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Geisteswissenschaft - Religion
(Anm.d.Erf.: Der Artikel von Fred Pestalozzi stammt aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom März 1996, Nr. 2, I. Jahrgang, S. 39 ff)

Eine bemerkenswerte Laien-Predigt

r.p. - Unser Leserfreund, Herr Fred Pestalozzi aus Herrliberg/Zürich (Inhaber der weltbekannten Firma BIO-STRATH), war vom Pfarrer seiner Kirchgemeinde gebeten worden, am Reformations-Sonntag die Predigt zu halten. Die Wahl des Themas stand frei. Anfangs nicht sonderlich erbaut, sagte Herr Pestalozzi schliesslich zu und wählte als Thema: "Hinterfragen, denken, handeln, Verantwortung tragen". Diese Predigt gab offenbar dermassen viel Denkanstösse, dass noch wochenlang davon gesprochen und vielfach die Meinung laut wurde: "Solche Predigten würden die Kirchen wieder voll werden lassen."
Für die Abdruckerlaubnis dankend, bringen wir nachstehend den Predigttext in leicht gekürzter Form.

Die Jugend verbrachte ich im Sommer in Oberrieden. Jedes Jahr während Wochen, trafen sich im Elternhaus Theologen (Karl Barth, Emil Brunner, Bonhoefer, Gollwitzer und andere) zum Gedankenaustausch. Es herrschte jeweils eine gute, ernsthafte und fröhliche Atmosphäre. Es fanden ständig Streitgespräche statt. Als Jüngling hörte ich einiges mit. Es ging um die Auslegung von Bibeltexten. Alles wurde hinterfragt. Man einigte sich nicht. Die verschiedenen Meinungen wurden in vielen Büchern festgehalten.
Bei den Gesprächen nahm oft auch eine interessierte Frau aus Berlin teil. Sie erstellte mein Horoskop und betonte ein komisches Wort: Der "Leichenkutscher". Das tönt ziemlich makaber. Heute kann ich sagen, wie recht sie hatte; denn in den letzten 40 Jahren habe ich mich intensiv mit der Frage befasst, was mit uns passiert, wenn wir von dieser Erde abtreten. Mein Interesse daran wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt.
In meinem Leben hinterfragte ich alles. Ich will genau Bescheid wissen. Ich suche nach der Wahrheit, wie ich sie begreifen kann. Die Fähigkeit zu denken, kritisch zu denken, ist für mich ein Gottesgeschenk. Wir müssen sie nützen... Dies ist ein nötiger und dauernder Reformprozess. Das war auch bei Zwingli und Luther nicht anders. Sie reformierten althergebrachte Meinungen und Dogmen. Sie übersetzten die Bibel in die deutsche Sprache. Sie zeigten Zivilcourage. Sie blieben nicht anonym. Sie wagten, ihre Überzeugung zu vertreten.
Hierbei besteht auch eine Gefahr: Man reformiert und bleibt dann stehen. Wir meinen, jetzt die absolute Wahrheit gefunden zu haben. Das aber gibt es nicht. So entstehen Dogmen, die geglaubt werden müssen; und damit verbunden: Intoleranz.
Haben Sie auch schon die Bibel ganz durchgelesen? - ich will Ihnen sagen, wie ich dazu kam. Einst ärgerte ich mich riesig über einen Wissenschaftler, der aufgrund von Bibeltexten einer meiner Töchter die ewige Verdammnis versprach. Sie hatte ihre eigene Meinung über das Leben nach dem Tode geäussert. Ich wollte nun dieser Sache auf den Grund gehen und begann, die Bibel zu lesen von Moses bis zur Offenbarung Johannes. Das Studium dauerte zwei Jahre. Meine Feststellungen und Überlegungen habe ich dann in einer Schrift von 160 Seiten mit 35 Kapiteln zusammengefasst. Ich gab meiner Arbeit den Titel: "Inspiration oder Menschenwerk? Auf der Suche nach der Wahrheit."
Meine Mutter schenkte mir einst ein handgeschriebenes Büchlein, in welchem sie die schönsten Bibelstellen mit dem Wort "Geist" zusammenfasste. "Geist" kommt in der Bibel rund 120 mal vor. Hier drei Beispiele:
Moses (Schöpfungsbericht): "Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser." Das ist eindrücklich. - Psalm 77: " M e i n Geist muss forschen." Da fühle ich mich direkt angesprochen. In diesen beiden Bibelstellen wird angedeutet, dass Gottes Geist und unser Geist irgendwie identisch sind... So fass' ich es auf - 2. Korinther: "Der Buchstabe tötet aber der Geist macht lebendig." Das finde ich ausgezeichnet. Das heisst doch, der Geist steht über der Materie.
Ich habe dann später dasselbe versucht mit dem Wort "Liebe". Liebe und Geist, wie auch Freude, Treue, Freundschaft, Neid, Hass etc. sind ganz reale Dinge. Sie bewegen durch uns Menschen die Welt. Sie agieren auf unseren Körper. Sie machen uns gesund oder krank. - Aufgrund meiner Erfahrungen würde ich sagen, dass Krankheit keine Strafe Gottes ist. Wir selbst verursachen sie, indem wir uns nicht immer an die geistigen und physischen Gesetze halten.
Bei dieser Art des Bibelstudiums kommen dann plötzlich viele Gedanken, Ideen, Inspirationen. Es wird spannend. Es gibt Auswirkungen im täglichen Leben, in Familie, Beruf, im Umgang mit Menschen. Das soll es ja. Es ist ein Reformprozess, der in uns abläuft.
Die Bibel ist eigentlich ein widersprüchliches Buch. Ich lese sie nach dem Prinzip von Paulus im 1. Thessalonicher-Brief: "Prüfet alles und das Gute behaltet." - Hier drei Beispiele von Widersprüchen:
1) Ich frage Sie: Kommt man in den sog. Himmel, wenn man fest glaubt oder wenn man gute Taten tut? Oder braucht es beides? - Was sagt Paulus hierzu?
Römer: "Der Mensch wird gerecht, ohne die Werke, allein durch den Glauben." Römer: "Jedem wird gegeben nach seinen Werken." - Jakobus: "Der Glaube ohne Werke ist tot." - Ist das nicht etwas verwirrend? Als letzte Stelle Offb. Joh.: "Ihre Werke folgen ihnen nach.."
Ich stelle mir vor, dass uns die guten und schlechten Werke nachfolgen. Wohin? - In die geistige Welt. Dort werden wir mit diesen konfrontiert. Ich trage für alles, was ich tue, meine persönliche Verantwortung. Haben wir vielleicht die Möglichkeit wiedergutzumachen? Ich hoffe es. Übrigens kann ich es nicht glauben, dass dort "die ewige Ruhe" herrscht. Das wäre ja Stillstand.
Ein 2. Beispiel: Speziell in den vergangenen Jahren wurde darauf hingewiesen, dass laut Bibel Schwerter zu Pflugscharen gemacht werden sollten (Jes. 2,4). Zu meiner grossen Überraschung fand ich bei Joel (4, 10) die Stelle: "Macht aus euren Pflugscharen Schwerter. Der Schwache spreche, ich bin stark." Was sagen Sie dazu? Das sind zwei gegenteilige Aufforderungen in einem wichtigen und heiklen Bereich.
3.) Ein letztes Beispiel: In den zehn Geboten Mose steht, "Du sollst nicht töten!" - Im Buch Josua jedoch (Josua ist der Nachfolger von Moses, der die Israeliten ins Land Kanaan führte) steht: "Und der Herr sprach zu Josua... (Es werden zehn Städte aufgezählt, die Josua erobern muss) und Josua soll dabei "alle Lebewesen töten; Männer, Frauen, Schwangere, Kinder, Säuglinge, Ochsen, Schafe, Kamele, Esel, alle Seelen..., bis dass niemand übrigblieb, wie der Herr, der Gott Israels, geboten hatte."
Das ist für mich ziemlich schwer verdauliche Kost. Übrigens vermisse ich in den zehn Geboten Mose das wichtigste Gebot: "Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst." Das kam erst mit J e s u s im Neuen Testament.
Zu kurz in der Bibel kommt die F r a u. Paulus war weder ein Freund der Frauen noch des Heiratens. In der Bibel-Konkordanz finden Sie die Begriffe "Gleichberechtigung, Frauenrechte, Menschenrechte" nicht, die sind erst später entstanden. Ich gebe Ihnen noch vier Zitate über die Frau: Jesus von Sirach: "Ein Weib, das schweigen kann, ist eine Gabe Gottes." - Epheser: "Das Weib fürchte den Mann." - 1. Korinther: "Lasst eure Weiber schweigen in der Gemeinde." Ich suchte nach einer positiven Stelle und fand sie in den Sprüchen (14): "Durch weise Weiber wird das Haus erbaut." Dies weist auf die Bedeutung und zentrale Stellung der Frau in der Familie hin.
Wenn ich mit Leuten verschiedenster Herkunft zum Essen gehe, frage ich hie und da unverhofft: "Glauben Sie an ein Leben nach dem Tode?" Mit diesem Tabu will ich bewusst provozieren. Die Überraschung ist immer total. Eine solche Frage wird von mir als Geschäftsmann nicht erwartet. Oft ergeben sich wertvolle, unerwartete Diskussionen, oder man spricht dann gleich wieder vom Wetter...
Vor kurzem stellte ich diese Frage an drei Kollegen von der Handelsschule, Jahrgang 1940. Alle drei glaubten nicht an ein Weiterleben. Sie hätten auch noch keine Zeit gehabt, sich damit zu befassen. - Ich war überrascht. Geht es doch um eine weite Reise, die wir alle einmal antreten werden...
Meine Mutter sagte mir einst, sie wünsche mir ein schweres Leben. Das ist ein bisschen aussergewöhnlich, sie war aber eine weise Frau. Und so stellte sich mir die Frage: Gibt es einen positiven Aspekt in schweren Zeiten? Kann im Negativen auch Gutes liegen? Gibt es eine Gerechtigkeit Gottes? - Ich möchte all dies heute bejahen. Unser Lebensziel kann kaum sein, nur ein schönes und unbeschwertes Leben zu geniessen, sondern, dass wir die uns gestellten Aufgaben, wie immer sie seien, so gut wie möglich erfüllen. Mehr wird von uns nicht erwartet.
Ich habe ein Problem mit Beerdigungen. Die "lieben Verstorbenen" sind in die Ewigkeit eingegangen. Aber wo sind sie jetzt? - Die Engländer reden nicht von "sterben" oder "gestorben". Sie sprechen von "passing over", von Hinübergehen. Das klingt hoffnungsvoller.
Noch etwas: Wenn einst mein letzter Tag gekommen ist, hoffe ich, dass jemand bei mir ist, mit dem ich über die bevorstehende Reise offen sprechen kann. Ich wünsche mir keine Tabus, sondern Ehrlichkeit, Zuversicht und Fröhlichkeit. -
Ferner: Beim Heiraten geloben sich zwei Menschen, in guten und in schlechten Zeiten zusammenzustehen, "bis dass der Tod euch scheidet".
- Das sehe ich heute anders. Wenn von zwei Partnern oder Freunden, die eng miteinander verbunden sind, der eine hinübergeht, so gibt es wohl eine körperliche Trennung, aber keine geistige. Die Verbindung bleibt erhalten, auch über den sog. Tod hinaus. Es wird ein Wiedersehen und ein Wiedererkennen geben.
Wenn man dies akzeptieren kann - ich kann es - dann ändert sich unsere Lebensweise, ja unsere Einstellung zu allem Geschehen. Wir lassen das Materielle zurück. Wir werden freier. Wir freuen uns sogar ein bisschen auf das, was uns bevorsteht. Und die Angst vor dem Tode verblasst. - Das sind meine persönlichen Denkanstösse. Thank you and God bless you all.

Fred Pestalozzi


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Letzte Änderung am 4. Mai 2000