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Parapsychologie

Artikel von Ann Claire Richter (Braunschweiger Zeitung, April 2005), erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 3/2005, S. 18-20.
Anmerkungen des Erfassers stehen in [ ]-Klammern.

Spuk in der Aegidien-Apotheke zu Braunschweig

Geheimnisvolles Treiben zum Jahreswechsel 1797/98 –
Stadtarchiv erhielt aus einem Nachlass eine spannende, verschollene Akte

Nachdruck eines Artikels von Ann Claire Richter aus der Braunschweiger Zeitung vom 6. April 2005

Rätselhaft und unheimlich: Das Braunschweiger Untergericht befasste sich zum Jahreswechsel 1797/98 mit einem mysteriösen Fall – einem Spuk in der St. Aegidien-Apotheke (Bild 1). Das Stadtarchiv kam jetzt in den Besitz der alten Akte. Ein Dokument, das eine Menge Fragen offen lässt und ein Quell ist für unzählige Spekulationen...

Es begann am 9. Dezember

Ein grünes Protokoll-Heft legt Zeugnis ab vom geheimnisvollen Treiben in jenen Tagen. Die Vernehmungen führte Johann Heinrich Wilmerding im Neustadtrathaus, zu jener Zeit Stadtdirektor, Bürgermeister und Direktor des Untergerichts. Dr. Bettina Schmidt-Czaia, Leiterin des Stadtarchivs (Bild 2), kann die Schrift entziffern und hat eine spannende Geschichte zu lesen bekommen.

Das entscheidende Personal: die Witwe Becker, deren Mann die Apotheke einst gehörte; Johann Friedrich Neumann, der sie als Provisor leitete, sowie die Lehrburschen Nathaniel Höckel und Georg Trott. Nach deren Aussagen hat der Spuk am 9. Dezember 1797 begonnen: Lehrbursche Nathaniel war in die zweite Etage der Apotheke geschickt worden, um etwas aus der Materialkammer zu holen. Oben angekommen, will der 18-Jährige eine Furcht einflössende Erscheinung gesehen haben: blass, mit tief liegenden Augen wie bei einem Toten. Eine menschliche Figur mit gestreiftem Schlafrock, gestreifter Mütze und mit herunterhängenden Strümpfen. Auf gelben Pantoffeln sei ihm die Erscheinung entgegengeschlurft, und sein Licht sei erloschen, als der Geist an ihm vorübergegangen sei.

Doch niemand will Nathaniel glauben. In der Apotheke feixt man über den Burschen und nimmt ihn heftig auf die Schippe. Am 17. Dezember aber macht die Erscheinung erneut von sich reden: Als Nathaniel wieder in den zweiten Stock muss, wird er mit Austernschalen beworfen. Der Bursche ergreift die Flucht und kommt mit Verstärkung zurück. Diesmal hagelt es Eicheln. Doch als schliesslich die Gesellen anrücken, um nachzuschauen, was dort oben vor sich geht – man vermutet Diebe –, geschieht rein gar nichts.

Chaos im Keller

Tags darauf gegen 14 Uhr: Höckel wird mit Krücken beworfen.
21. Dezember, 15 Uhr: Der Lehrbursche Trott findet die Tür zum Materialraum von innen versperrt. Mit einem Gehilfen wird sie aufgebrochen: davor Steine und Taue – vom Geist keine Spur.
24. Dezember: Trott findet den Pflasterschrank (zirka 100 Pfund schwer) von der Wand gerückt vor. Der Spuk greift nun auch auf den Keller über: Ochsengeschirr, Fässer, Steine, Beil, Säge, Holzfällerkarre – alles chaotisch durcheinander geworfen. 14 Uhr: weitere Krücken fliegen.
Zweiter Weihnachtstag: Die Tür ist mit schweren Koffern versperrt. Die Krüge mit destilliertem Wasser stehen verkehrt herum. Höckel kommt weinend und totenbleich nach unten: Er hat das Wesen im Schlafrock erneut gesehen.

Höckel fasst Mut, will den Geist ansprechen und wagt sich erneut nach oben. In der Tat redet die mysteriöse Gestalt mit dem Burschen: „Fürchte Gott und scheue niemand. Ich bin Becker, und hast Du Lust mit mir zu sprechen, so komme auf die Kräuterkammer“, zitiert Höckel den Poltergeist, der offenbar nur ihm erscheint. Der Grund: Höckel sei der Mutigste in der Apotheke, so der Geist. Dem Burschen verkündet der tote Apotheker auch seine Botschaft: Er wolle jeden davor warnen, sich der Trunkenheit zu ergeben, und keiner solle seine Leute so behandeln, wie er es einst getan habe. Ausserdem forderte der Geist von der Witwe: Sie habe fünf Reichstaler an die Armen zu spenden.

Dann – so gibt Höckel zu Protokoll – sei die Erscheinung unter die Decke gewachsen und verschwunden. Dort, wo ihn der Geist an der Wange mit zwei Fingern berührt habe sei ein roter Fleck zurückgeblieben...
Das Gericht versucht, das Rätsel zu lüften. Wirklich ein Spuk? Oder hat Provisor Neumann mit der Sache zu tun? Der leugnet und ist beleidigt.

Am 2. Januar wird eine Untersuchung in der Apotheke vorgenommen – ohne Ergebnis. Hat Witwe Beckers Sohn aus erster Ehe den Spuk angezettelt, um die Apotheke günstig aufkaufen zu können? Spekulationen über Spekulationen. Die Witwe Becker gibt zu Protokoll: der Packhausrevisor Trott – Vater des gleichnamigen Burschen – habe ein anonyme Anfrage erhalten, ob die Apotheke zum Verkauf stehe.

Am 9. Januar erklärt Höckel im Verhör: Er habe vorher nie an Geister geglaubt; jetzt aber glaube er unbedingt daran, und er sei bereit, seine Aussagen zu beeiden.
Ob der Bursche das je musste?

Die Akte gibt keine Auskunft. Und auch nicht darüber, ob die Sache aufgeklärt werden konnte. War es Schieberei um die Apotheke? Oder wollten die Burschen sich rächen für ungerechte Behandlung durch den Provisor oder die Witwe? Ihr Sohn jedenfalls kam tatsächlich später in den Besitz der Apotheke.

Jetzt alles geordnet

Der rätselhafte Fall ist ein kurioses Zeugnis Braunschweiger Stadtgeschichte. Irgendwann muss die Akte verschwunden sein – und sie wäre es bis heute, hätte nicht eine alte Dame aus Hamburg das grüne Heft an die Stadt geschickt. Sie hatte es in der Hinterlassenschaft ihres verstorbenen, Mannes gefunden und sandte es an die Stadt mit einem langen Brief und den Worten: „Ich bin schon sehr alt und will alles geordnet wissen...“ Im Stadtarchiv ist der Fall sicher gut aufgehoben unter der Signatur: H III 1/Akz. 2005/033:169.


Bilder
St. Aegidien-Apotheke vor 1939
Bild 1: Dieses Foto zeigt die St. Aegidien-Apotheke vor 1939, als sie sich am Aegidienmarkt befand. Dort ereignete sich auch der Spuk. Die Apotheke hat in ihrer Geschichte mehrfach den Standort gewechselt und existiert heute nicht mehr. Foto: Stadtarchiv/Repro: Sierigk
Dr. Bettina Schmidt-Czaia mit den
Vernehmungs-Protokollen
Bild 2: Dr. Bettina Schmidt-Czaia, Leiterin des Stadtarchivs, mit den Vernehmungs-Protokollen. Foto: Sierigk


(Red.: Wir danken Herrn Dr. med. J. Munsig, Radiologe, D-Braunschweig, der diesen Zeitungsartikel entdeckte und uns über Herrn Werner Schiebeler zusandte. – T.F.)


[ Anm.d.Erf: Interessant sind die Motive, welche der Poltergeist für sein Erscheinen angab: Warnung vor Trunksucht, Ermahnung zur guten Behandlung der Angestellten, Spende an die Armen. Ob der Geist "Becker" im Diesseits wohl ein Trunkenbold, Geizhals und Leuteschinder gewesen war und sich "drüben" so geschämt hatte, dass er die Energie aufbrachte, als Geist zu erscheinen, um etwas von seinem schlechten Tun wieder gut zu machen? Schon möglich... Hing sein Erscheinen eventuell auch mit der Weihnachtszeit zusammen, in der viele Menschen ihrer Verstorbenen gedenken und für sie beten? Erstaunlich ist die Tatsache, dass sich eine ältere Dame aus Hamburg (ohne spezielle Bindung an Braunschweig) veranlasst fühlte, diese "uralte" Akte nach Braunschweig zu senden. Bemerkenswert ist auch, dass der Bericht seinen Weg in die Braunschweiger-Zeitung und schliesslich in unseren Wegbegleiter fand. Das sind schon viele "Zufälle", nicht wahr? Weniger erstaunlich ist die Reaktion der Menschen damals und heute auf diese Spukgeschichte: Ungläubigkeit, etwas Spott, Betrugsverdacht; und trotzdem fasziniert das Geschehen uns Menschen (sonst wäre der Artikel nicht in der Zeitung erschienen). Auf jeden Fall bleibt die Aussage eines "Sünders" von "drüben": «Fürchte Gott und scheue niemand.» – Besser wäre natürlich, Gott lieben zu lernen, als Ihn hauptsächlich zu fürchten. Ehrfurcht: ja, Furcht vor Strafe: nein! ]


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"