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Geisteswissenschaft - Philosophie / Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom November 1998, Nr. 6, III. Jahrgang, S. 246 ff.)

ZEIT DER LEBENSWENDE

"Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, befand ich mich in einem dunklen Wald, da ich vom rechten Wege abgekommen." Diese Verse, mit denen DANTE ALIGHIERI seine Göttliche Komödie einleitet, ist bezeichnend für die Mitte des menschlichen Lebens. In dieser Situation geraten wir an einen Haltepunkt, an einen Wendepunkt, oft verbunden mit einer Ratlosigkeit, die nach Neuorientierung verlangt. Es handelt sich hier um einen naturgegebenen Übergang von der ersten Lebenshälfte zur zweiten. Dieser Wechsel stellt sich um das 36. Lebensjahr ein. In einem Radio-Interview aus dem Jahre 1960 gab C. G. JUNG hierzu folgenden Hinweis: "Zum Beispiel ist das 36. Jahr für viele Männer ein sehr kritisches Jahr, weil da eine grössere Veränderung stattfindet, von der man nichts weiss. Nämlich die Sonne wendet sich zum Abstieg, und dann kann sich die Weltanschauung in einer merkwürdigen Weise verändern." (1) Dies alles gilt natürlich auch für viele Frauen.
Was hat die Lebenswende mit dem Lauf der Sonne zu tun? Stellen wir die Jahresbahn der Sonne symbolisch als Kreis dar und setzen diesen gleich dem menschlichen Lebenslauf von 72 Jahren, dann markiert das 36. Lebensjahr die Mitte dieses Zyklus und zugleich die Halbzeit des Lebens. Die Zahl 72 ist keineswegs willkürlich gewählt. Sie kommt in der Mythologie sehr häufig vor, entspricht sie doch dem 6er-Rhythmus im Ablauf des menschlichen Lebens. In der astrologischen Psychologie gilt sie als kosmische Zahl, weil jedes der zwölf Horoskop-Häuser einen Zeitraum von sechs Jahren beinhaltet und je einem bestimmten Erlebnis- und Tätigkeitsbereich entspricht. Die Summe aus den zwölf Feldern zu je sechs Jahren ergibt die Zahl 72.
Trotz der in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegenen Lebenserwartung fällt die Lebensmitte nach wie vor ins 36. Lebensjahr. Offensichtlich ist dies schon seit Jahrtausenden so, obwohl die Menschen im Durchschnitt früher ein weit geringeres Alter erreichten als heute. In den biblischen Psalmen können wir nachlesen: " Unser Leben währt siebzig Jahre... " (Ps. 90, 10). Wenn im Alten Testament davon die Rede ist, dass ABRAHAM 930 Jahre alt wurde und METHUSALEM gar 969 (1. Mos. 5, 21), sind das Angaben nach dem damals gebräuchlichen Mondkalender. Nehmen wir ein Sonnenjahr gleich dreizehn Mondjahre und teilen die erwähnten Altersjahre durch die Zahl dreizehn, so erreichte der Stammvater Israels rund 72 Lebensjahre und der Urvater Methusalem ist ungefähr 74 Jahre alt geworden.
In den ersten 36 Lebensjahren, welche sozusagen den Frühling und Sommer des Lebens darstellen, darf der Mensch sein Ich entfalten. Er soll seine Anlagen verwirklichen und sich der Aussenwelt zuwenden, um dem Naturzweck zu dienen. In der zweiten Lebenshälfte vom 36. bis zum 72. Altersjahr, welche den Herbst und den Winter des Lebens versinnbildet, muss er sein Ego wieder abbauen. Nun ist er aufgefordert, sich nach innen zu wenden und dem Kulturzweck zu dienen. Es ist eine Tatsache, dass die meisten Menschen völlig unvorbereitet die Schwelle der Lebenswende überschreiten, weil sie sich dieser Veränderung in ihrem Leben gar nicht bewusst sind. Wer nun weiterhin so zu leben gedenkt wie bis anhin, dem wird es früher oder später schmerzlich bewusst, dass er nicht mehr der gleiche Mensch ist. Die Interessen und Neigungen ändern sich, die mitmenschlichen Beziehungen nehmen einen anderen Verlauf. Was bis jetzt gültig war, scheint nun auf einmal nicht mehr zu gelten. Dies rechtzeitig einzusehen, bewahrt den Menschen in der zweiten Lebenshälfte vor manchen Krisen und Enttäuschungen. Es bestätigt sich die Einsicht von C. G. JUNG: " Wir können den Nachmittag des Lebens nicht nach demselben Programm leben wie den Morgen, denn was am Morgen viel ist, wird am Abend wenig sein, und was am Morgen wahr ist, wird am Abend unwahr sein. " (2)
Die Lebensmitte ist erfahrungsgemäss eine wichtige Zeit, die sowohl Krisen als auch Chancen bringen kann. Krisenhaft ist diese Lebensphase deshalb, weil jetzt manches aufgegeben oder zumindest in Frage gestellt werden muss, was bis dahin gültig war. Dies ist typisch für die sogenannte "midlife crisis". In diesem Alter steht der Mensch wie an einem Scheideweg. Es findet eine Art Umpolung statt. Deutliche Veränderungen in der Lebensführung zeichnen sich ab. Das Älterwerden wird langsam spürbar. Die vitale Leistungshöhe wird überschritten und erste Ermüdungserscheinungen mahnen, von nun an etwas kürzer zu treten.
Der erste Halbkreis des Lebenszirkels beginnt bei der Geburt mit dem Zeichen Widder. Der zweite fängt mit dem Zeichen Waage an. Das Feuerzeichen Widder ist bezeichnend für den jungen Menschen, der voller Tatendrang dem Leben entgegengeht, mutig und manchmal auch übermütig seine Energien entfaltet und seine Wünsche ausleben will. Das luftige Waagezeichen dagegen steht für Harmonie und Gemeinschaftssinn. Hier erfährt die zweite Hälfte des Lebens einen neuen Auftrieb. Von nun an muss sich der Mensch zunehmend als Teil eines grossen Ganzen sehen. Auch soll er sein Bemühen mehr als früher darauf ausrichten, der Gemeinschaft in Familie, Beruf und Öffentlichkeit zu dienen. Er muss sich auf die höheren, geistigen Bereiche des Lebens ausrichten und seine Erfolge weniger im äusseren Leben als vielmehr im inneren Erleben suchen. Was bis jetzt unbewusst gelebt wurde, wird nun zunehmend dem bewussten Erfahren zugänglich.
Toleranz, Friedfertigkeit und taktvolles Verständnis für andere ist nun erwünscht, um Gegensätze zu überbrücken. Nicht mehr sollen wir widderhaft mit einem "Entweder-Oder" entscheiden, sondern versöhnlich nach Waage-Art ein "Sowohl-als-auch-Denken" anstreben und damit kompromissbereit einen Ausgleich schaffen. Man nimmt die anderen, wie sie sind und gibt es auf, diese nach den eigenen Vorstellungen ändern zu wollen. Auch darf man den Freuden und dem Schönen des Daseins zugetan sein und diese mit Mass geniessen, ohne jene zu vergessen, denen dies nicht vergönnt ist. So schreibt C. G. JUNG: " Die Mitte des Lebens ist der Moment grösster Entfaltung, wo der Mensch noch mit seiner ganzen Kraft und seinem ganzen Wollen in seinem Werk steht. Aber in diesem Augenblicke auch wird der Abend geboren, die zweite Lebenshälfte beginnt. Die Leidenschaft ändert ihr Gesicht und heisst jetzt Pflicht, das Wollen wird unerbittlich zum Muss, und die Wendungen des Weges, die früher Überraschung und Entdeckung waren, werden zur Gewohnheit. " (3)
Es kommt jetzt zu einer Umwertung bisher gültiger Werte. Manches, was bisher in der persönlichen Wertschätzung hoch eingestuft wurde wie Freiheit und jugendliche Unabhängigkeit, tritt nun langsam in den Hintergrund. Dafür werden Sicherheit, Zufriedenheit und Pflichterfüllung deutlich höher eingeschätzt.
Nach dem 36. Lebensjahr fängt man an, sich selber und das, was man bis anhin getan hat, in Frage zu stellen. Erfahrungen und Erwartungen werden erstmals einander gegenübergestellt. Gleichzeitig stellt sich auch die Frage nach dem Sinn des eigenen Bemühens. Wozu soll das alles gut sein? Lohnt es sich überhaupt, so wie bis anhin weiterzumachen? Damit wird eine Standortbestimmung fällig und gleichzeitig wird Ausschau gehalten nach den nächsten Sprossen auf der Erfolgsleiter. Jetzt kommt es zu einer bewussteren Auseinandersetzung mit den Zielen und Plänen für das noch zu gestaltende Leben. Wer kein erstrebenswertes Ziel mehr vor sich sieht, der verfällt leicht dem öden Alltagstrott und bleibt stehen.
Die beruflichen Möglichkeiten und die partnerschaftlichen Bindungen werden hinterfragt und vielleicht auch in Frage gestellt. Neue Beziehungen können sich anbahnen, die sich später als bedeutsam erweisen. Deshalb zählen die Jahre nach der Lebensmitte häufig zu den erfolgreichsten des ganzen Lebens. Nicht selten kommt es aber auch zur Entfremdung in der Ehe. Man lebt sich auseinander. Was wunder, dass der Schwarzhandel beginnt, wenn die Zärtlichkeiten rationiert werden?
Jetzt wird es dem Menschen, ob Frau oder Mann, immer deutlicher bewusst, dass er älter wird und die Schatten des Lebens deutlich länger werden. Das Leben soll von nun an bewusster gesteuert werden. Es ist ratsam, sich von einigen Wunschgedanken wie sportliche Tüchtigkeit, unverwüstliche Gesundheit und jugendliche Ausgelassenheit langsam zu verabschieden. Die eigene Denk- und Lebensweise, aber auch die Ernährungsweise sind zu überprüfen und wenn nötig zu ändern. Der Ausstieg aus ungesunden Gewohnheiten ist nun angesagt. Wer dies vernachlässigt, wird eines Tages dem französischen Philosophen VOLTAIRE recht geben müssen: " In der ersten Hälfte des Lebens geben wir eine Menge Geld aus, um unsere Gesundheit zu ruinieren; in der zweiten Lebenshälfte geben wir nochmals viel Geld aus, um zu versuchen, unsere Gesundheit wieder herzustellen und inzwischen rinnt das Leben davon. "
Wer schon in der ersten Lebenshälfte die richtigen Weichenstellungen vorgenommen hat, wird den Übergang und die Wende auf seinem Lebensweg fast unbemerkt vollziehen und kann getrost seinen Weg zur seelischen und geistigen Höherentwicklung fortsetzen. Wer aber bis zum 36. Lebensjahr nur an sich selber dachte, eigennützig alles von sich wies, was ihm nicht persönlichen Erfolg einbrachte, wer sich um das Wohl und Wehe anderer nicht kümmerte, der wird in der zweiten Lebenshälfte zunehmend sich selber und anderen entfremden und im Alter vereinsamt und verbittert sein. Man kann eben nur ernten, was man sät.
Damit verknüpft ist die Forderung, jenen Teil unserer Seele aufzuspüren, zu erhellen und zu erziehen, den C. G. JUNG den "Schatten" nennt. Dies ist die vornehmste Aufgabe für all jene, die nach Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung streben. Daher ist es wichtig, dass wir uns um die Zeit der Lebensmitte auch mit dem bis anhin ungelebten und unentwickelten Teil unserer unbewussten Seele beschäftigen. Dies ist ein ganz entscheidender Schritt auf dem Weg zur vollen Persönlichkeitsreife. Vollziehen wir diesen nicht bewusst und freiwillig, kann es sein, dass wir durch schicksalhafte Geschehnisse, die von aussen auf uns zukommen, hierzu gezwungen werden.
Seien wir uns mit C. G. JUNG bewusst: " Von der Lebensmitte an bleibt nur der lebendig, der mit dem Leben sterben will. Denn das, was in der geheimen Stunde des Lebensmittags geschieht, ist die Umkehr der Parabel, die Geburt des Todes. Das Leben der zweiten Lebenshälfte heisst nicht Aufstieg, Entfaltung, Vermehrung, Lebensüberschwang, sondern Tod, denn sein Ziel ist das Ende. Seine-Lebenshöhe-nicht-Wollen ist dasselbe wie Sein-Ende-nicht-Wollen. Beides ist: Nicht-leben-Wollen. Nicht-leben-Wollen ist gleichbedeutend wie Nicht-sterben-Wollen. Werden und Vergehen ist dieselbe Kurve. " (4)
Damit verbunden ist häufig eine neue und ungeahnte Erfahrung mit sich selbst, wie dies R. M. RILKE beschrieb: " Ich lerne sehen. Ich weiss nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich hinein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiss nicht, was dort geschieht. "
Wer seines Lebens Halbzeit erreicht hat, gleicht einem Wanderer auf einer Bergtour. Er hat die Mühen des Aufstiegs bereits zur Hälfte hinter sich und gewinnt nun die ersten Höhen, die ihm den Blick weiten zu den nicht mehr allzu fernen Gipfeln. Dies mag der Philosoph FRIEDRICH NIETZSCHE empfunden haben, als er schrieb:
Lebensmittag! Zweite Jugendzeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähen und Warten!

Dr. Beat Imhof


Literaturhinweise:

(1) FISCHLI, LELA: C. G. Jung im Gespräch. Daimon Verlag, Zürich 1986, S. 311-312.
(2) JUNG, C. G.: Über die Dynamik des Unbewussten. Ges. Werke, Band 8, Walter Verlag, Olten, Freiburg 1971, S. 455.
(3) JUNG, C. G.: Über die Entwicklung der Persönlichkeit. Ges. Werke, Band 17, Walter Verlag, Olten, Freiburg 1982, S. 219.
(4) JUNG, C. G.: Seele und Tod. Ges. Werke, Band 8, Walter Verlag, Olten, Freiburg 1971, S. 466.


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Letzte Änderung am 5. August 2000