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Religion, Christentum, Bibel

Ein Beitrag von Dr. theol. Erich Lubahn aus der Zeitschrift 'WEGbegleiter' Nr. 3/2001, S. 87-90.
Anmerkungen des Erfassers stehen in [ ]-Klammern.

Esoterik der Bibel

Fünf Aspekte des hebräischen Denkens

Einer meiner Lehrer während meines Theologiestudiums an der Evang. Fakultät in Tübingen (Prof. Otto Michel, 1903 – 1993) sprach in einem Seminar von biblischer Esoterik und von okkulten Phänomenen in der Bibel. Die Folge war eine Unruhe bei den Studenten. Darum erklärte der Professor, die Bibel sei voll von Geheimnissen, die Kirche suche diese Geheimnisse in ihren Bekenntnissen und Lehren zu verdeutlichen. Dazu könne man das griechische Wort Esoterik verwenden, welches auf deutsch „Geheimlehre“ heisst. Genauso könne das Wort okkult, auf deutsch „verborgen“, gebraucht werden.
Als Theologen wollen wir alles kritisch beobachten und beurteilen. Weil man heute in der Kirche über die verborgenen Geheimnisse der Bibel wenig spricht, suchen viele Menschen esoterische Erkenntnisse aus anderen Quellen. Esoterik ist heute zu einem Geschäft geworden. Nach „Zauberei“ wird gefragt. Darum muss man negative von positiver Esoterik unterscheiden lernen, entsprechend dem biblischen Grundsatz: „Prüfet alles, und das Gute behaltet.“ (1. Thess. 5,21)
Eine zentrale Aussage über die biblische Esoterik ist das Verständnis vom hebräischen Denken. Das versuche ich in den folgenden fünf Abschnitten zu verdeutlichen.

I. Wir lernen Gott in seinen Taten kennen

Der jüdische Philosoph Martin Buber (1878 – 1965) wurde nicht müde, immer wieder auf Gottes Tat seiner Schöpfung (Gen. 1) hinzuweisen. Wer angesichts der Schöpfung einen Schöpfer leugnet oder ignoriert, kann dies nur auf Kosten der Vernunft vollziehen. Paulus bezeugt, dass Gott an den Werken seiner Schöpfung erkannt werden sollte (Röm. 1,20). Gott will sich aber nicht nur in seinen Schöpfungswerken kundmachen. Darum sagt Jesus: „Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde?“ (Joh. 3,12). Mit der Bibel sucht Gott uns seine Taten in der Geschichte zu vermitteln. Gottes Handeln in der Geschichte ist situations- und zeitbezogen. Weil aber konkrete Situationen und bestimmte Zeiten einem beständigen Wechsel unterliegen, ist es uns verwehrt, von ihnen ein religiöses Schema von Gottes Handeln abzuleiten. Dieses lehrt uns lediglich gewisse, menschlich formulierte Attribute Gottes, wie Zorn und Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit; aber Sicherheit darüber, wie sein Handeln im Einzelfall in Zukunft aussehen werde, können wir nicht gewinnen, obwohl der natürliche Mensch nach solcher Sicherheit verlangt. Die Bibel bietet uns kein Schema, was Gott im einzelnen zu jeder Zeit gleichermassen tut. Wer zu dem Gott der Bibel ein Vertrauensverhältnis aufbaut, verlässt sich auf das Dass seines Handelns, nicht auf das Was und Wie. So entsteht das „Dennoch des Glaubens“ (Ps. 73). Dieser Glaube entspricht dem hebräischen Denken. Vergleiche dazu das schöne Wortspiel Jes. 7,9: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht.“ (Für Glauben und Bleiben ist im Hebräischen die gleiche Wurzel „aman“ benützt.)
Der Glaubende hat auf Überraschungen gefasst zu sein (z. B. Gen. 15,6; 22,lf. u. 11-18).
Der Hebräer ist an Gottes Handeln in der Geschichte und an der dabei erfolgenden Offenbarung seines Wesens und Wirkens interessiert und orientiert. Sein Denken und seine Gotteserkenntnis wird auf zweierlei Weise geformt:
a) durch geschichtliche Ereignisse,
b) durch das diese Ereignisse deutende, den Propheten geoffenbarte Wort.
Von diesen zwei Grössen ist unsere ganze Bibel erfüllt. Die Geschichte Israels und die der Völker wird erzählt und für uns durch das prophetische Wort gedeutet, als Gottes Handeln bedeutsam gemacht. Von diesen zwei Weisen der Offenbarung ist unsere ganze Bibel gekennzeichnet. Eine biblische Theologie fragt darum bei jedem Text: a) Was ist geschehen? und b) Was will Gott durch dieses Geschehen sagen? Dabei bedarf es des prophetischen Wortes. Denn das Göttliche ist für uns Menschen nicht selbstverständlich. „Der Herr spricht: Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege.“ (Jes. 55,8 f)

II. Gott sucht den Menschen

Die Nationen („Heiden“) suchen Gott und haben ihre vielfältigen Bilder von ihm (Götter). Die Bibel und das von ihr gelehrte hebräische Denken kennt, streng genommen, keine Philosophie, die von menschlichen Erfahrungen und Denkweisen her Gott sucht, und ihn zu bestimmen, zu definieren sucht. Das hebräische Denken ist von Gott durch seine Offenbarung bestimmt. Der jüdische Theologe Abraham J. Heschel (1907 – 1973), der „amerikanische Buber“, ist ganz vom hebräischen Denken geprägt, wenn er bekennt: „Gott sucht den Menschen.“ Das sei das Thema der Bibel. Aus seiner unergründlichen ewigen Liebe sucht Gott den Menschen. Die Erwählung Abrahams, die Erwählung Israels, gipfelt in der Heilsverheissung: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen. 12,2). In diesem Zusammenhang sagte Otto Rodenberg oftmals in unseren Seminaren: „Die Erwählung ist partikular; und das vom Erwählten ausgehende Heil ist universal.“ Im Blick auf den erwarteten Messias betet Israel: „Durch Ihn sollen gesegnet sein alle Völker, und sie werden Ihn preisen. Gelobt sei Gott, der Herr, der Gott Israels, der allein Wunder tut! Gelobt sei Sein herrlicher Name ewiglich, und alle Lande sollen Seiner Ehre voll werden!“ (Ps. 72, 17b-19) In seinem Sohn Jesus Christus sehen wir, mit welch höchstem Einsatz Gott sein Ziel verfolgt. In Ihm erfüllt Gott alle seine Verheissungen!
Nach hebräischem Denken ist Gottes Erniedrigung die Voraussetzung für die Erhöhung des Menschen (Phil. 2, 5ff). Das ist ein pädagogischer Grundsatz. Wer einen anderen Menschen etwas lehren will, muss sich auf seine Verstehensebene begeben. So erniedrigte sich Gott in seinem Wort und in seinem Sohn Jesus Christus. Das Ziel der Erniedrigung Gottes ist es, dem Menschen die durch den Sündenfall verlorene Würde, ein Ebenbild Gottes zu sein, wieder zu vermitteln. Gott sucht Menschen, die das aus seiner Gnade durch den Glauben entdecken und annehmen.
Das von der griechischen Philosophie geprägte abendländische Denken, auch in der christlichen Theologie, sucht alles vom Anfang (archä) her zu verstehen. Abraham Heschel betont, dass das hebräische Denken in völligem Gegensatz dazu alles vom Ziel (telos) her zu verstehen sucht. Bei dem einen Denken geht es „von unten nach oben zum Ziel“, bei dem anderen „von oben, dem Ziel her, nach unten“. Bei dem einen Denken steht der Mensch mit seinen Möglichkeiten im Mittelpunkt, bei dem anderen Gott. Bei dem einen Denken kommt die theologische Philosophie sogar zu der Überlegung, ob Gott lebt oder tot sei. Bei dem anderen stellt Gott die Frage an den Menschen, ob er tot oder lebendig sei. Bei dem einen steht der Mensch im Mittelpunkt, bei dem anderen Gott.

III. Glauben an Gott – hebräisch verstanden

Von „Gott als dem grössten Rätsel des Menschen“ sprach Immanuel Kant (1724 – 1804) in vielen Zusammenhängen. So die Worte eines Philosophen. Als Psychologe sprach C.G. Jung (1875 – 1961) von „dem Menschen, der sich selbst das grösste Rätsel“ sei. Das biblische Zeugnis nach hebräischem Verständnis zu den beiden Aussagen lautet: Es gib kein wahres Gottesverständnis ohne Selbsterkenntnis, und umgekehrt: Es gibt kein wahres Selbstverständnis ohne Gotteserkenntnis. Beide Aussagen gehören zusammen! Wer das eine vom anderen trennt, bietet höchstens richtige Sätze in abstrakter Qualität. Beide Aussagen zusammen, das ist gerade das hebräische Verständnis, das eine Hilfe für das praktische Leben bietet.
Nach hebräischem Denken ist der Glaube ein Gottvertrauen für das tägliche Leben in individueller Betroffenheit des „Gläubigen“. In der abendländischen Christenheit ist der Glaube oft nichts anderes als ein abstraktes Fürwahrhalten über den Horizont der menschlichen Vernunft hinaus.
Nach Immanuel Kant (1724 – 1804) beginnt der Glaube, wo das Wissen aufhört. Martin Buber macht dagegen die Aussage: „Der Glaube ist ein Wissen auf höherer Ebene.“ Abraham Heschel sagt: „Glauben heisst nicht Kapitulation, sondern Aufstieg zu einer höheren Denkebene.“ - Wenn Immanuel Kant den christlichen Glauben als Nichtwissen definiert, Glauben und Denken trennt, macht er mit allen, die sich zu ihm bekennen, nur deutlich, dass ihm das Geheimnis noch verschlossen ist. Der lebendige Glaube öffnet das Mysterium (Geheimnis). Abraham Heschel sagt dazu: „An Gott glauben heisst: Verbindung mit dem höchsten Bereich haben, dem Bereich des Mysteriums. Das ist sein Wesen.“ Der nach Gott fragende Mensch mit „aufrichtigem Herzen“ (Spr. 2,7) und „demütiger Gesinnung“ (Jes. 57,15) begegnet aus der Gnade Gottes (1. Petr. 5,5) dem ihn suchenden Gott. Daraus resultiert ein erneuertes Denken (metànoia), welches das Weltbild erweitert und verändert. Also: Glauben nach hebräischem Verständnis heisst nicht Nichtdenken, sondern transzendierendes, auf Ewigkeit gerichtetes, erneuertes Denken. Durch dieses Denken wird der „tote Glaube“ gemieden und „lebendiger Glaube“ ermöglicht.
Entgegen der Behauptung, Glauben und Wissen seien gegensätzlich, leuchtet die biblische Aussage: „Wir aber wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (Rö. 8,28). Johannes bezeugt: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind.“ (1. Joh. 3,14). Dazu: „Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens.“ (Eph. 1,9)
Ein weiterer wichtiger Aspekt hebräischen Verständnisses vom Glauben lautet: Der Mensch lebt nicht im Sein, sondern im Werden. Unser abendländisches Denken ist wesentlich vom statischen Selbstverständnis geprägt, in dem Gott unbetroffen und unbeteiligt über den Dingen und über der Zeit steht. Aus diesem grundsätzlichen Seinsverständnis hat sich die Philosophie der Ontologie entwickelt. Auch die christliche Theologie wurde von dem statischen Seinsverständnis geprägt. Was Thomas von Aquin (1225 – 1274) in seinem von Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) herkommenden Denken für die katholische Kirche ist, wurde Immanuel Kant für den Neuprotestantismus, insbesondere in der modernistischen Theologie.
Der biblische Glaube ist nach dem hebräischen Verständnis ein ständiges Lernen, auf dem Weg des Glaubens im Gehorsam mit Gott zu leben. Auf diesem Weg werden wir beständig verändert. Das ist ein Prozess des neuen Lebens (zoä). Diesen Prozess nennt die Bibel Heiligung. Sie ist eine Folge persönlich erfasster „Rechtfertigung durch den Glauben“. Auf diesem Weg ist der Mensch nie fertig, sondern lernt mit Paulus der Vollendung nachzujagen (Phil. 3,12 – 14).
Jeder fragende und suchende Mensch, der sich von Gott finden lässt, verwandelt sich ständig in seinem Denken und praktischen Leben. Dabei gewinnt er eine zunehmende Erkenntnis von Gott und von sich selbst. Er bleibt nie im statischen Sein stehen, sondern befindet sich in ständigem Werden. Dabei darf er die glaubende Zuversicht haben: „ER ist es, der es schafft!“.

IV. Daran denken, was Gott in der Vergangenheit tat und was Er tun wird in der Zukunft

In der jüdischen Tradition, besonders an Festtagen, spielt das Gedenken (zékhor, bzw. zachor) an das, was Gott in der Geschichte Israels tat und was er eschatologisch in der Zukunft tun wird, eine entscheidende Rolle. Es geht um die Vergegenwärtigung von heilsgeschichtlichen Ereignissen in der Vergangenheit und Zukunft. „Vergiss nicht“ (Ps. 103,2): Das ist Israel aufgetragen. Von dieser Vergegenwärtigung von Gottes Taten und Verheissungen lebt im hebräischen Denken auch der Christ. Einen ganz besonderen Schwerpunkt legt der Jude auf das Passahfest, den Auszug Israels aus der Knechtschaft Ägyptens, die Wüstenwanderung und den Einzug ins gelobte Land. Nach hebräischem Denken wird dieses geschichtliche Ereignis auch auf die Zukunft im eschatologischen Sinn gedeutet. Dieses Gedenken soll den Juden zu allen Zeiten für ihre jeweilige Gegenwart eine Glaubensstärkung sein.
In einem Seminar erläuterte Otto Michel, wie er in Jerusalem in einer jüdischen Familie das Passahfest miterlebte. Der Hausvater dankte Gott im Gebet, dass Er ihn aus Ägypten befreit habe. Ein Kind fragte den Vater, ob er denn dabei gewesen sei? Darauf antwortete der Hausvater, dass er durch den Glauben heute an dem einmal geschehenen Ereignis teilnehme und mit der Vollendung des Geschehens für die Zukunft rechne. – In dieser Gesinnung wird auch heute noch in der Synagoge das Vorwort zum Dekalog bekannt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägyptens, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt hat!“ (Ex. 20,2)
Das Gedenken ist sowohl auf der Seite Gottes (Ex. 3,16), als auch des Menschen. Franz Rosenzweig versichert uns, dass Israel so lange die grossen Taten Gottes in der Vergangenheit in seinen Gottesdiensten bezeugt, bis schliesslich alle Seine Taten im messianischen Reich zur Vollendung geführt werden.
Im christlichen Gottesdienst geht es auch zentral darum, das, was Gott getan hat und noch tun wird, durch die Predigt und das Abendmahl zu vergegenwärtigen. Die Predigt sollte für Martin Luther das unwandelbare Zeugnis der Bibel für die sich ständig wandelnde Gegenwart verdeutlichen. Darum ging es ihm auch im Streit um das Abendmahl, wenn er die Bibelworte bezeugt: „Das ist mein Leib... Das ist mein Blut...“. Um diese Bibelworte zu streiten, bringt niemandem etwas; im Gegenteil, es schadet nur. In jedem Gottesdienst sollte man vergegenwärtigend die Weckung und Förderung des biblischen Glaubens anstreben.
Heschel sagt im Blick auf sein Volk Israel: „Wir sind sein Volk, in dem die Vergangenheit fortdauert, in dem die Gegenwart ohne vergangene Augenblicke unvorstellbar ist. Die Vision der Propheten dauerte einen Augenblick – einen Augenblick, der für immer fortdauert. Was einmal geschehen ist, geschieht immer... Zeit ist keine leere Dimension. Ihr Sinn kann wie ein kostbares Gebäude sein, wenn wir wissen, wie man es mit kostbaren Taten baut... In Gottes Zeit gelangen wir durch heilige Taten. Die Taten, Akte der Heiligung der Zeit, sind der alte, ererbte Grund, wo wir Ihm immer wieder begegnen.“
Im hebräischen Glauben wird das Gegenwärtige als eine durch heilige Taten zu verantwortende Zeit gesehen. Für Gott und vor Ihm werden die Taten der Menschen für alle und für immer unauslöschlich ernst genommen. Sie werden in einem „himmlischen Buch“ registriert und aufgehoben zum Gericht (Dan. 7,10; Offb. 20,12). In der Ewigkeit Gottes sind die Taten des Menschen von entscheidender Bedeutung. Das sollte jeder Mensch ernst nehmen (Gal. 6, 7-10; 2. Kor. 5,10).

V. Die Verbundenheit der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung

„Himmel und Erde“ (Gen. 1,1) gehören nach hebräischem Verständnis als eine Schöpfung zusammen. Sie sind in einer Entsprechung aufeinander bezogen. Das verdeutlicht Martin Buber gemäss der jüdischen Tradition mit dem ersten Buchstaben der Bibel, das Beth im ersten Wort von Gen. 1,1: bereschit (Im Anfang), welches als Zahl zugleich zwei bedeutet. Beth hat im hebräischen Schriftzeichen zwei horizontale Linien, die mit einer vertikalen Linie verbunden sind. Die zwei übereinander liegenden Linien wollen die Zweidimensionalität des biblischen Zeugnisses von Himmel und Erde veranschaulichen. Beide Dimensionen sind durch eine vertikale Linie verbunden. Der Mensch ist nach Gottes Schöpfungsordnung „Bürger beider Welten“, der einen Schöpfung Gottes. Es sei noch besonders vermerkt, dass Martin Buber gemäss der hebräischen Tradition unter Himmel in der Schöpfungsgeschichte „die unsichtbare Schöpfung in mehrfachen Dimensionen“ sieht. Darum ist in Gen. 1,1 auch vom Himmel im Plural, „die Himmel“, die Rede. Aus dieser Sicht ist Paulus zu verstehen, wenn er vom dritten Himmel spricht (2. Kor. 12,2).
Exegetisch ist es von Bedeutung, ob die Bibel vom Himmel im Singular oder Plural spricht
(z. B. 1. Kön. 8,27: „Der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen“). Jesus, „der hinunter gefahren ist ins Totenreich“, „ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel“ (Eph.4,1) zur Rechten Gottes, „in den überhimmlischen Bereich“ (taepourania, Eph. 1,2). Man kann in diesem Zusammenhang von einer Dreidimensionalität sprechen:
1. die Erde als sichtbare Schöpfung,
2. die Himmel als die unsichtbare Schöpfung und
3. der Himmel Gottes, von dem Jesus kam, bevor er Mensch wurde (Phil. 2, 5-11), und zu dem Jesus nach seiner Himmelfahrt zum Thron Gottes zurückkehrte („in den Himmel“, Apg. 1,11).
Der Gipfel der Aufklärung ist die Hypothese: Es gibt nur die eine Welt, in der wir leben, und die wir erforschen können (Hegel, Feuerbach und Nietzsche). Karl Marx (1818 – 1893) hat diese Weltanschauung zur Grundlage des Sozialismus und Kommunismus gemacht. Besonders tragisch ist dabei, dass beide Eltern von Karl Marx aus rabbinischen Familien kamen. Er wurde zum orthodoxen Judentum erzogen. In seinen Ausführungen finden sich viele Parallelen zum messianischen „tausendjährigen Reich“. Das, was Israel für die Zukunft betend erwartete, wollte Karl Marx für die Gegenwart ohne jegliche religiöse Ambitionen realisieren. So wurde aus dem Juden ein Atheist. Die aufgeklärten deutschen Philosophen sind oft auch in einer frommen Tradition erzogen worden. Die sog. Existentialphilosophie hat sich über Martin Heidegger (1889 – 1976) in die evangelische Theologie eingeschlichen. Rudolf Bultmann (1884 – 1976) machte aus dieser Philosophie eine entmythologisierende Theologie. Für ihm nahestehende Theologen sind die biblischen Zeugnisse vom Himmel Mythen, die in aufgeklärtem Sinn neu (existential) interpretiert gehören. Die Auswirkung dieser Theologie ist heute noch mehr oder weniger bei Theologen und Pfarrern spürbar.
Alle fünf Aspekte des hebräischen Denkens können für Leser, die an der biblischen Esoterik interessiert sind, eine Hilfe für das Verständnis der Bibel werden. Sie können eine Hilfe sein denen, die mit den Fragen der Ungerechtigkeit und des Leids in der Welt und im persönlichen Leben nicht fertig werden. Nach biblischem Verständnis soll alles der individuellen Zubereitung für die Ewigkeit Gottes dienen. Ohne dies Wissen, das Ziel unseres Lebens, werden wir den Sinn unseres Lebens nicht zu begreifen imstande sein.

[ Dr. theol. Erich Lubahn ]


Bilder
Erich Lubahn: Sichtbare und unsichtbare Welten
Bild 1: Hinter der sichtbaren Welt (SW) existieren die – für die irdischen Menschen – unsichtbaren Zwischenwelten (UZW), die unsichtbare Finsterwelt (UFW) und die unsichtbaren Lichtwelten (ULW), „die Himmel“.
Jenseits der sichtbaren und unsichtbaren Welten befindet sich der Himmel Gottes, das ewige Reich.

(Aus: Lubahn, Auf der Suche nach der unsichtbaren Wirklichkeit, S. 55)

[ Anm.d.Erf.: Der Himmel Gottes ist in dieser symbolischen Darstellung der gesamte weisse Hintergrund des Bildes. Der Himmel Gottes ist also auch der Hintergrund der sichtbaren und unsichtbaren Welten. Mit anderen Worten: Aus der Stofflichkeit des Himmels Gottes (Urlicht) sind die abgestuften (weniger potenten) Stofflichkeiten (Odlichte) der sichtbaren und unsichtbaren Welten gebildet. ]

Zur Person

Dr. Erich Lubahn (geb. 1923), studierte Volkswirtschaft und Theologie in Berlin, Wien, Frankfurt/M. und Tübingen. Soldat von 1942-1945. 1945-1948 sozialpolitischer Berater beim Länderrat Stuttgart und Hauptgeschäftsführer des Deutschen Volksheimstättenwerkes. 17 Jahre Gemeindepastor, danach Leiter der Bibelkonferenzstätte Langensteinbacherhöhe bis zum Ruhestand. 1980-1990 Seminare für Theologiestudenten, dazu verschiedene Publikationen. Heute noch tätig als Referent in Seminaren, Predigten in Gottesdiensten und in der individuellen Seelsorge.


Literatur-Empfehlung

Lesern, die noch mehr Verständnis gewinnen wollen über das hebräische Denken, insbesondere auch im Hinblick auf die jüdische Literatur und Kabbala, sei das Buch „Von Gott erkannt – Gotteserkenntnis im hebräischen und griechischen Denken“ (Christliches Verlagshaus Stuttgart) empfohlen, welches Erich Lubahn gemeinsam mit anderen evangelischen Theologen herausgegeben hat.
[ Internet-Link: http://www.come2god.de/lubahnhebraeischesdenken.htm ]


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"