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Geisteswissenschaft - Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom März 1998, Nr. 2, III. Jahrgang, S. 47 ff.)

Lebenshilfe - Mut zur Toleranz

Der tolerante Mensch ist nachsichtig, versöhnlich und friedfertig mit sich und mit den anderen; der intolerante dagegen ist streitbar, uneinsichtig und eigensinnig. Es ist leicht einzusehen, dass Toleranz mehr beiträgt zur inneren und äusseren Harmonie als deren Gegenteil. Das Wort Toleranz hat seine Wurzel im lateinischen "tolerare", was soviel heisst wie annehmen, ertragen und aushalten. Wir können sechs Arten von Toleranz unterscheiden:

I. Konflikttoleranz

Die alten Römer gebrauchten das Wort "confligere", wenn verschiedene Meinungen aufeinanderprallten und zusammenstiessen. Zu einem Konflikt kommt es, wenn zwei oder mehrere Menschen unterschiedlicher Ansicht sind und deswegen in eine Auseinandersetzung geraten. Wie das Wort sagt, setzen sie sich nicht zusammen, sondern auseinander, der eine hier, der andere dort, und nehmen gegensätzliche Standpunkte ein wie zwei Streithähne oder zwei Ringkühe. Gerungen wird dabei um das Recht des Stärkeren, um das Vorrecht, was nicht selten in sture Rechthaberei ausartet und damit in Streit und Zwietracht. Hier ist nun Toleranz gefragt, die VOLTAIRE die schönste Gabe der Menschlichkeit nannte. Der Tolerante beharrt nun nicht hartnäckig auf seiner Ansicht, die in jedem Fall nur einseitig sein kann, weil wir nie beide Seiten einer Medaille zugleich sehen können. Nähern sich beide Standpunkte gegenseitig an, kann ein gemeinsamer Nenner gefunden werden. Man spricht dann von einem Kompromiss oder von einem Konsens. Kommt ein solcher nicht zustande, sollte der Stärkere dem Frieden zuliebe einen Schritt zurückweichen und ein Zugeständnis machen nach dem Motto: Der Gescheitere gibt nach.
Toleranz vermag Hindernisse zu überwinden und Grenzen zu überschreiten. Sie erwächst uns aus grosszügigem Denken und aus der Erkenntnis, dass es zumeist das eigene Ego ist, welches unversöhnlich reagiert. Tolerant sein heisst freilich nicht, sich übermässig anpassen, sich wie eine Wetterfahne nach dem Winde drehen und dem Satz beipflichten: "Alles verstehen heisst alles verzeihen". Wer sich in Konflikttoleranz üben will, der vermeide es bewusst, durch seine Kritik und seinen Widerspruch andere zu ärgern, zu verletzen oder zu demütigen. Er legt nicht jedes Wort der anderen auf die Goldwaage. Er nimmt Anfechtungen gelassen hin, er wird nicht ungehalten, wenn man ihm nicht beipflichtet und er wird nicht unbeherrscht, wenn etwas nicht nach seinem Wunsche geht. Aus einem gesunden Selbstwertgefühl heraus sagt er sich mit GRILLPARZER:
Will die Welt mich bestreiten,
ich lass es ruhig geschehen.
Ich komme aus anderen Zeiten,
um fort in andre zu gehen.

II. Stresstoleranz

Das englische Wort "stress" heisst Druck, Spannung. Stresstoleranz meint, ein gewisses Mass an Belastung aushalten können, ohne sich zu überfordern. Es ist wie bei einem Saiteninstrument. Eine zu wenig gespannte Saite tönt hohl und dumpf, eine überspannte Seite gibt einen schrillen Ton. Beim Stress können wir den positiven Stress, Eu-Stress genannt, vom negativen Stress, Distress genannt, unterscheiden. Im günstigen Fall wirkt die Anspannung leistungsfördernd und erfolgsteigernd, was die Lebenslust und Arbeitsfreude erhöht. Ist aber der Druck, unter dem wir stehen, zu gross, lähmt er uns und führt zu körperlicher und seelischer Erschöpfung. Dieser ungute Stress wird heute in den Industrieländern als Jahrhundertkrankheit bezeichnet, an der zwei Drittel unserer Patienten leidet. Zahllose stressgeplagte Menschen greifen zu Medikamenten, um über die Runden zu kommen und schädigen sich dadurch erneut. So kommt es zu einem gefährlichen Teufelskreis.
Stress beginnt im eigenen Kopf, nämlich in unseren gedanklichen Vorstellungen, so etwa durch übertriebenen Leistungsehrgeiz, durch Perfektionismus, durch negative Erwartungshaltungen und durch Existenzangst. Menschen, die in ihrer Kindheit verzärtelt und in ihrer Jugend verwöhnt wurden, haben es später oft schwer, Spannungen auszuhalten. Diese sind viel stressanfälliger als jene, die frühzeitig gelernt haben, Belastungen auf sich zu nehmen. Zur Stresstoleranz gehört, die eigenen Leistungsgrenzen zu kennen und anzuerkennen, Schwierigkeiten zu widerstehen, mit Ausdauer ein Ziel zu verfolgen und sich bewusst zu sein, dass das Leben nicht ein vergnügter Aufenthalt in einem Lustgarten ist, sondern von uns ernste Anstrengung verlangt. Ein Vater hat seinen Sohn gefragt, ob er die Schulaufgaben gemacht habe. Als dieser verneinte, wollte der Vater wissen, warum nicht. " Weisst Du, mir war gerade nicht ganz wohl", entschuldigte sich der Knabe. Da wies ihn der Vater zurecht: "Merke dir, mein Sohn, die grössten und schönsten Werke der Menschheit wurden von Frauen und Männern vollbracht, denen nicht ganz wohl war".

III. Fehlertoleranz

Der grösste Fehler ist die Angst, Fehler zu machen. "Der Mensch ist ein Mangelwesen", stellte der Anthropologe PROF. A. PORTMANN in Basel fest. Es ist keine Schande, mal einen Fehler zu begehen. Diesen aber nicht zu wiederholen, bedeutet einen Lernschritt. Wer das Risiko, Fehler zu begehen, nicht auf sich nimmt, der ist nicht kreativ und nicht innovativ. Jeder Fortschritt besteht in der Überwindung gemachter Fehler. Wer sich und anderen eine Fehlleistung niemals zugesteht, ist ein intoleranter Perfektionist. Wie PROF. PARETO an der Universität Lausanne mit seiner 80:20-Regel nachwies, erfordert eine perfekte Lösung deutlich mehr Aufwand als eine optimale Lösung. Geben wir uns mit einer optimalen Leistung zufrieden, sparen wir rund 20 Prozent an Zeit und Kraft gegenüber jenen, die eine 100prozentig perfekte Arbeit erwarten. Bei einer vernünftigen Fehlertoleranz rechnet man mit gewissen Ausfällen, zum Beispiel bei einer Serienproduktion, um die Herstellungskosten möglichst niedrig zu halten. Wollte man das gleiche Produkt durch zahlreiche Kontrollen schleusen, bis keinerlei Mangel feststellbar ist, würde dies die Kosten wesentlich verteuern. Bei den sogenannten Billigwaren wird man ohne Fehlertoleranz sicher nicht zufriedengestellt, weder als Verkäufer noch als Käufer. Auch mit den menschlichen Unzulänglichkeiten wird man rechnen müssen. Eine Maschine kann nahezu perfekt funktionieren, nicht so der Mensch. Deshalb hat im Mai 1997 der russische Schachweltmeister GARRI KASPAROW gegen den IBM-Computer Deep Blue die Partie verloren. Auf die Frage, warum das kommunistische Wirtschaftssystem versagt hat, antwortete C. G. JUNG: "Weil man mit dem Menschen nicht gerechnet hat." Der Mensch hat gegenüber einer ausgeklügelten Technik manchen Nachteil. Das ist aber auch gut so, denn würde er bloss wie ein Roboter reagieren, wäre auch die Liebe nichts weiter als ein physikalischer Kontakt, der zu einer chemischen Reaktion führt.

IV. Frustrationstoleranz

Frustriert ist, wer nicht bekommt, was er begehrt und dafür das erhält, was er nicht wünscht. Der frustrierte Mensch klagt: "Wo ich nicht bin dort ist das Glück. Das Schöne liegt immer am anderen Ufer. Bald fehlt uns der Becher, bald fehlt uns der Wein." Die Folge davon sind Unzufriedenheit, Enttäuschung und Verzicht, mit einem Wort Frust, was denn auch die Bedeutung des lateinischen "Frustatio" ist. Nun gehört es zu unserem Menschsein, dass wir nicht immer alle Bedürfnisse befriedigen können. Es ist notwendig, dass wir Durststrecken aushalten, Zeiten von Misserfolg durchstehen und uns dennoch nicht entmutigen lassen. Wer hierzu imstande ist, der beweist Frustrationstoleranz, die gewiss ein Zeichen von Persönlichkeitsreife und Charakterstärke ist. Wer tolerant ist gegenüber Frustrationen, der hat gelernt, Enttäuschungen zu ertragen, Verzichtsleistungen zu erbringen und sich mit Gelassenheit von den Wechselfällen des Lebens nicht erschüttern zu lassen. Werden seine Erwartungen nicht erfüllt, sagt er sich: "Wer weiss, wozu das gut ist." Der Begründer der angewandten Psychologie, WILLIAM JAMES, empfahl seinen Studenten: "Akzeptieren Sie, was geschieht. Indem Sie dies tun, machen Sie den ersten Schritt zur Bewältigung jeden Unglücks."
Aus der Sicht einer Frau schreibt META ZWEIFEL: "Frustrationstoleranz hat mit jener Kraft zu tun, die mit Ermüdungserscheinungen in der Liebesbeziehung, mit unvermeidlichen Enttäuschungen, mit Alltagsmief und Kindergeschrei, mit finanziellen Problemen und mit Attraktivitätsschwund umgehen kann. " (Fussnote 1)
Frustrationen sind zumeist selbstverursacht durch falsche Erwartungen, durch verfehlte Hoffnungen und durch unverstandene Ereignisse in unserem Leben. Um belastungsfähig gegenüber Frustrationen zu werden, sollten wir uns fortwährend in der Anspruchslosigkeit und Wunschlosigkeit üben. So bleiben uns Enttäuschungen erspart.

V. Schmerztoleranz

Die Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen ist bei den Menschen recht unterschiedlich. Was den Wehleidigen bereits die Wände hochgehen lässt, nimmt der andere gelassen und geduldig hin. Bei den Römern und bei indianischen Volksstämmen galt das Aushalten grosser Schmerzen als ein Zeichen von Tapferkeit. Kinder sind gegenüber Schmerzen weniger tolerant als Erwachsene. Männer wollen festgestellt haben, das weibliche Geschlecht verhalte sich gegenüber Schmerzen empfindlicher als das männliche. Eine Forschergruppe für Medizinische Psychologie an der Universität München fand, dies sei bei den Frauen auf die anerzogene Bereitschaft zurückzuführen, Gefühlen und Empfindungen freien Lauf zu lassen, während Männer ihr Weh eher verdrängen. Es gibt hinsichtlich der Schmerztoleranz sogar regionale und nationale Unterschiede. So hat man beobachtet, dass Amerikaner italienischer Abstammung bereits Körperreize als schmerzhaft empfinden, die ihre Landsleute irischer Herkunft nur schwach wahrnehmen. Franzosen reagieren im allgemeinen auf Kälte empfindlicher und sind auch häufiger erkältet als Engländer.
Je mehr wir uns vor Schmerzen fürchten und sie verneinen, um so leidvoller erfahren wir sie. Je toleranter wir uns ihnen gegenüber einstellen, desto weniger haben wir unter ihnen zu leiden. LUDWIG BÖHME meinte: "Der Schmerz ist der grosse Lehrer des Menschen. Unter seinem Hauch entfaltet sich die Seele." Daher sollten wir sehr zurückhaltend sein mit den Einnehmen von Schmerzmitteln. Wer dies tapfer versucht, wird mit RILKE bekennen: "Ich lerne täglich, manchmal sogar unter Schmerzen, denen ich etwas später dankbar bin: Geduld ist alles." Dass ein Mensch auch unter grossen Schmerzen seinen Lebensmut und seine Schaffenskraft nicht verliert, hat SIGMUND FREUD über viele Jahre hinweg bewiesen, indem er trotz seines schweren Krebsleidens jedes schmerzstillende Mittel ablehnte mit der Begründung: "Ich will lieber in Qualen denken, als nicht klar denken können." (Fussnote 2)

VI. Ambivalenztoleranz

Dieser Begriff setzt sich zusammen aus der lateinischen Vorsilbe "ambi" = zweifach und dem Verb "valere" = gelten, wert sein. Ambivalent heisst doppelwertig sein. Wer sich bewusst ist, und auch akzeptiert, dass alles seine zwei Seiten hat, dass man geteilter Meinung sein kann und dass man eine bestimmte Äusserung verschieden bewerten kann, weil sie ohnehin meist nur eine Teil- und Halbwahrheit enthält, der besitzt Ambivalenztoleranz. Er lässt auch den andern zu Wort kommen und nimmt dessen Sichtweise ernst, selbst wenn diese auch nicht die Seine ist. Ein echtes Beispiel solcher Toleranz gibt uns der römische Kaiser und Philosoph MARC AUREL (121 - 180) mit seiner Tagebucheintragung: "Ich werde heute Menschen begegnen, die zuviel reden, die selbstsüchtig, überheblich, undankbar sind. Aber das wird mich weder überraschen noch beunruhigen, weil ich mir die Welt nicht ohne Menschen vorstellen kann."
Ambivalenztoleranz ist erforderlich nicht nur Andersdenkenden, sondern auch Minderheiten gegenüber, nämlich Flüchtlingen, Asylanten, Farbigen. Beherzigen wir das chinesische Sprichwort: "Wenn wir den anderen ihr Anderssein nicht verzeihen, so sind wir noch nicht weit auf dem Wege zur Weisheit." Diese Art von Nachsicht und Anteilnahme ist eine Form der Liebe. "Denn wirkliches Verstehen ist ohne Liebe nicht möglich", schreibt ARNO PLACK, "echte Liebe aber nicht ohne Abstand zueinander, ohne Anerkennung des Anderen. Liebe setzt solche Anerkennung nicht voraus, sie schliesst sie ein, indem sie immer schon mehr ist als blosse Anerkennung: ausdrückliche Bejahung der anderen in ihrem Anderssein." (Fussnote 3)
Beschliessen wir unsere Betrachtungen über die Toleranz mit einem Text von FRED ZAUGG: "Für sich fordern alle Toleranz. Selbst tolerant zu sein, ist schwer. Die Andersartigkeit der andren gelten zu lassen, heisst nicht, selbst kein Gesicht, keine Meinung zu haben. Tolerant ist, wer die Grösse hat, sich als Teilchen eines vielfältigen Ganzen zu sehen. Toleranz sucht nicht Macht, nicht Herrschaft über die anderen. Toleranz will das Zusammenleben, das gegenseitige Verstehen, den Frieden."

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise
Fussnote (1): ZWEIFEL, META: Partnerschaft - ganz nüchtern betrachtet, in Drogistenstern, Nr. 2, 1997, S. 6
Fussnote (2): SCHUR, MAX: Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt a. M. 1973, S. 592-621.
Fussnote (3): PLACK, ARNO: Ohne Lüge leben. Ex Libris, Zürich 1979, S. 178.


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Letzte Änderung am 27. März 2000