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Geisteswissenschaft - Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom September 1998, Nr. 5, III. Jahrgang, S. 194 ff. Bemerkungen des Erfasser stehen in []-Klammern.)

Lebenshilfe - Mut zum Leiden

Den meisten Menschen bleiben im Leben leidvolle Erfahrungen nicht erspart, denn Leben und Leiden gehören zusammen. Zwar pflichte ich ERICH KÄSTNER nicht bei, der in einer pessimistischen Anwandlung dichtete: "Darin liegt das Verhängnis: Von der Empfängnis bis zum Leichenbegängnis nichts als Bedrängnis." Gewiss hat das Leben auch seine freudvollen und freundlichen Seiten. Doch ist das Leiden ein wichtiges Element unseres Daseins. So nannte die Schriftstellerin ZENTA MAURINA, die mit fünf Jahren an Kinderlähmung erkrankte, das Leiden "das verbindende Band aller Lebendigen" und die schwedische Pädagogin HELEN KEY erkannte: "Das Leben hält in der einen Hand den goldenen Königsreif des Glücks, in der anderen die Dornenkrone des Leides; seinen Lieblingen reicht es beides."
Als Leiden bezeichne ich das Wissen um den Schmerz. Wir hören etwa einen Menschen klagen: "Es tut mir heute noch weh, wenn ich daran denke ... !" So etwas könnte ein Tier nie sagen. Es vermag sich an seine durchlittenen Schmerzen nicht zu erinnern [das stimmt nicht!; Anm.d.Erf.] und weiss auch nicht um deren Ursachen und noch weniger um deren Sinn. So gesehen ist der Mensch das einzige Lebewesen, das fähig ist, bewusst zu leiden. Die Leidensfähigkeit räumt ihm eine bevorzugte Stellung ein innerhalb der gesamten Natur, weil er seinem Schmerz gegenüber bewusst Stellung nehmen kann, indem er diesen bejaht oder verneint und als sinnvoll oder unsinnig bewertet. Von dieser Einstellung und Gesinnung hängt es ab, ob uns das Leiden erhöht oder erniedrigt, ob es uns bereichert oder verzweifeln lässt. Der Wiener Arzt VIKTOR FRANKL, Begründer der Logotherapie, schrieb hierzu: "Im Erfüllen von Sinn verwirklicht der Mensch sich selbst. Erfüllen wir nun den Sinn von Leiden, so verwirklichen wir das Menschlichste am Menschen. Wir reifen, wir wachsen und wachsen über uns selbst hinaus." (FRANKL 1991)
So birgt das Leiden in sich eine grosse erzieherische Kraft. Das erfuhr der französische Philosoph und Mathematiker PASCAL, der seine langjährige Krankheit als ein heilsames Leiden verstand, weil es ihn zu tiefer Selbsterfahrung geführt hat. Ebenso erging es GOETHE, der zeitlebens an zahlreichen körperlichen und seelischen Beschwerden litt, und der bekannte: "Ich habe viel in der Krankheit gelernt, das ich nirgends in meinem Leben hätte lernen können." (NAGER 1990)
Im Leiden vermag der Mensch geistige Höhen zu erreichen, zu denen er in gesunden Tagen kaum gelangen würde. Leiden sind die Wachstumsschmerzen der Seele. "Ohne Leiden geschieht in der Seele nichts", war eine wichtige Erkenntnis von C. G. JUNG. Immer wieder empfahl er, einen Weg zu finden, der es den Menschen ermöglichen soll, das unausweichliche Leiden zu ertragen, weil es das Los jeder menschlichen Existenz ist. Seine Erfahrung als Seelenarzt liess ihn erkennen: "Wenn es jemand wenigstens erreicht hat, Leiden zu ertragen, hat er schon eine fast übermenschliche Aufgabe erfüllt. Das kann ihm ein gewisses Mass an Glück und Befriedigung gewähren." (JUNG 1973)
Diesem seelischen Reifungsprozess begegnen wir in den Tagebuchnotizen einer unheilbaren Krebspatientin: "Es hat mich erwischt - es ist endgültig. Warum gerade ich?! - Das Leben ist so schön - für mich soll es zu Ende sein! - Der gepeinigte Leib - früher wusste ich nicht, was das heisst... Die Bäume, diese verfluchten Bäume! Sie werden im nächsten Frühling wieder blühen, und ich? - Meine Kinder und mein Mann - wie werden sie es bewältigen? - Friede ganz tief innen - kostbar... " (ERNI 1991)
Leiden muss nicht ein passives und widerwilliges Erdulden sein. Es kann auch zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Schmerz und dessen Ursachen führen. Der Leidende, der hierzu fähig ist, beweist eine seelische Stärke, die das Tier nicht aufbringt.
Heutzutage sind zahllose Menschen weder fähig noch willens, unabwendbares Leiden anzunehmen. Sie verlangen nach Spritzen, Pillen und Tabletten, um die körperlichen und seelischen Plagegeister möglichst rasch zu vertreiben, ohne zu hinterfragen, was sie herbeigerufen hat und welche heilsame Botschaft sie uns vermitteln wollen. Die Tapferkeit, Schmerzen durchhalten zu können, ist weitgehend abhanden gekommen. Das menschliche Leiden wird möglichst bekämpft, verbannt oder übersehen. Die Haltung von SIGMUND FREUD, der im Alter von 67 Jahren an Krebs erkrankte, ist beeindruckend. Er hat im Verlauf von 16 Jahren an die dreissig Operationen durchgestanden und während dieser Leidenszeit jedes schmerzstillende Mittel abgelehnt mit der Begründung: "Ich will lieber in Schmerzen denken als nicht denken können."
Unsere Einstellung zum Leiden ist entscheidend, ob dieses uns zur Plage oder zur Chance wird. Ein Beispiel für die positive Einstellung zum Leiden gibt uns der Wiener Psychiater ERWIN RINGEL. Er teilte in einem Gespräch mit: "Ich bin seit 1959 gehbehindert. Ich zögere nicht, Ihnen heute zu sagen, dass ich diesem Leiden viel verdanke. Ich habe in meiner Antrittsvorlesung als Ordinarius für klinische Psychologie gesagt: Als ich begann schwerer zu gehen, habe ich begonnen zu gehen. Ich bin im Geistigen beweglicher geworden, doppelt und dreifach." (SCHOLL 1990)
Zunächst vermag das Leiden uns vor Dummheiten und Torheiten zu bewahren, weil es uns daran hindert, allzusehr über die Stränge zu schlagen. Statt dessen sind wir gezwungen, mit unseren Lebenskräften behutsam umzugehen. In einem Gespräch mit Journalisten bestätigte der 69jährige FRIEDRICH DÜRRENMATT: "Wissen Sie, seit meinem 25. Lebensjahr habe ich Zucker. Wenn ich nicht diese Krankheit hätte, wäre ich schon längst an meiner Gesundheit gestorben."
Leiden sind auch die Geburtsschmerzen eines veränderten Bewusstseins. Leidvolle Zustände veranlassen uns zu heilsamen Abräum- und Aufräumarbeiten in unserem Leben. Sie lehren uns, Wichtiges von Nebensächlichem zu unterscheiden. Auch lassen sie uns besinnlich und empfänglich werden für neue Lebenswerte. Eine 40jährige Frau berichtete mir, dass die Zeit nach ihrem Hirnschlag, der sie an den Rand des Grabes brachte, sie zu den wertvollsten Erfahrungen ihres bisherigen Lebens führte. Es wurde ihr bewusst, an welch dünnem Faden unser Leben hängt. Heute lebt sie viel bewusster und viel dankbarer für jeden neuen Tag, der ihr geschenkt wird. Dadurch erlebt sie eine wunderbare Daseinsfreude, die sie früher nicht gekannt hat. So kann das Leiden uns zu geistigem Fortschritt anspornen. Die in kranken und leidvollen Tagen gewonnenen Einsichten werden uns eher zur Vernunft bringen als die vielen gutgemeinten aber nutzlosen Belehrungen und Ermahnungen anderer.
Lebensgefährliche Leiden wollen uns bewusst machen, wie vergänglich unser Leben ist. Sie fordern uns auf, uns auf endgültige Daseinswerte zu besinnen. Sie bewahren uns vor allzu krasser Eigenbezogenheit, weil wir in leidendem Zustand auf die Hilfe und Rücksichtnahme anderer angewiesen sind. Es mag für all jene, die in gesunden Tagen behaupteten, sie brauchten niemanden, eine heilsame Erfahrung sein. An die Stelle von Egoismus treten dann, wenn es gut geht, Geduld und Demut.
Weil Leiden in uns Kräfte freisetzen, die uns zu bewussterem Leben und schöpferischem Tun hinführen können, beweist das Lebenswerk des Kardinals HENRI DE LUBAC, Verfasser von über fünfzig wissenschaftlichen Büchern. Wegen einer Kopfverletzung im Ersten Weltkrieg litt er ständig an Kopfweh. Hinzu kamen von Zeit zu Zeit heftige Migräneanfälle. Er lenkte aber die Energie seiner Schmerzen auf den geistigen Pfad, der es ihm ermöglichte, sein Leiden in einen grossartigen Erfolg im jahrzehntelangem Lehren und Schreiben umzuwandeln. So befähigt das Leiden den Menschen zur Leistung, indem er über sich selbst hinauswächst.
Wir Menschen wissen nicht nur um unseren eigenen Schmerz, wir wissen auch um den Schmerz anderer und sind daher zum Mitleiden fähig. Wer sich um die Leiden anderer kümmert, der vergisst seinen eigenen Schmerz und bleibt nicht in den Fesseln seiner eigenen Nöte hängen. Gerade das eigene Leiden befähigt uns, mitfühlend Anteil zu nehmen an den Leiden anderer, sogar am Leiden der stummen Kreatur. Das ist mehr als blosses Bedauern. Als NIETZSCHE in Italien einmal zusah, wie ein Kutscher erbarmungslos auf sein Pferd einschlug, da fiel er dem geprügelten Tier weinend um den Hals. Das war gewiss eine zutiefst menschliche Regung, selbst wenn man darin den Beginn seiner geistigen Umnachtung sehen will, die von diesem Tage an den Philosophen befiel.
Das einzige Leid, das zu keinem inneren Fortschritt führt, ist das Selbstmitleid. Wer ihm verfällt, nervt mit Klagen und Jammern seine Mitmenschen, die sich zunehmend innerlich von ihm entfernen. Wer sich stets nur um sein eigenes Ego im Kreise dreht, wird nie über sich selbst hinauskommen. Das Selbstmitleid ist ein gesuchtes, oft auch ein herbeigewünschtes Leiden. Es ist, wie C. G. JUNG bestätigt, ein "unbewusster Betrug und hat kein moralisches Verdienst wie das Leiden an den eigentlichen Dingen". (JUNG 1982) Wer sich selbst bemitleidet, sieht nur sich und seinen Schmerz. In seiner auf sich selbst bezogenen Haltung fühlt er sich von anderen unverstanden und ungerecht behandelt. Solchen Menschen kann man oft nur helfen, indem man ihnen solange nicht hilft, bis sie hinter ihrer selbstgebauten Mauer einem hilfesuchend die Hand entgegenstrecken und willig sind, selbstlos Hilfe anzunehmen.
Die Leidensfähigkeit besteht demnach in der Bejahung des unabwendbaren Leidens und im Ertragen mit Würde, was an unverzichtbarem Schmerz uns heimsucht und heimführt zu wahrem Menschentum. Einer, der dies an sich selbst erfahren hat, der Dichter WERNER BERGENGRUEN, ist überzeugt:

Jeder Schmerz entlässt dich reicher.
Preise die geweihte Not. Und aus nie geleertem Speicher
nährt dich das geheime Brot.

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise:

FRANKL, VIKTOR: Das Leiden am sinnlosen Leben. Herder Verlag, Basel, Freiburg 1991, S. 34.
NAGER, FRANK: Der heilkundige Dichter. Artemis Verlag, Zürich, München 1990.
JUNG, C. G.: Briefe. Gesamtausgabe, Band III. Walter Verlag, Olten 1973, S. 38.
ERNI, MARGRIT: Leid als Chance. Walter Verlag, Olten 1991, S. 14.
SCHOLL, NORBERT: Warum denn ich? Hoffnung im Leiden. Kösel Verlag, Stuttgart, 1990, S.129.
JUNG, C. G.: Über die Entwicklung der Persönlichkeit. Gesamtausgabe Band 17, Walter Verlag, Olten 1982, S. 95.



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Letzte Änderung am 4. April 2000