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Geisteswissenschaft - Philosophie / Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Juli 1998, Nr. 4, III. Jahrgang, S. 142 ff.)

MUSSE - NICHT MÜSSIGGANG

Die Musse gilt als positive Lebenseinstellung, ja als wahre Lebensphilosophie. Dagegen wird dem müssigen Umgang mit der Zeit nachgesagt, er sei aller Laster Anfang. Ein Müssiggänger pflegt ebensowenig die Musse wie ein Arbeitsbesessener. Der eine vergeudet sinnlos und untätig seine Zeit, der andere nimmt sich keine Zeit für die Musse. Wer müssig herumlungert, der ist von Langeweile geplagt. Er liebt den Tummelplatz der Zerstreuung. In der Klosterregel des HL. BENEDIKT heisst es: "Müssiggang ist ein Feind der Seele" und der Volksmund weiss zu sagen: "Ein müssig Gehirn ist des Teufels Werkstatt". Von der Musse aber schrieb MARTIN LUTHER: "Man kann auch Gott dienen durch Musse, ja sogar durch nichts mehr als durch Musse." So ist also die Musse eine Himmelsgabe, der Müssiggang aber eine verderbliche Zeitverschwendung. Müssiggang bietet lediglich oberflächlichen Lebensgenuss, die Musse aber schenkt uns vertiefte Lebensfreude.
Im klassischen Altertum war die Musse ein zentrales Anliegen der grossen Philosophen in Athen und Rom. Das griechische Wort für Musse heisst "scholé". Von diesem stammt unser deutsches Wort Schule ab. Man verstand darunter die günstige Zeit und den Anlass, um innezuhalten, nachzudenken, in sich zu gehen, um dann neu und verwandelt wieder aus sich herauszutreten. So wird uns klar, dass Musse nicht Zeitvertreib, sondern Lernzeit bedeutet. Dieser wohnt ebenso ein hoher Bildungswert inne wie dem schulischen Unterricht. Oft erkennen wir darin die berufliche Neigung und Eignung eines jungen Menschen sogar besser als in den erzielten Schulnoten. Echte Bildung zeigt sich in späteren Jahren gerade in dem, was bleibt, wenn man vergessen hat, was einem in der Schule beigebracht wurde. Und das sind oft die Früchte liebevoll gepflegter Mussestunden.
Die Lateiner kannten für das Wort Musse den Begriff "Otium". Damit meinten sie die Zeiten stiller Zurückgezogenheit vom öffentlichen Leben in Beruf und Gesellschaft. Noch heute wünscht man einem Menschen, wenn er in Pension geht, ein "Otium cum dignitate", ein Ruhestand mit Würde, was soviel heissen soll wie einen beschaulichen, geruhsamen Lebensabend in verdienter Daseinsfreude.
In der Musse sollten wir lernen, mit unserer Zeit sinnvoll umzugehen, um besinnlich über unser Dasein nachzudenken und über das, was für uns letztendlich gültigen und endgültigen Wert besitzt. Deshalb meint ein chinesisches Sprichwort: " Einen Tag ungestört in Musse verbringen, heisst einen Tag lang ein Unsterblicher zu sein. "
Das Gegenteil von "Otium" ist das "Negotium", die Unmusse, die der Musse vorenthaltene Zeit, welche zu Hast, Hektik und Hetze führt. Das Wort "müssig" verwenden wir auch, um etwas als nutzlos und überflüssig zu bezeichnen.
Musse ist freilich nicht gleichzusetzen mit nichts tun und faulenzen. Ganz im Gegenteil: Sie ist ein Tätigsein in Ruhe und Gelassenheit. So konnte der römische Philosoph und Politiker Cicero (106-43 v. C.) von sich behaupten: " Niemals bin ich weniger müssig, als in meinen Mussestunden. "
Musse meint daher auch nicht bloss die arbeitsfreie Zeit. Vielmehr handelt es sich um ein Tätigsein, das wir aus freien Stücken verrichten dürfen, ohne dabei dem inneren Zwang des verpflichteten Müssens zu folgen. Sich einer Liebhaberei hingeben, ein Hobby pflegen kann mit einem erheblichen Aufwand an Zeit und Einsatz verbunden sein, den wir aber freudig und freiwillig leisten.
Mussezeiten schaffen einen wohltuenden Ausgleich gegenüber den täglichen Herausforderungen, die der Lebenskampf von uns fordert. Wer diesen schadlos überstehen will, der braucht einen Zufluchtsort, den er ab und zu aufsuchen kann, um allein zu sein oder um sich unbeschwert mit Gleichgesinnten zu treffen. Wer sich diesen Ausgleich erst in späteren Jahren leisten will, der kommt vielleicht gar nicht mehr dazu, weil er vorzeitig aufgebraucht und ausgebrannt ist, was heutzutage leider so manchem geschieht, der über Jahrzehnte nur auf Karriere, Erfolg und materiellen Gewinn bedacht war.
Wer die Musse pflegen will, braucht hierzu Stille und Sammlung. Gelegenheit hierzu kann uns eine freie Stunde, ein Feierabend oder ein Wochenende schenken. Mussezeit ist nicht gleichzusetzen mit Freizeit oder Ferienzeit. Letztere dient der Entspannung und Erholung vom Arbeitsstress etwa bei Spiel oder Sport, bei Unterhaltung und Ablenkung von den Alltagssorgen. Dagegen bedarf die Musse der aufmerksamen Wendung nach innen, die uns erst richtig frei macht für ein betrachtendes Denken und besinnliches Nachdenken über uns selbst. Dies ist der beste Weg zu vertiefter und verinnerlichter Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis.
In Zeiten der Musse können wir uns mit Dingen beschäftigen, die uns am Herzen liegen, die uns befriedigen können und unserem Leben erst den richtigen Wert verleihen. Hierzu benötigen wir keinen äusseren Luxus. Dieser kann der schöpferischen Musse sogar abträglich sein. Der Psychiater und Kreativitätsforscher GOTTLIEB GUNTERN berichtete 1993 in einem Radio-Interview von einem Experiment, bei dem mehrere Künstler für drei Wochen in eine feudale Villa auf dem Land eingeladen wurden. Für das leibliche, genüssliche Wohl war reichlich gesorgt. Die Künstler, es waren darunter Maler, Bildhauer, Musiker und Schriftsteller, hatten lediglich den Auftrag, jeder für sich ein Kunstwerk zu schaffen: Keiner brachte etwas zustande. Ob all der unbeschwerten Zeit, die ihnen vergönnt war, fehlte ihnen die richtige Musse.
Junge Menschen sollten sich Zeit zur Musse nehmen, um ihr zukünftiges Leben zu planen und auf ein lobenswertes Ziel auszurichten. Ältere Menschen müssten ab und zu rückwärtsblickend ihre vergangenen Jahre und Jahrzehnte überdenken, um daraus wesentliche Erkenntnisse zu gewinnen, was unser Leben wirklich lebenswert macht und was am Ende davon bleibt, wenn es gilt, Abschied zu nehmen und loszulassen, was einen über lange Jahre festgehalten hat. Hierzu eignen sich die Zeiten der Musse am besten.
Ein schönes Beispiel hierfür bringt der waadtländische Dichter C. F. RAMUZ (1878-1947), indem er das Gespräch eines alten Mannes mit seiner betagten Gattin in einer abendlichen Mussestunde beschreibt: "
[ Die nächsten drei Abschnitte sind kursiv im Original. ]
"Komm, Frau, setz' dich hier neben mich auf die Bank vor dem Haus. Es ist dein gutes Recht, nach vierzig Jahren, die wir zusammen sind. Heute abend, da es so schön ist, und da es auch der Abend unseres Lebens ist, hast du wohl verdient, einen Augenblick auszuruhen. Nun sind die Kinder versorgt, sie haben ihren Weg durch die Welt gefunden, und wiederum sind wir allein, wie damals als wir anfingen.
Erinnerst du dich? Wir hatten nichts um anzufangen, alles war erst noch zu schaffen. Wir sind daran gegangen, aber es war schwer. Es braucht Mut und Willen zum Durchhalten. Es braucht Liebe, und die Liebe ist nicht das, was man meint, wenn man anfängt. Sie besteht nicht nur aus diesen Küssen, die man einander gibt, nicht nur aus den kleinen Worten, die man sich ins Ohr flüstert, oder daraus, dass man sich fest aneinander schmiegt; die Zeit des Lebens ist lang, die Hochzeit dauert nur einen Tag - erst dann, weisst du noch? Erst dann hat das Leben begonnen.
Man muss aufbauen, es wird wieder abgebaut; man muss wieder aufbauen, und es wird wiederum abgebaut. Die Kinder kommen;- man muss sie ernähren, sie kleiden, sie erziehen; es will kein Ende nehmen; es kommt auch vor, dass sie krank sind; du warst die ganze Nacht auf, ich arbeitete vom Morgen bis zum Abend. Manchmal ist es zum verzweifeln; die Jahre folgen aufeinander, und man kommt nicht vorwärts, und man meint, es gehe wieder rückwärts. Weisst du noch, Frau? All diese Sorgen, all diese Ängste, aber du warst da. Wir sind einander treu geblieben. Und so habe ich mich auf dich stützen können und du stütztest dich auf mich. Wir haben das Glück gehabt, beisammen zu sein; wir sind beide an die Arbeit gegangen, wir haben gekrampft, wir haben standgehalten.
Die wahre Liebe ist nicht das, was man meint. Die wahre Liebe dauert nicht eine Zeit, sondern allezeit. Sie ist, einander zu helfen, einander zu verstehen. Und nach und nach sieht man, dass es doch recht herauskommt. Die Kinder sind gross geworden, sie haben ihren Weg gefunden. Wir hatten ihnen das Beispiel gegeben. Wir haben den Grund des Hauses gefestigt. Wenn alle Häuser im Land fest sind, dann wird auch das Land fest sein. Darum komm hierher neben mich und schau: Es ist die Zeit der Ernte und die Zeit zum Einspeichern. Wenn die Luft rosig ist, wie heute abend, und rosiger Duft überall zwischen den Bäumen aufsteigt. Komm ganz neben mich, wir wollen nichts reden, wir haben es nicht mehr nötig, zu reden. Wir haben nur nötig, noch einmal beieinander zu sein und die Nacht kommen zu lassen in der Zufriedenheit des vollbrachten Werkes. "
Vor allem ältere Menschen hätten Zeit zur Musse, aber sie nützen sie oft nicht. Statt dessen sitzen sie untätig herum und schlagen buchstäblich die Zeit tot. Dies kommt wohl daher, weil sie in jungen Jahren es verpasst haben, sich eine Lieblingsbeschäftigung anzueignen, die sie jetzt in den späteren Jahren pflegen könnten. Musse haben, heisst, sich Zeit nehmen, um etwas zu tun, was man mit Liebe und Hingabe tun kann, sich mit etwas beschäftigen, was die Seele erheitert und den Geist befähigt, hohe Werte zu verwirklichen, jedenfalls etwas, das dazu beiträgt, sich selbst zu verwirklichen, indem wir Fähigkeiten und Begabungen einbringen, die sonst brachliegen würden.
Suchen wir einen Ort auf, wo kein Radio lärmt, kein Fernseher stupiden Leerlauf verbreitet, einen Zufluchtsort, einen Musseort, wo Ruhe herrscht. Das kann eine Bank im Garten sein, eine Hängematte zwischen Bäumen, ein stiller Winkel im Haus oder in der Wohnung, ein Waldweg, eine Bergwiese, jedenfalls eine Möglichkeit, wo wir aussteigen können aus der mühsamen Tretmühle, um unseren bedrängenden Sorgen und alltäglichen Verpflichtungen vorübergehend zu entfliehen.
Der Umgang und die Beschäftigung mit dem Schönen ist uns zumeist nur in Zeiten der Musse möglich. Hierzu genügt eine halbe Stunde. Der Dichter HEINRICH VON KLEIST (1777-1811) hat uns ein gültiges Rezept hinterlassen: "Man müsste wenigstens täglich ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde betrachten, ein sanftes Lied hören oder ein herzliches Wort mit einem Freunde reden, um auch den schönern, ich möchte sagen, den menschlicheren Teil unseres Wesens zu bilden. "
Der Arzt CHRISTOPH WILHELM HUFELAND (1762-1836), ein Wegbereiter der modernen Sozialhygiene, schrieb:

Musse? Das ist das Gegenteil von Nichtstun. Es ist gesteigerte Empfänglichkeit, ein Tun, das nicht aus dem Zwang der Not kommt, nicht aus der Gier nach Gewinn, nicht aus dem Gebot oder der Pflicht, sondern allein aus der Liebe und der Freiheit. Es ist die anspruchsvollste aller Beschäftigungen, weil sie aus dem Kern unseres Wesens hervorgeht und aus der Freude am Schaffen selbst getan wird. Es ist vor allem die unverwelkliche Fähigkeit zum Staunen und zum Ergriffensein.

Dr. Beat Imhof


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Letzte Änderung am 1. August 2000