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Religion - Christentum

Artikel von Dr. Erich Lubahn, erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 3/2003, S. 40-57.
Anmerkungen des Erfassers stehen in [ ]-Klammern.

Der Mensch in der Verbundenheit mit der Unsichtbaren Welt

von Dr. Erich Lubahn

Die Frage nach dem Menschen ist untrennbar verbunden mit der Frage nach Gott. Immanuel Kant (1724 - 1804) sprach von "Gott, als dem grössten Rätsel des Menschen". Carl Gustav Jung (1875 - 1961) sprach von "dem Menschen, der sich selbst das grösste Rätsel" sei (1). Das biblische Zeugnis zu den beiden Aussagen lautet: Es gibt kein wahres Gottesverständnis ohne das Selbstverständnis des Menschen. Man kann auch umgekehrt sagen: Es gibt für den Menschen kein wahres Selbstverständnis ohne Gotteserkenntnis. Dieser biblische Zusammenhang wird besonders von jüdischen Schriftforschern vertreten (2). Wer nach Gott und dem Menschen fragt bzw. nach dem Menschen und Gott, findet in der Bibel klare Antworten.

I. Der biblische Schöpfungsbericht als Grundlage des Selbstverständnisses

Der erste Satz der Bibel ist nach jüdischem Verständnis nicht nur eine Überschrift, sondern eine Grundaussage der ganzen Bibel: "Am Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde" (1. Mo. 1, 1). Im Urtext ist vom Himmel im Plural die Rede. Gemeint sind die unsichtbaren Sphären der Schöpfung Gottes. Die (für uns) unsichtbare und die sichtbare Schöpfung Gottes sind nach hebräischem Verständnis in einer Entsprechung aufeinander bezogen. Das verdeutlicht Martin Buber mit dem ersten Buchstaben der Bibel, das Beit von 1. Mo. 1, 1: Bereschit (am Anfang), welches als Zahl zugleich zwei bedeutet. Beit hat im hebräischen Schriftzeichen zwei übereinander liegende horizontale Linien, die mit einer vertikalen Linie verbunden sind. Die zwei horizontalen Linien wollen die Zweidimensionalität des biblischen Zeugnisses von den Himmeln und der Erde veranschaulichen. Der Mensch ist nach Gottes Schöpfungsordnung "Bürger beider Welten der einen Schöpfung Gottes" (3). Es sei noch besonders vermerkt, dass Martin Buber gemäss der hebräischen Tradition unter Himmel in der Schöpfungsgeschichte "die unsichtbare Schöpfung in mehrfachen Dimensionen" sieht. Darum ist auch vom Himmel im Plural/Dual "die Himmel", die Rede. Aus dieser Sicht ist Paulus als Hebräer zu verstehen, wenn er vom "dritten Himmel" (2. Kor. 12, 2) spricht. Exegetisch [=(die Bibel) erklärend] ist es von besonderer Bedeutung, ob die Bibel vom Himmel im Singular oder Plural spricht (z.B. 1. Könige 8, 27: "Der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen"). Jesus, "der hinunter gefahren ist ins Totenreich", "ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel" (Eph. 4) zur Rechten Gottes, "in den überhimmlischen Bereich" (griech.: ta epourania, Eph. 1, 2). Man kann in diesem Zusammenhang von einer Dreidimensionalität sprechen: 1. Die Erde als die sichtbare Schöpfung, 2. die Himmel als die unsichtbare Schöpfung und 3. der Himmel Gottes, von dem Jesus kam, bevor er Mensch wurde (Phil. 2, 5-11), und zu dem Jesus nach seiner Himmelfahrt zum Thron Gottes zurückkehrte ("in den Himmel", Apg. 1, 11).

Der Gipfel der Aufklärung ist dagegen die Hypothese: Es gibt nur die Welt, in der wir physisch leben, und die wir erforschen können (Hegel, Feuerbach und Nietzsche). Karl Marx (1818 - 1893) hat diese Weltanschauung zur Grundlage des Sozialismus und Kommunismus gemacht (4). Besonders tragisch ist dabei, dass die Eltern von Karl Marx aus rabbinischen Traditionen kommen. Obwohl seine Eltern eine Beziehung zu Jesus ohne konfessionelle Bindung (im hebr. Sinn: Jeschua ha Maschiach) aufnahmen und ihren Sohn mit sechs Jahren taufen liessen, wurde er in der Tradition der "Orthodoxie" erzogen. In seinen Ausführungen finden sich viele Parallelen zum messianischen "tausendjährigen Reich". Das, was Israel und auch die Christenheit, für die Zukunft betend erwarten, wollte Karl Marx für die Gegenwart ohne jegliche religiöse Abhängigkeit realisieren. So wurde aus dem Juden ein Atheist. Die deutschen Philosophen der Aufklärung sind oft auch in frommer Tradition erzogen worden. So z.B. F.W. Nietzsche (1844 - 1900), der – seiner christlichen Tradition gemäss – als junger Mensch christologische Gedichte schrieb (5). Die sog. Existenzphilosophie hat sich über Martin Heidegger (1889 - 1976) in die evangelische Theologie eingeschlichen. Rudolf Bultmann (1884 - 1976) machte aus der Philosophie eine entmythologisierende Theologie. Für ihm nahestehende Theologen sind die biblischen Zeugnisse vom Himmel (ob im Plural oder Singular) Mythen, die im aufgeklärten Sinn neu (existential) interpretiert werden müssen. Die Auswirkung dieser "aufgeklärten Theologie" ist heute noch mehr oder weniger bei Theologen und Pfarrern spürbar (6).

Im Gegensatz zum aufgeklärten Denken steht das biblische Denken. Dieses ist "zielgerichtet" vom materiell Irdischen (Erde) zum geistleiblich Himmlischen "in verschiedenen Stufen" ("die Himmel"). Das betont in besonderer Weise die jüdische Kabbala (7). Bei ihr wird für das irdische und himmlische Leben die Verbundenheit von Leib, Seele und Geist betont. In diesem Sinn spricht Friedrich Christoph Oetinger (1702 - 1782) als einer der pietistischen Väter Schwabens in vielen Zusammenhängen von der "Leiblichkeit als dem Ende der Wege Gottes" (8). Dabei geht es nicht um eine materielle, sondern um eine geistige Leiblichkeit. In diesem Sinn bezeugt Paulus: "Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich... Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib" (1. Kor. 15, 42-44).

Der Mensch wurde von Gott als seine Repräsentation ("Gottes Ebenbild" 1. Mo. 1, 27) zur Herrschaft über die Erde und die unsichtbare Welt geschaffen mit dem Auftrag, sich alles Geschaffene untertan zu machen (1. Mo. 1, 28) (9). Der Mensch hat von seinem Schöpfer eine Heilsfunktion für alles Geschaffene.

Il. Der Mensch als lebendige und tote Seele

Der Mensch in der Verbundenheit mit der sichtbaren und unsichtbaren Welt wird an seiner Schöpfung deutlich. "Jahweh Gott machte den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm in seine Nase den Odem des Lebens; so wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen" (wörtlich nach dem Hebr. 1. Mo. 2, 7). Gemäss der Schöpfung hat der Mensch eine irdische Seite (Adam = "Erdling") und eine durch den Odem Gottes überirdische Seite. Das ist das hebräische Verständnis von "lebendiger Seele". Als solche ist der Mensch von Gott beauftragt zur Herrschaft über die sichtbare und unsichtbare Welt (über die Erde und die Himmel). Aus dieser Sicht hat der Mensch nicht eine Seele, sondern ist eine Seele, die sich durch die zwei Seiten manifestiert: Leib und Geist. Als "lebendige Seele" sollte der Mensch Gott untertan sein. Jedoch kam es zum Sündenfall (1. Mo. 3). Was war die Folge? Der Mensch wurde aus dem Garten Eden (der Gemeinschaft mit Gott) ausgewiesen. So wurde aus der "lebendigen Seele" eine "tote Seele" (10).

Wir beziehen den Ausdruck Tod i.d.R. auf das Ende des irdischen Lebens und setzen dies Wort mit dem Vorgang des Sterbens gleich. Das ist eine gefährliche Einseitigkeit und wird vielen Stellen der Bibel, die vom Tod sprechen, nicht gerecht. In der Bibel bedeutet Tod (wörtlich) Trennung (hebr. Mawäth). Auch das irdische Sterben ist eine Trennung, nämlich von Leib und Seele. In der Bibel geht es aber grundsätzlich um die Trennung des Menschen von Gott. So lesen wir in der Schöpfungsgeschichte: "Von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben" (1. Mo. 2, 17). Was nun durch den Sündenfall eingetreten ist, war nicht der leibliche Tod Adams, sondern der Tod als Trennung von Gott. Dieser Todeszustand wurde hervorgerufen durch die Störung der Lebensgemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen. Darum heisst es als Folge des Sündenfalles (des Ungehorsams): "Gott trieb aus und liess lagern gegen Osten vom Garten Eden (damit ist das Paradies gemeint) die Cherubim und die Flamme des kreisenden Schwertes, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewahren (1. Mo. 3, 24). Mit Tod ist in diesem Zusammenhang also nicht ein Aufhören der Existenz, sondern eine Existenz in der Gottestrennung gemeint und demnach ein Verfall der Lebenskraft. In diesem Zusammenhang spricht die Bibel von "toten Seelen" (Näphäsch met: 3. Mo. 19, 28; 21, 2; 22, 4; 4. Mo. 6, 6-11).

Das Neue Testament nimmt dieses Todesverständnis auf. So sagt Jesus im Gleichnis vom verlorenen Sohn: "Dieser dein Bruder war tot". Er sprach hier vom Sohn, der sich vom Vater getrennt hatte (Luk. 15, 32). An anderer Stelle sagt er: "Lass die Toten die Toten begraben" (Matth. 8, 22) und hat damit die toten Seelen im Blick. Paulus schrieb an die durch Jesus Erlösten: "Wir waren tot in den Sünden". Wer aber in der Hingabe an Gott "mit Christus gestorben" ist (Röm. 6, 8), hat die Trennung von Gott, den Tod überwunden. Mit Sünde meint er dabei Sonderung, Trennung von Gott (Eph. 2, 5). Ganz ähnlich sagt Johannes: "Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind" (griech.: Zoee = Leben mit Gott; 1. Joh. 3, 14). Wer im Glauben mit Jesus verbunden lebt, "ist vom Tod zum Leben hindurchgedrungen" (Joh. 5, 24). Wer dies begonnen hat zu begreifen, wird im täglichen Gehorsam mit Paulus bekennen: "Ich sterbe täglich" (1. Kor. 15, 31). Wer so lebt, vermag zu sagen: "Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn" (Phil. 1, 21). Wer so den Tod hinter sich hat, darf triumphieren: "Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel; Hölle, wo ist dein Sieg?" (1. Kor. 15, 55). Ein Mensch aber, der um die Todesüberwindung nicht weiss, ist mitten im irdischen Leben tot, das heisst: getrennt von Gott.

III. Der Mensch nach seinem Scheiden vom Irdischen

Nach dem Sterben aber setzt sich fort, was schon das irdische Leben bestimmt hat. Die Seele kommt in das Totenreich (hebr.: die Scheol). Leider ist das hebräische Wort Scheol, im Griechischen "Hades", i.d.R. mit Hölle übersetzt. Diese Übersetzung weckt falsche Vorstellungen. Die Scheol ist nach biblischem Verständnis der Aufenthaltsort der Verstorbenen, und zwar aller Verstorbenen, der "Gerechten" und der "Ungerechten" (Spr. 15, 24). Es entsprach zur Zeit Jesu allgemein der jüdische Auffassung, dass es dort verschiedene Bereiche gibt. Nur so ist Jesu Wort vom reichen Mann und dem armen Lazarus zu erklären (Luk. 16, 19-31). Für die Seelen der Frommen in Israel gab es einen Ort der Tröstung und für die Seelen der Gottlosen einen Ort der Qual. Der Ort der Tröstung wird "Abrahams Schoss" genannt. Er ist gleichbedeutend mit dem Paradies, das Jesus dem Schächer neben ihm am Kreuz zusagte (Luk. 23, 43). Die Gerechten warten auf den Tag des Messias, an dem das Totenreich für den Himmel Gottes geöffnet werden wird. Auch Abraham sah auf diesen Tag und verband damit eine lebendige Hoffnung (Joh. 8, 56; vgl. Jes. 57, 2; Ps. 16, 10; 49, 15 f; Spr. 23, 14).

In Jesus ist diese Hoffnung erfüllt. Wer an Jesus, den Messias glaubt, für den ist das Tor des Totenreiches in den Himmel geöffnet und er geht im Gehorsam auf diesem Weg. Das ist der gelebte Glaube. Im Gegensatz dazu gibt ein Fürwahrhalten biblischer Zusagen (abstrakter Glaube) kein wirkliches Leben aus Gott und mit ihm im Namen Jesu und getrostes Sterben.

Jesus sagt als der erhöhte Herr: "Ich habe die Schlüssel des Totenreiches" (Offb. 1, 18). "Die Toten (Gerechten) werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die wirklich Hörenden (die der Stimme des Herrn gehorsam sind) werden leben" (Joh. 5, 25). Jesus ist der Überwinder des Todes durch seinen Gehorsam bis zum Kreuz (Phil. 2, 8) geworden. Was durch Jesu Tod für die Hörenden begonnen hat, nimmt seinen Fortgang, bis der Tod als letzter Feind völlig entmachtet sein wird (1. Kor. 15, 25; Hebr. 2, 14). Gott sucht durch seinen Sohn das Verlorene, bis es sich finden lässt (Luk. 19, 10; 1. Chr. 28, 9). Paulus bezeugt im Hohen Lied der Hoffnung die völlige Todesüberwindung: "Denn ebenso, wie in Adam alle sterben, also werden sie in dem Christus alle lebendig gemacht werden" (1. Kor. 15, 45).

Dass jeder Mensch als individuelle Persönlichkeit (Seele) zwischen Leben und Tod steht, macht schon das Alte Testament deutlich. Ein grundlegendes Wort dafür lautet: "Siehe, ich habe dir heute das Leben und das Gute und den Tod und das Üble vorgelegt... So wähle das Leben..." (5. Mo. 8, 1). Dabei ging es um eine grundsätzliche Lebensentscheidung, die ein jeder Jude zu treffen hatte. Die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, Leben oder Tod, entspricht der apokalyptischen Vorstellung von den zwei Äonen, von zwei grundsätzlichen Heilsabschnitten, dem jetzigen und dem zukünftigen. Der neue Äon beginnt mit dem Kommen des Messias. Der Jude geht im Glauben diesem zukünftigen Äon, dem "ewigen Leben", entgegen. Wer ohne diese Erwartung lebt, ist tot.
Wenn die Bibel von "ewigem Leben" spricht, liegt der Schwerpunkt auf dem Wort Leben (griech.: Zoee). Gemeint ist damit das Leben im Gehorsam mit Gott, welches Jesus für alle Menschen gebracht hat. Darum sagt er zu den Seinen: "Ich lebe, und ihr sollt auch leben" (Joh. 14, 19). Wer dieses Leben als Jünger Jesu angenommen hat, vermag mit Johannes zu sagen: "Wir wissen, dass wir aus dem Tod (der Trennung von Gott) in das Leben (Gemeinschaft mit Gott durch Jesus) gekommen sind" (l. Joh. 3, 14).

Wenn im Neuen Testament von der Seele (Psyche) des Menschen die Rede ist, wird dies in deutscher Übersetzung oft mit Leben wiedergeben. Dabei handelt es sich jedoch nicht immer um eine lebendige Seele. Es kann auch, je nach dem Zusammenhang, eine tote Seele gemeint sein. Durch den Geist Gottes soll eine solche tote Seele zu einer lebendigen Seele werden (Gal. 5, 25; 1. Petr. 4, 5). Wer dies durch den gelebten Glauben erfahren hat, der vermag mit Paulus zu sagen: "Christus ist mein Leben" (Kol. 3, 3 f; vgl. Röm. 5, 10; 6, 6). Es geht also um die Qualität des Lebens (der Seele), ein Leben, das mehr ist als blosses Dasein, weil es in Gemeinschaft mit Gott besteht.

Jede Pflanze hat biologisches Leben (griech.: Bios). Jedes Tier hat biologisch-psychisches Leben. Und der Mensch? Er hat auch biologisches und psychisches Leben; aber er ist darüber hinaus auf ein Leben aus und mit Gott angelegt. Der Glaube an Jesus erschliesst dem Menschen mitten im irdischen Leben das Dasein des Himmelreichs. Es geschieht, was Jesus seinen Jüngern gesagt hat: "Das Reich Gottes ist mitten unter euch; es beginnt heute schon in euren Herzen inwendig" (Luk. 17, 21). Oft erwarten Menschen das Reich Gottes lediglich erst nach dem irdischen Abscheiden, dem Sterben. Es wird sich nach dem irdischen Tod das fortsetzen, was vorher existierte: Leben oder Tod, ein gelebter Glaube im Namen Jesu mit Gott, oder ein Leben im Tod, getrennt von Gott.

Jeder Mensch sollte sich während seiner irdischen Existenz fragen, ob seine Seele tot oder lebendig ist. Um hier zu einer klaren Antwort zu kommen, bedarf es ehrlichen und gründlichen Nachdenkens. Dabei kann es zum Umdenken (griech.: Metanoia, i.d.R. mit Busse übersetzt) kommen. Das Umdenken als Folge ehrlichen und gründlichen Denkens führt zu einem Neudenken, dem gelebten Glauben. Wer solches Denken, Umdenken und Neudenken mit entschiedener Willensentscheidung praktiziert, vermag in der Konsequenz mit Paulus zu bekennen: "Ich lebe, doch nun nicht ich (ego), sondern Christus lebt in mir" (Gal. 2, 20).

IV. Mit dem auferstandenen Gekreuzigten leben

Durch Jesu Gehorsam "bis zu seinem Tod am Kreuz" ist er durch die Auferstehung über alles erhöht worden. Wer in der Gesinnung Jesu Denken lernt, nimmt an dem, was Jesus für die ganze Welt tat, persönlich teil (Phil. 2, 5-11). Damit ist dem Menschen als Folge der Sünde die verlorene Dimension des Himmels neu erschlossen, geöffnet und durch den Glauben begehbar. Wer durch den Glauben mit dem auferstandenen Gekreuzigten lebt, der hat durch den Odem Gottes zur lebendigen Seele zurückgefunden. Wer das erfahren hat, rühmt allein die Gnade (sola gratia) Gottes.

Darum können die Apostel Jesu nicht genug davon sprechen, welche unermessliche Folge die Auferstehung Jesu hat. Sie ist die Wende vom alten zum neuen Äon. "Gott hat uns mit Christus auferweckt und in die Himmelswelt versetzt" (Eph. 2, 6). Damit ist dem Menschen "in Adam'" die verlorene Dimension der unsichtbaren Welt, der Himmel (Plural) und des Himmels (Singular) "in Christo" wieder erschlossen und zugänglich geworden. Der Mensch ist damit zur Ebenbildlichkeit Gottes zurückgekehrt. Er darf sich jetzt bewusst "Gottes Kind" und in der Reife "Gottes Sohn" nennen. In diesem Sinn nannte Jesus die Seinen: Brüder und Schwestern (Matth. 12, 50; Röm. 8, 29).

V. Die unsichtbare Welt muss differenziert werden

Wenn uns durch den Glauben die unsichtbare Welt neu erschlossen wurde, mit der wir es nun bewusst zu tun haben, muss ganz klar gesehen werden, dass die unsichtbare Welt nach der Bibel zu unterscheiden ist in Licht- und Finsterniswelt. In den alten Kulturen, in allen Religionen wird die unsichtbare Welt ernst genommen. Ohne hier näher darauf einzugehen, sind aussersinnliche Wahrnehmungen (ASW) heute, besonders unter der heranwachsenden Jugend, höchst aktuell geworden (11). Wissenschaftlich sucht man diesen Bereich der ASW durch die Parapsychologie (z.B. durch das Institut mit gleichem Namen an der Universität in Freiburg i. Br.) zu erforschen und zu erklären. Im Allgemeinen beharrt man auf der innerweltlichen Deutung auf dem Boden der psychologischen Hypothesen von Siegmund Freud (1856 - 1939). Er trachtete danach, mit seinen tiefenpsychologischen Erkenntnissen psychoanalytisch in den Tiefen des Unterbewussten beim Menschen selbst die Hintergründe von ASW zu finden.

Ein Schüler von Freud ist Carl Gustav Jung (1875 - 1961). Er ist mit dem Lehrergebnis über seinen Meister hinausgegangen, wenn er von dem "kollektiven Unbewussten" sprach. Damit suchte er das Problem nicht allein subjektiv beim Menschen, sondern bei den "Archetypen" (Urbildern) der Menschheit. Dieser Schritt vom Subjektiven zum Kollektiven war ein Grund, weshalb der Schüler sich von seinem Meister trennte. Jung öffnete mit seiner These das Tor zwischen Immanenz und Transzendenz, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Diese Öffnung für sich ist wertneutral. Entscheidend ist, in welche Bereiche wir durch sie vordringen.

Im Blick auf übersinnliche Wahrnehmungen sprechen die Religionen von Wundern. In der modernen Psychologie alles Paranormale animistisch, innerweltlich zu erklären, wird zunehmend in Frage gestellt; besonders in den USA. Die biblische Tatsache der unsichtbaren Wirklichkeit, ihr Einfluss in unsere Welt hinein, muss differenziert gesehen und beurteilt werden. Es ist zu einfach, wenn gemeint wird, alle ASW sind teuflisch und alle Wunder kommen von Gott. Eine differenzierte Beurteilung ist nötig. Die Bibel Alten und Neuen Testaments bezeugt den Einfluss unsichtbarer Mächte in unsere Welt hinein durch Finsterniswesen Satans (Satanas = Widerwirker Gottes) und durch Lichtwesen Gottes, durch seine Engel.

Bereits Albert Einstein (1879 - 1956) hat mit seiner Relativitätstheorie das aufgeklärte, geschlossene Weltbild in Frage gestellt. Er öffnete damit das Tor zur Quantentheorie (Bohr, Heisenberg, Planck). Von daher wird zunehmend vom "geöffneten" und "durchlöcherten Weltbild" gesprochen. ASW sind zwar wissenschaftlich nicht "beweisbar", aber durch experimentelle Erfahrungen "nachweisbar" zu belegen. Aufgrund dieser Erkenntnisse wird heute von der "Post-Moderne" gesprochen (12).

Vl. Eine bildhafte Darstellung der unsichtbaren Welt

Der biblische Zusammenhang der sichtbaren Welt (SW) und der unsichtbaren Welt (UW) soll im Folgenden bildhaft verdeutlicht werden. Beide Welten sind zwar zu unterscheiden, können und dürfen aber nicht geschieden werden. Dazu berichtet z.B. Paulus: "Durch ihn (Gott durch Jesus) ist das All erschaffen, das Sichtbare und das Unsichtbare" (Kol. 1, 16) (13).
Sichtbare Welt (SW) und unsichtbare Welt (UW)

Die unsichtbare Welt hat grundsätzlich zwei Bereiche, nämlich die unsichtbare Lichtwelt (ULW) und die unsichtbare Finsterniswelt (UFW).
Unsichtbare Lichtwelt (ULW) und unsichtbare Finsterniswelt (UFW)

Die unsichtbare Welt gehört zur Schöpfung Gottes. Bei ihr handelt es sich um eine geheimnisvolle Sphäre des Geister- und Totenreiches. Dort befinden sich die Menschen nach ihrem Sterben. Die Bibel setzt diese Tatsache wie selbstverständlich in vielen Textzusammenhängen voraus.

Dass es im Totenreich verschiedene Bereiche gibt, wird vielfach bezeugt, so z.B. in Jesu Bericht vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Luk. 16, 19 ff). Auch der Hinweis auf die "vielen Wohnungen" (Joh. 14, 2) für die Seinen macht die Differenzierung deutlich. Dass Jesus durch sein Werk "dem Tod die Macht genommen hat und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat" (2. Tim. 1, 10), lesen wir bereits bei Paulus in vielen Zusammenhängen (2. Thess. 1, 7; 1. Kor. 1, 7; Phil. 1, 10 f; 2. Tim. 4, 18).

Der Blick des Glaubens nach der Erlösung durch Jesus geht über den gesamten Bereich der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung hinaus in den Himmel Gottes. So durfte es der Märtyrer Stephanus bei seinem Sterben erfahren: "Er aber, voll heiligen Geistes, sah auf zu dem Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesu stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen." Sein letztes Wort war: "Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an (Apg. 7, 54 ff). Wenn Paulus "in den dritten Himmel" (2. Kor. 12, 2) entrückt war, dann war er "über alle Himmel" (Eph. 4, 10) zum Thron Gottes erhoben.

Im folgenden Bild wird der Himmel Gottes (HG) als der dritte Bereich, der die sichtbare Welt (SW) und unsichtbare Welt (UW) umschliesst, dargestellt. Die Durchdringung der drei Bereiche soll durch Pfeile verdeutlicht werden.
Der Himmel Gottes (HG) umschliesst die sichtbare Welt (SW) und unsichtbare Welt (UW)

Der Himmel Gottes (HG) hat sein Zentrum in seinem Thron (Spr. 29, 14; Jes. 14, 21; Hes. 43, 7; Sach. 6, 13; Offb. 4, 2; 19, 4; 22, 3). Auf dem Thron sitzt Gott als der Vater, der sich der Welt geoffenbart hat durch seinen Sohn. Dieser wiederum macht sich kund durch den heiligen Geist. Jesus sagt: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich" (Joh. 14, 6). Damit die Welt das begreifen kann, gab Jesus ihr nach seiner Himmelfahrt den heiligen Geist Gottes (Apg. 2, 33). Der heilige Geist zieht den Menschen zu Jesus, damit Jesus ihn zum Vater führt (Joh. 6, 44). Als Christen glauben wir nicht an drei Götter, sondern an den einen Gott, unseren himmlischen Vater, in dem Namen Jesu Christi in der Vollmacht des heiligen Geistes.

Ziel aller Wege Gottes ist sein souveränes Himmelreich, bzw. das Reich Gottes, in dem Gott sein wird "alles in allem/allen" (1. Kor. 15, 28; vgl. Phil. 2, 10 f). Auf dieses Ziel hin ist der biblische Glaube ausgerichtet. Ein durch die Reformation neu auf den Leuchter gehobener biblischer Grundsatz lautet: Allein durch den Glauben (sola fide). Es gehört zum Schicksal wichtiger biblischer Begriffe, dass man sie statisch "einbalsamiert" und damit des eigentlichen Sinngehaltes beraubt hat. Oftmals wird die Meinung vertreten, die vom griechischen Denken geprägt ist, dass der Glaube etwas Statisches sei. Vom hebräischen Denken kommend bedeutet er aber ein lebendiges Werden (hebr.: Ämuna) (14). Dieses Wort meint einen Weg, einen Lebensprozess, der die Verwurzelung des irdischen Menschen im Himmel verdeutlichen will. Luther fasste dieses biblische Denken in die klaren Worte: "Der Mensch ist nicht fromm, er wird fromm. Er lebt nicht im Sein, sondern im Werden." – Dass der biblische Glaube ein Weg von der Gegenwart in die Zukunft Gottes ist, dem himmlischen Ziel des glaubenden Menschen, zeigt die folgende Darstellung:
Beziehungen zwischen den unsichtbaren und sichtbaren Welten

Das Besondere in diesem Bild sind die zwei Pfeile: Einer vom Himmel Gottes (HG) zu den Menschen in die sichtbare Welt (schwarz) und der andere von der sichtbaren durch die unsichtbare Welt hinein in den Himmel Gottes (gepunkteter Pfeil). Der schwarze Pfeil möchte das Suchen Gottes nach den "verlorenen Menschen" (Menschen, die nicht um das Ziel und damit um den Sinn ihres Lebens wissen) verdeutlichen (15). Der gepunktete Pfeil verdeutlicht die Annahme des göttlichen Angebots seitens des Menschen. Die Erlösung Gottes durch Jesus in seiner Erniedrigung und Erhöhung (Phil. 2, 5-10) ist einmalig, ein für allemal, geschehen. Sie wird dem Menschen aus Gnade und umsonst angeboten, muss aber von ihm bewusst mit Willen durch den Glauben angenommen werden. Der Erlösungsbedürftige darf durch Gottes Geist erkennen, dass er gefangen im Gesetz der Sünde und des Todes ist (Röm. 8, 1 f), und dass durch Jesu Erlösung das Tor des Gefängnisses ein für allemal geöffnet wurde. Paulus sagt dazu: "Das Gefängnis ist gefangen geführt" (Eph. 4, 8). Glauben heisst nun: Aufstehen, aus dem Gefängnis gehen und sich in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm. 8, 14 ff; bes. V. 21) bewähren. Dann befindet sich der Mensch auf dem Weg (des Glaubens) aus dem Geschaffenen zum Ungeschaffenen, der vergänglichen Welt über die Himmel in den Himmel. Diesen Weg beschreibt in persönlicher Betroffenheit der Apostel Paulus mit den Worten: "Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollendet sei; ich jage ihm aber nach, dass ich's auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin... und jage – nach dem vorgesteckten Ziel –, dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung in Christo Jesu" (Phil. 3, 12-14). Paulus bezeugt seine Gerechtigkeit aus Gnaden und den Glauben (Röm. 5,1 ff) und baut dieser Grundlage seine Heiligung, "ohne die niemand den Herrn schauen wird" (Hebr. 12, 14, Röm. 12, 1 ff; 2. Kor. 7, 1; 1. Thess. 4, 3 ff; 1. Tim. 2, 15) (16).

VII. Die unsichtbare Welt wirkt hinein in die sichtbare Welt

Alle Menschen werden in ihrer irdischen Existenz von der unsichtbaren Wirklichkeit mitbestimmt, ob sie es glauben oder nicht, ob sie es wissen oder nicht. Der bewusste Christ weiss um diese Tatsache, die Luther einfach in die Worte kleidet: "Der Mensch wird immer geritten; entweder von Gott oder vom Teufel". Und weiter sagt Luther: "Jeder Mensch wird mitbestimmt; entweder vom Geist Gottes oder vom Geist Satans". Jeder denkende Mensch sollte sich persönlich fragen: Welcher Geist bestimmt mich? Damit dürfen wir es uns nicht zu einfach machen in der Meinung, jeder Christ wird vom Geist Gottes und jeder Nichtchrist wird vom Geist Satans mitbestimmt. In diesem Zusammenhang warnt Jesus seine Jünger, wenn er sagt: "Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach" (Matth. 26, 41).Weil wir als Christen in der Welt leben, in der der Teufel der Fürst ist (Luk. 12, 58, Joh. 12, 31; Eph. 2, 2, u.a.m.) verstehen wir die dringende Warnung des Apostels Paulus an die Gläubigen: "Ziehet die Waffenrüstung Gottes an, dass ihr bestehen könnet gegen die listigen Anläufe des Teufels... Denn wir haben nicht (nur) mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen – nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel..." (Eph. 6, 10 f).

Der Geist des Menschen ist "die Antenne" für den Empfang aus der Geisterwelt, der unsichtbaren Welt. Welche Geister bestimmen uns? Die Bibel mahnt dringend, die Geister zu unterscheiden (1. Joh. 4, 1; 1. Thess. 5, 21; 1. Kor. 14, 29-40). Gott schickt uns, bzw. will uns schicken "dienstbare Geister" und seine Engel in der Vollmacht des heiligen Geistes. Auch der Satan hat seine Geister und Engel. Darum gilt es dringend zu beachten: "Der Satan verstellt sich als Engel des Lichts" (2. Kor. 11, 14). Dabei handelt es sich um "fromme Verführungen". In diesem Zusammenhang musste Paulus die Gemeinde in Korinth ermahnen, mit den Gaben des Geistes kritisch umzugehen (1. Kor. 12-14).
Es ist für uns historisch eine Tatsache, dass es in allen Religionen z.B. Krankenheilungen, Weissagungen und Zungenreden gibt. Wollten wir kühn behaupten, dass sie alle vom heiligen Geist gewirkt würden? Das wäre ein makabrer Irrtum. So z.B. hat Muhammed (570 - 632) den Koran geweissagt bekommen. Er versteht sich selbst als der letzte Prophet Gottes. Im Koran wird mehrfach die Gottessohnschaft Jesu und sein Erlösungswerk bestritten. Bezeugt die Bibel und der Koran den einen und selben Gott (17)? Wenn das Zeugnis Muhammeds über Jesus wahr wäre, dann wäre Jesus, der sagte, "niemand kommt zum Vater denn durch mich" (Joh. 14, 16), ein Lügner. Lehnen wir aus diesem und anderen Gründen die Muslime ab? Davor bewahre uns der Herr, der am Kreuz für seine Feinde betete: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht was sie tun" (Luk. 23, 24; Matth. 5, 44).

Das "Gütezeichen" für den biblischen Glauben und die biblische Hoffnung ist die gelebte Liebe (griech.: Agapee). Diese ist den Christen verheissen: "Die Liebe ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist" (Röm. 5, 5). "Die Frucht des Geistes ist Liebe" (Gal. 5, 22). Jeder Mensch wird einmal vor Gott gerichtet und ernten, was er gesät hat (Gal. 6, 7 f). "Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi, auf dass ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse" (2. Kor. 5, 10; Röm. 2, 16).

VIII. Das irdische Leben ist eine Zubereitung für die Ewigkeit

Unser ganzes irdisches Leben ist eine Schule für die Zukunft nach dem Sterben. Jeder sollte sich fragen: Stehe ich unter dem Gesetz der Sünde und des Todes, oder unter dem Gesetz des Geistes und des Lebens? (Röm. 8, 1 f unter der Voraussetzung von Röm. 7, 18 ff).

Das Zentrum des Fleisches ist der Egoismus des Menschen. Aus dieser Sicht sagt Jesus: "Wer seine Seele (für sich) finden will, wird sie verlieren; und wer seine Seele verliert um meinetwillen, wird sie finden" (Matth. 10, 39; Mark. 8, 35; Luk. 9, 24; Joh. 12, 25). Mit diesem Wort gibt Jesus dem suchenden Menschen Antwort auf die Frage nach dem "eigenen Selbst", seiner wahren "Ich-Identität". Jesus wusste, dass es ein verderbliches Selbst und ein zerstörerisches Ich gibt. Dieses Wissen findet sich zunehmend auch bei einzelnen Psychologen in unserer Zeit (18). In diesem Zusammenhang sagt Albert Einstein (1879 - 1956): "Der wahre Wert eines Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangen kann". Dazu kam Jesus in unsere Welt, um jeden Menschen, der in Wahrheit und Demut seine Seele sucht, vom verderblichen Selbst zum gottgemässen Selbst, vom zerstörerischen Ich zur Glückseligkeit der Gemeinschaft mit Gott und seinem Nächsten zu führen. Gott will uns heute durch seinen Geist "mit unserem Geist" diese erlösende Botschaft vermitteln (Röm. 8, 16 im Zusammenhang). Hier gilt das Wort: "Sich selbst bekriegen ist der schwerste Krieg. Sich selbst besiegen ist der schönste Sieg."

Das Wort von der Seele ist eine Herausforderung an jeden denkenden Menschen. Eine Therapie, die zur Entwicklung vom Niederen zum Höheren führt, ist möglich; aber nur unter einer Bedingung: Man muss die Diagnose im Blick auf sein Selbst erkennen, bejahen und zu den daraus notwendigen (Not-wendenden) Konsequenzen bereit sein. Sind wir bereit, unser selbstzerrstörerisches Ich (Ego) im Licht der Wahrheit zu erkennen? Sind wir zu den Not-wendenden Konsequenzen bereit? Jesus weiss um die philosophische Wahrheit, die jeder Seelsorger und Psychologe bejahen sollte: "Selbsterkenntnis ist der Weisheit Anfang." Selbsterkenntnis allein löst aber noch nicht das Problem. Es ist ein zweiter Schritt nötig: Man muss das Alte bewusst loslassen, um das Neue zu bekommen. Wer nicht bereit ist, seine egoistische Seele loszulassen, der wird die erneuerte Seele, die Jesus den Seinen verheissen hat, das neue Selbst, das glückselige Ich (19) zu finden nicht imstande sein.

Das Wort Jesu über die Seele sollte für jeden, der denkt, eine Herausforderung sein. In diesem Sinne sagt der pietistische Theologe, Prälat F.C. Oetinger (1702 - 1782): "Im Loslassen liegt das Geheimnis überströmenden Empfangens." Mit Empfangen meint er die Gnade des Evangeliums.

Jeder Mensch, ob er es wahrhaben will oder nicht, steht unter der Mitbestimmung aus der unsichtbaren Welt zum Bösen oder zum Guten. Wer diesen nüchtern biblischen Tatbestand nicht sehen will, dem gilt das Wort Goethes (aus dem Faust): "Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er es am Kragen hätte." – Der Teufel bringt dem Menschen den Tod, die Trennung von Gott, vom Nächsten und sich selbst. Jesus will uns Menschen das Leben (ewiges Leben) bringen, indem wir in seinem Namen den Weg zu Gott, unserem Nächsten und uns selbst finden (Joh. 14, 6). Auf diesem Weg finden wir zur wahren Liebe (Agapee), die uns Gott durch den heiligen Geist vermitteln will (Röm. 5, 5) und zur Erfüllung des zentralen Gebotes: "Liebe Gott ... und deinen Nächsten wie dich selbst" (Matth. 23, 37-39; Röm. 13, 8-10).
Jeder Mensch, das kann nicht genug gesagt werden, wird aus der unsichtbaren Welt mitbestimmt: entweder zum Leben oder zum Tod; entweder zur Liebe oder zum Hass; entweder zur Wahrheit oder zur Lüge. Tod, Hass und Lüge schaden den einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit.

Das wird uns in der Realität der Welt täglich durch schreckliche Ereignisse vor Augen geführt. Leben, Liebe und Wahrheit führen den einzelnen Menschen und die ganze Menschheit zum Frieden mit Gott und dem Nächsten. Die Entscheidung für die eine oder andere Alternative zwingt Gott niemanden auf, Gott legt sie aber in unsere Hand.

IX. Erlösung und Befreiung durch Jesus

Die Erlösung Jesu braucht zwar jeder Mensch, aber im allgemeinen fehlt die Voraussetzung dazu. Der Mensch "in Adam" weiss nicht um das Ziel und damit um den Sinn seines Lebens. Wissen wir, wer wir unserer Natur nach sind? Paulus bezeugt das von sich selbst: "Ich weiss, dass in mir, in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht ... Ich tue die Sünde, die in mir wohnt ... Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Ich danke Gott durch Jesus Christus ... (Röm. 7, 18-25).

Von der Vergebung der Sünden wusste Paulus als frommer Jude schon vor seinem Damaskuserlebnis (z.B. durch Ps. 103). Ihm geht es jetzt um die Erlösung von der Sünde, der sog. Erbsünde. Der Mensch in Adam steht in Zwängen und Gebundenheiten. Wer sich dieser bewusst wird und von diesen Befreiung wünscht, der darf durch den heiligen Geist die Befreiung im Namen Jesu erfahren (Röm. 8).

Jesus befreite "Besessene" (Matth. 4, 24; 8, 28; 12, 22; Mark. 1, 23; Apg. 8, 7). Dabei handelte es sich um extreme Fälle, bei denen Menschen ihre eigene Identität total verloren hatten. War in diesem Sinn Paulus, als er noch Saulus hiess, ein Besessener? Nein. Dennoch war er mitsamt seiner ehrbaren Frömmigkeit ein Verführter Satans. Er bedurfte einer Offenbarung Gottes und einer gründlichen Umkehr (Damaskuserlebnis und danach). Mit dem Wort "besessen" sollten wir vorsichtig umgehen. Wir sollten realistisch von Gebundenheiten und Zwangshandlungen sprechen (20). Davon ist jeder Mensch verschiedengradig betroffen. Jeder sollte konkret seine persönlichen Gebundenheiten und "Schwächen" erkennen, bekennen und ehrlich loshaben wollen. Darum geht es bei der Befreiung. – Der "Befreiungsdienst" ist heute zunehmend gefragt in der Seelsorge (21).

Die Befreiung, bzw. die Erlösung ist ein Geschenk Gottes durch seinen Sohn Jesus Christus. Zu ihr soll der Mensch individuell durch klare Erkenntnis (Diagnose) und entschiedenes Handeln hingeführt werden. Das will das altapostolische Taufbekenntnis in Worte fassen. Es sollte mit dem Herzen einmal am Anfang des bewussten Christseins und dann laufend bekannt und gelebt werden. In der Tradition gibt es differenzierte Formulierungen zum apostolischen Taufbekenntnis. Im Grundtenor aber heisst es bei den Formulierungen: "Ich sage ab dem Teufel und allen seinen Werken; und übergebe mein Leben, ganz im Geist, samt Seele und Leib, Dir Jesus, als meinem Herrn; zur Ehre Gottes des Vaters in Zeit und Ewigkeit" (22).

Jeder, der sich Christ nennt und wirklich ein Christ sein möchte, sollte in der Gesinnung dieses Bekenntnisses täglich leben! Allein in dieser Haltung lernen wir, den "alten Adam" durch die Glaubenshaltung "in Christo" zu überwinden, den Einflüssen aus der Finsterniswelt zu widerstehen und in die Lichtwelt hinein zu wachsen mit dem Ziel der Vollendung bei Gott, dem himmlischen Vater, in dem Namen unseres Herrn Jesus Christus, durch die Klarheit und Vollmacht des heiligen Geistes. Nun wachsen wir als entschiedene Christen in die herrliche Freiheit der Gotteskinder hinein (Röm. 8, 21; 2. Kor. 3, 17; Gal. 5, 1-13). Nun können wir durch den Glauben (sola fide) die grossartige Gnade Gottes (sola gratia) in seinem Sohn Jesus Christus (solus christus) durch den heiligen Geist (Röm. 8, 9; 14-16) erfahren und bekennen und haben für uns persönlich und für die ganze Schöpfung eine wunderbare Hoffnung (Phil. 2, 9-11; Offb. 5, 13; 1. Kor. 15, 55-58). In dieser zuversichtlichen Glaubenshaltung dürfen wir mit Johann Christoph Blumhardt bekennen:

"Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht;
sein wird die ganze Welt.
Denn alles ist nach seines Todes Nacht
in seine Hand gestellt.
Nachdem am Kreuz er ausgerungen,
hat er zum Thron sich aufgeschwungen.
Ja, Jesus siegt!

Ja, Jesus siegt,
obschon das Volk des Herrn noch hart darnieder liegt.
Wenn Satans Pfeil ihm auch von nah und fern
mit List entgegen fliegt,
löscht Jesu Arm die Feuerbrände;
das Feld behält der Herr am Ende.
Ja, Jesus siegt!

Ja, Jesus siegt, seufzt eine grosse Schar
noch unter Satans Joch,
die sehnend harrt auf das Erlösungsjahr,
das zögert immer noch:
so wird zuletzt aus allen Ketten
der Herr die Kreatur erretten.
Ja, Jesus siegt!

Ja, Jesus siegt, wir glauben es gewiss,
und glaubend kämpfen wir.
Wie du uns führst durch alle Finsternis,
wir folgen Jesus, dir.
Denn alles muss vor dir sich beugen,
bis auch der letzte Feind wird schweigen.
Ja, Jesus siegt!" (23)


Anmerkungen

(1) C.G. Jung, "Wirklichkeit der Seele", Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990, 3. Aufl. 1993, S. 7. Jung wiederholt diesen Satz mehrfach.

(2) Martin Buber, Abraham Joschua Heschel, Franz Rosenzweig und Leo Beck. Als Theologe und jüdischer Rabbiner bezeugt das Hermann Cohen (1842-1918), "Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums", Foeurier Verlag, Wiesbaden, viele Auflagen, ursprünglich im Joseph Melzer Verlag, Darmstadt.

(3) Martin Buber, "Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift", Hamburg/Köln. Verbesserte 3. Aufl. 1968 in der Reihe "Die Bücher der Neuzeit", Bd. 150, S. 3 ff.

(4) Karl Marx, "Das Kapital", 3 Bände, 1867/85/95. Die Weltanschauung von Marx ist auch von Hegel und Feuerbach mitbestimmt. Seinen wissenschaftlichen Sozialismus erarbeitete er mit Friedrich Engels (1830-1895).

(5) R.G.G., IV. Bd. S. 1475 ff und in vielen anderen Publikationen.

(6) Siehe dazu ausführlich: Erich Lubahn, Otto Rodenberg (Hrsg.); Otto Betz, Joachim Cochlovius, Hartmut Gese, Heinzpeter Hempelmann, Otto Michel, Hans P. Rüger, "Von Gott erkannt - Gotteserkenntnis im hebräischen und griechischen Denken", Christl. Verlagshaus Stuttgart, 1995, 3.Aufl.

(7) Dazu ausführlich in 2 Bänden aus jüdischer und christlicher Tradition: Heinrich Elija Benedikt "Die Kabbala – Als jüdisch-christlicher Einweihungsweg", Verlag Hermann Bauer, Freiburg i.Br. 1995, 3. Aufl.

(8) "Etwas Ganzes vom Evangelium", E.C. Oetingers "Heilige Philosophie". Ein Brevier von Guntram Spindler und Richard Haug, Sternberg Verlag Ernst Franz, Metzingen.

(9) Nach hebräischem Verständnis ist mit "den Fischen im Meer" das Totenreich, mit "den Vögeln unter dem Himmel" das Geisterreich und mit "allem Getier" die von Gott geschaffenen Seelen gemeint.

(10) Ausführlich dazu: Erich Lubahn, "Wer seine Seele finden will - Der biblische Weg zur Selbstfindung", Ernst Franz Verlag Metzingen, 2001, S. 28 ff.

(11) Die Evang. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin (früher in Stuttgart) meldet, dass über 50% der Jugendlichen vor ihrem Schulabschluss Erfahrungen im Sinne von ASW gemacht haben.

(12) Vgl. Hans Rohrbach, "Unsichtbare Mächte und die Macht Jesu", Wuppertal 1986/2.

(13) Die folgenden bildhaften Darstellungen wurden entnommen: Erich Lubahn, "Auf der Suche nach der unsichtbaren Wirklichkeit. Die Notwendigkeit der Geisterunterscheidung", Christl. Verlagshaus, Stuttgart, 2000, 4. Aufl. S. 49 ff. Vgl. Paul Müller, "Das erweiterte Weltbild", Neuhausen-Stuttgart, 1976.

(14) Ausführlich dazu: Erich Lubahn, "Gott denkt anders", S. 14 ff, in "Von Gott erkannt - Gotteserkenntnis im hebräischen und griechischen Denken", Stuttgart, 1995/3.

(15) Vgl. Abraham Heschel, "Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums", Neukirchen, 1992/3.

(16) Der Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung wird einfach und deutlich dargestellt in: Erich Lubahn, "Zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle", Evangelische Buchhilfe Vellmar; 2003/4.

(17) "Juden, Christen und Muslime vereint für den Frieden?" Eine Orientierungshilfe des Theologischen Konvents Bekennender Gemeinschaften. Peter Beyerhaus, Gomaringen, 2002.

(18) Ursula Nuber, "Die Egoismusfalle. Warum Selbstverwirklichung so oft einsam macht", Kreuz-Verlag, Zürich 1993. Erich Fromm, "Vom Haben zum Sein. Weg und Irrwege der Selbsterfahrung", Belz Verlag, Weinheim 1989.

(19) Das neue Selbst bezeugt die Bibel mit "neuer Kreatur" (2. Kor. 5, 17; Gal. 6, 15): Von Glückseligkeit sprechen im wörtlichen Sinn die sog. Seligpreisungen der Bergpredigt (Matth. 5, 3 ff; griech.: Makarioi).

(20) Erich Lubahn, "Auf der Suche nach der unsichtbaren Wirklichkeit...", a.a.0. S. 149 ff.

(21) a.a.0. S. 179 ff und Erich Lubahn, "Wer seine Seele finden will...", a.a.0. S. 65 ff.

(22) Erich Lubahn, "Auf der Suche... ", a.a.0. S. 179 ff und S. 82 ff. Ein umfassender Zusammenhang dazu in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart" RGG, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1962; 3. Aufl. 6. Bd. S. 626 ff und "Evangelisches Kirchenlexikon", Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen, Bd. III., 1959, S. 1283 ff.

(23) Evang. Gesangbuch, Nr. 375 und in vielen anderen Gesangbüchern.


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"