene, die ihm jetzt alles und jedes streitig machten.
Im Geschäftsleben war er stets darauf bedacht, alles an sich zu raffen, jeden Konkurrenten auszuschalten, keinem eine Chance zu gönnen. Auf diese Weise hat er sich belastet, daher nach dem Tod das Gefühl der Schwere und Müdigkeit. Sein Herz ist lieblos und kalt geworden, deshalb fror er in der anderen Welt, und die Dunkelheit, die ihn nun umfing, war ein Abbild seines inwendigen Dunkels, verursacht durch das Nichtwissen um die geistigen Gesetze.
Diese schmerzliche Erfahrung war notwendig, um den Verstorbenen zur heilsamen Einsicht zu führen, dass wir selber verantwortlich sind für jene Verhältnisse, in denen wir uns im Jenseits wiederfinden. Was einer sät, das wird er früher oder später auch ernten.

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise:
1 Perera, Sylvia, Der Sündenbock-Komplex. Ansata-Verlag, Interlaken 1987.
2 Lepp, Ignace, Splitter und Balken. Von den Ärgernissen einer christlichen Moral. Styria-Verlag, Graz 1961.
3 Schellenbaum, Peter, Die Wunde der Ungeliebten. Blockierung und Verlebendigung der Liebe. Kösel-Verlag, München, 5. Aufl., 1989, S. 19.


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Letzte Änderung am 25. Juli 2000