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Geisteswissenschaft - Religion
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von der WB-Redaktion aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom März 1997, Nr. 2, II. Jahrgang, S. 76ff.)

LICHTERFAHRUNG AUF DER COUCH

- "Künstliche" Nah-Todeserfahrungen (NTE) als Psychotherapie -

ÜBERSICHT: Die Nah-Todeserfahrung (NTE) ist ein mystisches Erlebnis, das i. d. Regel einen "sozialtherapeutischen" Effekt nach sich zieht: Der Betreffende fühlt sich aufgrund seiner abrupten Bewusstseinserweiterung dazu veranlasst, eine tiefgreifende "Kurskorrektur" hinsichtlich seiner bisherigen Werte- und Moralvorstellungen vorzunehmen. Die Narkoseärzten bekannten "Nebenwirkungen" des besonders in der Kinderchirurgie eingesetzten Analgetikums Ketamin entpuppten sich im Zuge der Bekanntwerdung von Sterbeerlebnissen als einwandfreie Elemente von Nah-Todeserfahrungen - freilich nicht in wirklicher Todesnähe. Seit wenigen Jahren arbeiten Therapeuten in Russland an einer Therapieform, die auf meist einmalige Verabreichung von Ketamin und der dadurch hervorgerufenen mystischen Erfahrung aufbaut.

Ketamin ist ein Narkotikum, das aufgrund seiner Ungefährlichkeit und Zuverlässigkeit vorwiegend in der Kinderchirurgie und bei der operativen Behandlung von Haustieren zum Einsatz kommt. Anästhesisten (Narkoseärzte) wissen um "dissoziative (persönlichkeitsspaltende) Nebenwirkungen" der Substanz: je nach Dosis hat der Patient den Eindruck, seinen irdischen Körper zu verlassen, durch einen Tunnel zu reisen, evtl. auf verstorbene Verwandte und Lichtwesen zu treffen und mit ihnen zu kommunizieren, einen Lebensrückblick mit ethischer Beurteilung zu erfahren, und als Höhepunkt dem liebenden Licht zu begegnen, das als eigentliche Heimat erkannt und mit Gott identifiziert wird. Dass solche Erfahrungen gerne unter den rationalistischen Teppich gekehrt werden, ist gemeinhin bekannt, und so spritzt man als Blocker dieser Erfahrungen Beruhigungsmittel.
Seitdem die klassischen Nah-Todeserfahrungen klinisch-tot-Gewesener durch die Bücher von Elisabeth Kübler-Ross, Raymond Moody, Kenneth Ring, Michael Sabom und anderer Forscher ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drangen, erinnerte man sich dieser "Ketamin-Halluzinationen" und so begannen in Russland Therapeuten, damit zu arbeiten. - Dass u. a. mit der gefährlichen Droge LSD ähnliche Wirkungen erzielt und therapeutisch nutzbar gemacht wurden, ist spätestens seit den Arbeiten des tschechischen Psychiaters Stanislav Grof bekannt, der als Vorreiter einer transzendenten Psychologie gilt und durch kontrollierten Einsatz von LSD bemerkenswerte therapeutische Erfolge feierte. Doch scheint die Bewusstseinserweiterung durch Ketamininduktion weitaus tiefgreifender zu sein als mit LSD. Grof: "Hat man eine intensive Ketamin-Erfahrung, hält man es niemals für möglich, dass es einen Tod gibt oder dass er vielleicht Einfluss auf die eigene Persönlichkeit hat."

Heilung durch Bewusstseinserweiterung

In der Tat ist es eine psychologische Binsenweisheit, dass die absolute Identifikation mit dem eigenen Körper, begünstigt durch die öffentliche Verdrängung des Todes, verschiedenen Neurosen Tür und Tor öffnet. Oder umgekehrt: ist man durch intensive Auseinandersetzung mit der Sterbeforschung oder nach einer mystischen Erfahrung vom Aberglauben geheilt, der Tod sei das Ende, fallen automatisch eine Menge potentieller seelischer Erkrankungen einfach weg, die durch Todesfurcht und Todesverdrängung, Verlustangst usw. entstehen könnten.
Genau hier setzt die Ketamin-Therapie an; bislang war das Ziel der Psychoanalyse und Psychotherapie, den Patienten die Ursachen seiner Erkrankung in langwierigen Sitzungen selbst ergründen zu lassen, was zweifelsohne heilsam sein kann. Doch wie schon Dr. Beat Imhof sagt, übernimmt der Patient in der Regel das Weltbild des Therapeuten, und wenn dieses ein einseitig-materialistisches ist, stellt sich dem Geheilten früher oder später die Sinnfrage und die nächste Krise kann den teuer (im wahrsten Sinne des Wortes) erkämpften Erfolg wieder zunichte machen.
Ähnlich beurteilt einer der russischen Pioniere auf dem Gebiet der Ketamin-Therapie, Dr. Igor V. Kungurtsev, die Mängel der konventionellen Psychotherapie: "Therapeuten, die innerhalb eines psychodynamischen* Paradigmas (Muster) arbeiten, erleben häufig folgende Situation: Nach Monaten der Therapie kann der Patient auf einer logischen, rationalen Ebene leicht die Ursachen seiner Symptome verstehen und erklären, doch die Symptome bestehen weiter. Neben logischem Verständnis benötigen Menschen intensive Erfahrungen, um sich zu verändern. Die vollständige Befreiung von neurotischen Symptomen ist ohne tiefe, persönliche Veränderungen nicht möglich. Es scheint, dass Werte und Persönlichkeit sich nur durch aussergewöhnliche Bewusstseinszustände, verbunden mit tiefgreifenden Erfahrungen, verändern."
Also, am Besten gleich heute Nacht in die nächste Apotheke einbrechen und ein paar Ampullen Ketamin für den Eigenbedarf ergattern? - Den Alleinanspruch, der in Dr. Kungurtsevs Zitat mitschwingt, kann ich nicht ganz unterstützen. Sicher würde er mir in der folgenden Erweiterung seiner Gedanken zustimmen: Der gleiche Effekt wie bei aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, nämlich persönliche Veränderung aufgrund einer echten Bewusstseinserweiterung, kann ebenso durch die intensive Beschäftigung mit dem Wesen des Todes und spiritueller Sinnsuche erreicht werden. - Bei dem einen mag es Jahre forensischer Studien in Anspruch nehmen, der oder die andere muss vielleicht nur ein einziges Buch lesen oder einem einzigen Menschen mit einer Lichterfahrung zuhören, um sein Weltbild zu korrigieren.
Der unbestreitbare Vorteil einer lichtvollen, mystischen Erfahrung ist, dass die gewonnene Erkenntnis in der Regel nicht durch die Härten des Lebens geprüft und gefestigt werden muss, sondern auf Anhieb unauslöschbar Denken und Fühlen des Betreffenden bestimmt und steuert und die Persönlichkeitsänderung eine schlagartige zu sein scheint.

Evgeny Krupitsky's Ketamine Psychedelic Therapy (KPT)

Wie muss man sich denn nun die Ketamintherapie vorstellen? - Der wohl erfahrenste Forscher und Therapeut auf diesem Gebiet, der russische Arzt Evgeny Krupitsky, setzte Ketamin erstmals 1985 in der Behandlung von Alkoholismus ein. Weitere Anwendungsgebiete sind Depressionen, Phobien und Neurosen.
Die Vorbereitung auf die eigentliche KPT findet im Rahmen der transpersonellen Psychotherapie nach Stanislav Grof statt; der Patient wird sorgfältig auf die Erfahrungen durch Ketamin vorbereitet. Der Kranke liegt in angenehmer Atmosphäre (im Hintergrund läuft leise, meditative Musik) auf einem grossen Bett und bekommt eine 6-10 mal niedrigere Dosis Ketamin injiziert, als zur Betäubung vor einem chirurgischen Eingriff notwendig wäre, ist also bei Bewusstsein. Die intramuskuläre (ins Muskelgewebe verabreichte) Injektion hat eine etwa 30-45-minütige, individuelle ausserkörperliche, mystische Erfahrung zur Folge; der Therapeut sitzt während dieser Zeit begleitend und passiv an der Seite des Patienten und versucht nach Ablauf der "künstlichen NTE", dessen etwa eine Stunde dauernde "Rückkehr" durch emotionale Unterstützung zu erleichtern. Am Abend schreibt der Patient seine Erfahrungen auf und das Erlebte wird nächstentags zusammen mit dem Therapeuten erstmals aufgearbeitet.
Vor und nach den folgenden Sitzungen werden psychologische Tests durchgeführt, welche die Entwicklung dokumentieren sollen. Krupitskys Team, bestehend aus Ärzten und Psychologen, verwendet ein Testschema, das u. a. auf einer von Kenneth Ring entwickelten Skala zur psychologischen Bestimmung der spirituellen Entwicklung von Menschen mit Nah-Todeserfahrungen aufbaut. Im Laufe der Sitzungen sehen die Patienten die Ursachen ihrer Krankheit; Suchtkranke erkennen die Sinnlosigkeit ihres Drogen- oder Alkoholkonsums, verstehen den tieferen Sinn ihres Lebens und gehen gestärkt aus der Therapie hervor.
Die KPT spricht besonders auf Patienten, die an Depressionen, Neurosen und Phobien leiden, an. Alleine über 600 Alkoholkranke behandelte das russische Team bislang, und zwar überdurchschnittlich erfolgreich. Krupitsky: "Die Ergebnisse der KPT-Studie bezeugen, dass hinsichtlich der Spiritualität mehr geschieht als die einfache Erzeugung des Anspruches eines alkoholfreien Lebens des Patienten. Diese Ergebnisse belegen die grundlegenden, positiven Veränderungen hinsichtlich des Wertes und Zweckes des Lebens aufgrund der KPT, die Einstellung zu verschiedenen Aspekten von Leben und Tod betreffend, und, in deren Korrektur, der Weltanschauung."
Rein physiologisch zeitigt Ketamin nach Dr. Karl L. R. Jansen übrigens aufgrund örtlicher elektrischer Abnormitäten im Gehirn günstige Wirkungen auf Depressionen, die in Grossbritannien teilweise immer noch mit der barbarischen Elektroschock-Therapie "behandelt" werden.
Soweit mir bekannt ist, existiert die KPT nach Krupitsky bisher nur in Russland; Studien zu den Wirkungen von Ketamin werden in den USA und der Schweiz betrieben.

Die Schaltstellen der Mystik

Der Schwerpunkt vorliegender Abhandlung liegt betontermassen auf dem therapeutischen Aspekt und dem praktischen Nutzwert der "künstlichen NTE" für hilfsbedürftige Mitmenschen. - Wenn nun aber mystische Erfahrungen wie die NTE, die bislang als einer der stärksten Hinweise auf ein Leben nach dem Tod gezählt werden, künstlich abrufbar sind, heisst das nun nicht, Gehirn und Bewusstsein sind identisch und der Hirntod hat die Auslöschung der Persönlichkeit zur Folge? Immerhin hat man im Gehirn eine Region ausfindig machen können, die für sämtliche ausserkörperlichen und mystischen Erfahrungen verantwortlich zu sein scheint: den rechten Temporal- oder Schläfenlappen, der sowohl bei spontanen NTE als auch bei künstlicher Herbeiführung einzelner mystischer Elemente die entscheidende Rolle spielt.
Nach Sir John Eccles, Nobelpreisträger für Medizin, macht nicht die verhältnismässige Grösse unseres Gehirns unsere Einmaligkeit aus, sondern das Vorhandensein der Schläfenlappen. Dieser Bereich ist für komplexe Sprache, Ichbewusstsein, Langzeitplanung, Tagträume und seelenvolles Denken verantwortlich. Entfernt man operativ diesen Bereich des Gehirns, werden aus Menschen fremdbestimmte, seelenlose Automaten. Eccles ist übrigens von der dualistischen Trennung Leib-Seele zutiefst überzeugt und schreibt: "Der Geist wirkt auf mikroskopische Strukturen des Gehirns ein und steht in Verbindung zur Quantenphysik." - Und dass sich in quantenphysikalischen Prozessen oft Wirkungen vor dem Bestehen von Ursachen manifestieren, gehört zu den grössten Rätseln der "exakten Naturwissenschaft" und lässt Zusammenhänge mit der obigen Fragestellung zumindest erahnen. Wer sich für diese Thematik interessiert, dem seien die Bücher von Eccles, Heisenberg, Bohm, Pribram, Popper und Sheldrake empfohlen.
Wilder Penfield, der Vater der Neurochirurgie, entdeckte bei Versuchen, dass durch leichte elektrische Reizung des Schläfenlappens einzelne Elemente mystischer Erfahrungen, wie das Empfinden, den Körper zu verlassen, Reise durch den Tunnel, Begegnung mit Verstorbenen und Lichtwesen, abrufbar sind und fand sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass alleine die Neuronen des Gehirns das menschliche Denken und Handeln steuern. Der amerikanische Kinderarzt Melvin Morse schreibt: "Um seine Ansicht zu illustrieren, bemalte Penfield auf seiner Landfarm in Kanada einen grossen Felsen. Auf die eine Seite des Felsens malte er das griechische Wort für 'Seele', auf die andere malte er den Umriss eines menschlichen Kopfes und setzte an die Stelle des Gehirns ein Fragezeichen. Er verband die Bilder mit einer durchgezogenen Linie, die weiter zum Äskulapstab führte, dem Symbol der medizinischen Wissenschaft. Für ihn brachte dieses Bild zum Ausdruck, dass die Wissenschaft bereits alle Fragen nach der Existenz einer Seele beantwortet hatte. Penfield war sich sicher, dass alle Zusammenhänge zwischen Geist und Körper letztlich durch Hirnforschung geklärt werden."
"Fünfzig Jahre später, als er bereits gebrechlich geworden war, änderte Penfield seine Ansicht. Zum Schutz gegen den bitterkalten kanadischen Winter zog er sich sechs Pullover an und stapfte mühsam zu dem Felsen, den er viele Jahrzehnte vorher mit soviel Selbstsicherheit bemalt hatte. Mit frischer Farbe ersetzte er die kräftige Linie zwischen Gehirn und Seele durch eine gepunktete und ein Fragezeichen. Nun wurde das Bild eine sichtbare Mahnung daran, dass seine vielen Hirnstudien eine Menge unbeantworteter Fragen über den Geist und die Seele des Menschen hinterlassen hatte."

Schluss

Dem einen oder anderen wird sich beim Lesen möglicherweise ein ungutes Gefühl aufgedrängt haben, verbunden mit etwa solchen Fragen: "Pfuscht man da nicht wieder dem lieben Gott ins Handwerk, wenn man mit einer Droge Erfahrungen auslöst, die vorher als Gnade Gottes aus uns wohlweislich verborgenen Gründen denjenigen Menschen zuteil wurden, die solche Erlebnisse auch haben sollten?"
In diesem Zusammenhang ist es übrigens interessant, dass die gleichen Lichterfahrungen einerseits Durchschnittsmenschen, die nie an einer Bewusstseinserweiterung interessiert waren, regelrecht überfallen, und andererseits durch jahrelange, disziplinierte meditative Übungen von Mystikern aller religiöser Schattierungen erreicht wurden. Scheint das nicht ungerecht?
Sicher, die Hintergründe bleiben uns verborgen, und genau daher beschränke ich mich für meinen Teil auf die Dinge, die ich ganz sicher weiss: nicht nur in meinem Umfeld gibt es Menschen, die drohen, an ihrem Leid zugrunde zu gehen, seien es nun durch rein psychische Probleme wie Depressionen usw. oder Alkohol- oder Drogensucht. Des weiteren weiss ich, dass es meine Pflicht ist zu helfen, Leid zu mildern, soweit ich kann. Wenn wir etwas aus NTE lernen können, dann ist es die kaum zu überschätzende Bedeutung selbstloser Liebe - weitaus grösserer "Frevel" ist leicht vorstellbar, als einem in Leiden suchenden Mitmenschen auf eine zwar ungewöhnliche Weise Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren.
Abschliessend biete ich mich gerne interessierten Ärzten und Therapeuten zur Kontaktaufnahme mit Dr. Krupitsky an und hoffe, dass man hierzulande endlich die psychohygienische und therapeutische Tragweite von echter Spiritualität erkennen möge.

WB-Redaktion


Quellen
Biron, Georg: Die geistlose Suche nach der Seele, Esotera 2/97, S. 16-21
Jansen, Karl L. R.: Using Ketamine to Indoduce the Near-Death Experience in Jahrbuch für Ethnomedizin 1995, S. 55-79
Kungurtsev, Igor V., MD, in the Bulletin of The Albert Hofmann Foundation (Vol. 2, No. 4, Herbst 1991), Internet: http://newciv.org/cgi-bin/vote2.pl.
Krupitsky, Evgeny: Underlying Psychological Mechanisms of Ketamine Psychedelic Therapy (KPT) in the Treatment of Alcohol Dependency: Preliminary Report, MAPS NewsIetters 1992, V.3, No. 4, pp.24-28 and 1995, V.5, No. 4, pp.6-8.
Morse, Melvin & Perry, Paul: Zum Licht - Was wir von Kindern lernen können, die dem Tod nahe waren, Goldmann-Verlag, 1994
Morse, Melvin & Perry, Paul: Verwandelt vom Licht - Über die transformierende Wirkung von Nah-Todeserfahrungen, Knaur-Verlag, München, 1994



Fussnote 1: Unter Psychodynamik ist die Auffassung der Psychoanalyse zu verstehen, dass die einzelnen Persönlichkeitsanteile des "psychischen Apparats" (Ich, Es, Über-Ich) in Spannung zueinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen, woraus psychische Erscheinungen wie Verdrängung, Fehlleistungen oder Angst erklärt werden.


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Letzte Änderung am 11. Februar 2005