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Geisteswissenschaft - Philosophie / Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Januar/Februar 1999, Nr. 1, IV. Jahrgang, S. 31 ff.
Anmerkungen des Erfassers stehen in [ ] - Klammern.)

Die rechte Zeit

Wir sind es gewohnt, die Zeit mit der Uhr zu messen und nehmen an, die eine Stunde sei gleichwertig der anderen, weil eine jede genau sechzig Minuten lang dauert. Dem entsprechend berechnen wir die Zeit, stellen sie in Rechnung und rechnen mit ihr. So reden wir vom Zeitmass, von der Zeiteinheit, also von der Quantität der Zeit.
Das ist aber nur die eine Seite, sozusagen die äussere, die vordergründige des Phänomens Zeit. Die andere ist die innere, die hintergründige und diese nennen wir die Qualität der Zeit. Aus dieser Sicht ist kein Augenblick wie der andere, jeder hat seine besondere Einmaligkeit und Einzigartigkeit.
Hierzu ein Beispiel aus dem Leben von Carl Gustav JUNG: Wie der grosse Psychologe bei dem Negerstamm der Elgonis in Kenia war, um deren Religion und Kultur zu erforschen, sah er, wie die Eingeborenen jeden Morgen sich vor ihren Zelten versammelten. Als die Sonne aufging, spuckten sie in ihre Hände und hielten diese, mit ihrem Seelenspeichel benetzt, dem aufgehenden Tagesgestirn wie zur Begrüssung hin. Da meinte Jung: "Aha, ihr habt einen Sonnengott." Nun lachten die Eingeborenen wie die Narren und Jung brauchte, wie er später erzählte, etwa drei Wochen, um herauszufinden, dass nicht die Sonne ihr Gott ist, sondern der Moment des Sonnenaufgangs, der Kairos. (1)
Meinen wir die Quantität der Zeit, gebrauchen wir hierfür gerne das griechische Wort "Chronos". Daher stammen die Ausdrücke wie Chronometer und Chronik oder chronisch und synchron. Fälschlicherweise werden oft Chronos und Kronos verwechselt. Sprachlich besteht zwischen beiden Wortgebilden kein Zusammenhang, wohl aber inhaltlich, insofern der griechische Wetter- und Erntegott Kronos, der bei den Römern Saturn hiess, als alter, knochiger Mann mit Sichel und Sense abgebildet wird, ähnlich dem Schnitter Tod. In dieser Gestalt ist er ein Symbol für die Vergänglichkeit der Zeit und ein Sinnbild unserer Sterblichkeit.
Dem gegenüber steht das Wort "Kairos" für die Qualität der Zeit. Plastisch dargestellt wurde diese vom antiken Bildhauer LYSSIPOS als eilender Jüngling mit Flügeln an den Fussknöcheln, als wolle er sagen.- "Nütze die Gunst des Augenblicks, denn sie enteilt dir für immer, wenn du sie unbeachtet vorbeiziehen lässest!" Kairos heisst also soviel wie die einmalige Gelegenheit, die rechte Zeit, die Weihe der Stunde, die Besonderheit des "Zufalls", wie er dem Menschen schicksalhaft entgegentritt.
Um zu zeigen, was ein Kairos ist, diene folgende wahre Geschichte: Als der junge Albert SCHWEITZER in seinen Bubenjahren an einem Sonntagmorgen auf die Spatzenjagd ging, fingen in dem Moment die Kirchenglocken an zu läuten, als er gerade im Begriff war, mit seiner Steinschleuder auf einen kleinen Vogel zu zielen. Entsetzt warf er die Schleuder weg, weil ihm das Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse nicht als Zufall, sondern wie eine Mahnung vom Himmel erschien, keinem Lebewesen ein Leid anzutun. In diesem Augenblick wurde grundgelegt, was später Leben und Wirken des berühmten Urwalddoktors bestimmen sollte, nämlich der Grundsatz von der Ehrfurcht vor dem Leben.
Es handelt sich beim Kairos also um den seltenen Augenblick in der fliessenden Zeit, wo wie ein Lichtstrahl aus einer höheren Welt ein auslösendes Moment in unser irdisches Dasein hineinleuchtet und uns sagt: jetzt oder nie!
Wollen wir veranschaulichen, was ein Kairos ist, stellen wir uns zwei asymmetrische Metallplatten vor. Beide weisen irgendwo eine kleine Öffnung auf und beide kreisen scheinbar unregelmässig übereinander. In gewissen Zeitabständen, die für uns nicht vorausberechenbar sind, schieben sich die beiden Öffnungen wie zufällig übereinander. Genau in dieser Sekunde kann man eine Kugel durch die beiden Löcher fallen lassen - nicht vorher und nicht nachher. Dieser nicht zu verpassende Moment ist ein Kairos.
Im erweiterten Sinne ist Kairos nicht bloss der entscheidende richtige Augenblick, sondern auch die rechte Zeit, sei es in Stunden oder Tagen. So wissen die Kräuterkundigen sehr wohl, dass die Heilkraft einer Pflanze verschieden ist, je nach der Jahres- und Tageszeit, in der sie gepflückt wird. Die Homöopathen verstärken die Wirksamkeit eines Medikamentes, indem sie es zum Zeitpunkt der Zustandsverschlechterung verabreichen, weil sie wissen, dass das Heilmittel genau in dem Moment am wirksamsten ist. Homöopathische Mittel, die den Wasserstoffwechsel im Organismus beeinflussen, weisen mondähnliche Eigenschaften auf. Daher werden diese stets unter Berücksichtigung der Mondphasen verschrieben. Kluge Bauern und Gärtner beachten bei der Aussaat von Getreide sowie beim Pflanzen von Setzlingen und Stecklingen den rechten Zeitpunkt, indem sie sich nach dem Mondkalender richten. Aus diesem Wissen stammt auch die Weisung: was zunehmen und wachsen soll, ist bei zunehmendem Mond in Angriff zu nehmen, was aber abnehmen und sich vermindern soll, ist bei abnehmendem Mond anzugehen. Dass hinter dieser Bauernregel nicht purer Aberglaube steckt, hat die Biologin Dr. Lily KOLISKO in den Jahren 1926 bis 1935 durch ausgedehnte Untersuchungen an verschiedenen Gartenpflanzen nachgewiesen. Dabei stellte sie fest, dass Gemüse und Salate, die bei Vollmond ausgesät wurden, in ihrem Reifezustand dreimal schwerer waren als jene, die man bei Neumond gesät hat, und dass der Ernteertrag um rund 40 Prozent grösser war (2). Dieser Erfolg ist natürlich nicht dem Mond zuzuschreiben, sondern dem rechten Zeitpunkt der Aussaat, dem Kairos.
So hat eben jedes Geschehen seine Zeit, und ausser dieser Zeit geschieht nichts oder nicht auf seine rechte Art. Im zweitausendjährigen chinesischen Weisheitsbuch I Ging können wir nachlesen: "Die Dinge haben ihre Zeit. Wer die Zeit nicht beachtet, verursacht Unordnung und Missverhältnisse."
Eine wichtige Begegnung, eine entscheidende Begebenheit, ein prägendes Ereignis geschieht demnach nicht irgendwann, sondern eben zur rechten Zeit. Zur falschen Stunde herbeigesehnt, stellt es sich nicht ein oder dann mit unheilvollen Folgen. Deshalb haben die Weisen und Eingeweihten seit je auf die richtige Stunde geachtet und entsprechende Berechnungen angestellt. Eine der Wissenschaften, die sich seit Jahrtausenden darauf versteht, ist die Astrologie. Sie arbeitet mit dem Horoskop. Dieses Wort ist zusammengesetzt aus dem lateinischen "hora" für Stunde und dem griechischen "skopein" für schauen. Mit einem genau berechneten Horoskop kann man also für ein bestimmtes Unterfangen auf die richtige Stunde sehen. Allerdings braucht es dazu eine grosse Erfahrung und ein vertieftes Wissen in die kosmischen Zusammenhänge. Für den seriösen Astrologen ist der Sternenhimmel das Zifferblatt, auf dem er ablesen kann, wie spät es im Menschen, auf seiner inneren Uhr ist, gemäss dem allgemeingültigen Gesetz: wie oben so unten, wie innen so aussen, wie im Himmel so auch auf Erden.
C. G. JUNG hat die Bedeutung dieser astrologischen Zusammenhänge in folgenden Lehrsatz gefasst., "Jedes Ereignis behält für seine Zukunft die Qualität der Zeit, in der es geschieht." Er spricht daher von der Zeitqualität, denn alles "was in diesem Zeitmoment geboren oder geschaffen wird, hat die Qualität dieses Zeitmoments." (3)
Es ist also möglich aus dem zeitlichen und örtlichen Beginn eines Unternehmens auch dessen Verlauf und dessen Ergebnis abzuschätzen. Ich fand dies bestätigt, als ich mir die genaue Zeit merkte beim ersten Spatenstich eines Hausbaus, beim Unterschreiben eines Vertrags oder beim Beginn einer Reise, eines Kurses oder Seminars. Diese Regel gilt auch für unliebsame Folgen von Unternehmen, die zur falschen Zeit in Angriff genommen wurden, so dass die esoterische Weisheit sich bestätigt: Stets enthält der Anfang auch den Beginn seines Endes.
Als die Präsidenten SADAT von Ägypten und BEGIN von Israel im Jahre 1978 den Friedensvertrag zwischen ihren beiden Ländern unterzeichneten, habe ich das hoffnungsvolle Ereignis am Fernsehen verfolgt und auf diesen Zeitpunkt ein Horoskop errechnet. Wie ich darin die Häufung massiver Spannungen feststellte, musste ich mir sagen: " O weh, da wird noch lange kein Friede sein! " Die Geschichte hat dies inzwischen bestätigt.
Auch das Leben des einzelnen Menschen und sein Schicksal kann man aus der Besonderheit seines Geburtshoroskops im Bereich seiner Programmierung weitgehend erschliessen, wie dies die wissenschaftliche Astrologie mit einer Trefferquote von 70 - 80 Prozent auch tatsächlich vermag. Damit wird verständlich, warum C.G. JUNG ohne Horoskop kaum jemand in seine psychologische Behandlung nahm.
Es ist durchaus ratsam, im Leben nichts eigenwillig erzwingen zu wollen. Wer hellhörig ist, der spürt, ob ihm ein Gelingen zur rechten Zeit gegeben ist. Stellen sich unerwartete Hindernisse und Schwierigkeiten ein, sollte er den gewählten Zeitpunkt verschieben und warten, bis die Zeitumstände sich zum Besseren wenden.
In seinem Buch "Schicksal als Chance" schreibt Thorwald DETHLEFSEN: "Die Zeitqualität hat mit Dauer nichts zu tun, sondern besagt, dass jeder Zeitpunkt oder Zeitabschnitt - das kann eine Stunde, eine Sekunde oder ein Jahr sein - eine bestimmte Qualität besitzt, die nur solche Ereignisse in Erscheinung treten lässt, die dieser Qualität adäquat (entsprechend) sind." (4) Diese Erkenntnis hat Gottfried KELLER in seinem Gedicht "Die Zeit steht still" in folgende Worte gefasst:

Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann wie eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.

[ Dr. Beat Imhof ]


Literaturhinweise:
1 Jung, C. G., Interview von Georg Gerster mit dem 85jährigen C. G. Jung im Jahre 1960, Sendung des Schweizer Radios DRS 1 vom 27.7.1975 / Tonbandaufnahme.
2 Bertschi, H., Im Banne des Mondes, in: " Brückenbauer" vom 8.4.1987, S. 16-17.
3 Jung, C.G. / Wilhelm, R., Das Geheimnis der goldenen Blüte. Rascher Verlag, Zürich 1939, S. XII.
4 Dethlefsen, Th., Schicksal als Chance. München 1979, S. 106.


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Letzte Änderung am 6. August 2000