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Geisteswissenschaft - Religion
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Rudolf Passian aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Mai 1996, Nr. 3, I. Jahrgang, S. 79 ff.
Anmerkungen des Erfassers stehen in [ ]-Klammern.)

Schuldloses Leiden - Warum ?

 - Sinnfrage und Religion -

Eine der am schwierigsten zu beantwortenden Lebensfragen ist jene nach dem Sinn des Leidenmüssens Unschuldiger, besonders was Kinder anbelangt. Wer vermag den abgrundtiefen Trauerschmerz von Eltern zu ermessen, die es nicht verhindern konnten, dass ihnen ihr einziges Kind entrissen wurde, womöglich gar unter Qualen? - "Entrissen" von wem? Vom sogenannten Tod, jenem Schreckgespenst, das man mit Sense und Stundenglas darzustellen pflegte? Oder von Gott, der doch angeblich so liebevoll, gütig und barmherzig sein soll, und der dennoch oft die flehentlichsten Gebete vergeblich sein lässt? - Wie mancher Mensch verlor deswegen seinen Gottglauben und wurde zum Atheisten...
Leid und Leidenmüssen ohne erkennbares Verschulden sind in der Tat der härteste Prüfstein religiösen Denkens, und zugleich das stärkste Argument des atheistischen Marxismus gegen Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen. "Leiden ist der Fels des Atheismus", triumphierte Georg Büchner (1813-1837). (Fussnote 1)
Generationen von Theologen und Philosophen zermarterten sich das Gehirn und schrieben Berge von Büchern zum Problem der sog. Theodizee. Darunter versteht man die Unvereinbarkeit des Glaubens an einen allmächtigen Gott der Liebe, im Hinblick auf das augenscheinlich so sinnlos erscheinende Leiden schuldloser Geschöpfe. Warum beispielsweise müssen Tiere leiden, da sie doch nicht dem Gesetz der Selbstverantwortlichkeit unterliegen wie der Mensch und daher auch nicht "sündigen" können?
Das alles sind brennende, aber keineswegs leicht zu beantwortende Fragen, und was an Antwortversuchen vorliegt, erscheint menschlichem Vernunftdenken oft wenig befriedigend. Viele finden es einfach unbegreiflich, warum und wieso Gott soviel himmelschreiendes Elend, Unrecht und Grausamkeit auf dieser Welt duldet. Bleibt er völlig unberührt vom erbarmungswürdigen Leid seiner Geschöpfe? Bleibt er untätig, wenn eine hoffnungslos törichte Menschheit z. B. ihre eigenen natürlichen Lebensgrundlagen zerstört und damit entsetzliche Katastrophen heraufbeschwört? - Drängende Fragen fürwahr, und was an Deutungen erdacht wurde, gipfelt in teils recht unterschiedlichen Aussagen, die im folgenden einer kurzen Betrachtung unterzogen werden sollen:
1. Es gibt überhaupt keinen Gott (Atheismus)
2. Gott greift in seine Schöpfung nicht ein (Deismus). Er überlässt alles dem Walten seiner Naturgesetze. Der Mensch soll erkennen, dass er seines Schicksals Selbstgestalter ist.
3. Das Leid als "Nebenprodukt" der Evolution (Teilhard de Chardin), nach dem Motto: "Wo gehobelt wird, fallen Späne". Das Leid, wie auch das Böse an sich, sind lediglich die unangenehmen Begleiterscheinungen der allgemeinen Schöpfungsentwicklung, unvermeidlich und unbedeutend im Hinblick auf das grosse Ganze. In dieser auch von manchen Theologen vertretenen Ansicht sinkt der Einzelmensch zur Bedeutungslosigkeit herab und wird folgerichtig entpersönlicht (vgl. Nationalsozialismus: "Du bist nichts, dein Volk ist alles" resp. "Der Führer hat immer recht". Oder im Marxismus: "Du bist nichts, das Kollektiv ist alles" bzw. "Die Partei hat immer recht". Menschenwürde entfällt, sobald jemand wagt, anders als vorgeschrieben zu denken.
4. Das Leid als "Strafe Gottes" (Vergeltungsprinzip). Diese Ansicht beruht auf der alttestamentlichen Vorstellung vom rächenden, zürnenden und strafenden Gott, der willkürlich in das Leben seiner Geschöpfe eingreift.
5. Das Leid als Prüfungs-, Bewährungs- und Läuterungsmittel. - Gott prüft uns.- Alles geschieht unter seiner Zulassung, auch das Böse. Lohn- oder Strafmessung erfolgt spätestens "am Jüngsten Tage" bzw. im Jenseits (Folgsamkeits- und Belohnungsdenken).
6. Das Leid als Folge der "Sünde", d. h. des bewussten oder unbewussten Verstossens gegen in uns, um uns und durch uns wirkende Lebensgesetze physischer wie auch geistig-seelischer Natur, ihnen sich anzupassen, erspart Leiden (Christentum als Lebenskunst).
7. Das Leid ist unverzichtbares Merkmal der Polarität alles Seienden. Ohne Leiderfahrung keine Lebensfreude (Philosophischer Standpunkt).
8. Die Ursache gegenwärtigen Leidens liegt in einer Vorexistenz (Wiederverkörperungslehre).
9. Leiden infolge selbstverschuldeter Gottferne (Geistchristentum). Alles Leid begann mit dem legendären "Engelsturz" und der späteren "Vertreibung aus dem Paradies". Die aus dem Urlicht hervorgegangene Schöpfung war nicht materieller, sondern geistiger Natur. Durch falsches Denken und Verhalten kam es, im Verlaufe von Äonen zur stufenweisen Verdichtung und schliesslich zur Bildung derbmaterieller Welten wie der unsrigen. Alle Seinsstufen aber bieten angepasste Rückkehrmöglichkeiten zur Wiedererlangung unserer ursprünglichen Ausgangsstufe, zur "Heimkehr ins Vaterhaus".
10. "Wir wissen es nicht". Seitens mangelhaft informierter Menschen ist dies eine immerhin ehrliche Antwort. Das bedeutet aber keineswegs, dass es beim Nichtwissen bleiben muss. Der uns angeborene Erkenntnis- und Wissensdrang berechtigt, ja verpflichtet uns geradezu zur Sinn- und Wahrheitssuche! Warum sollte es untersagt sein, zu erforschen, "was die Welt im Innersten zusammenhält"? (Goethe, Faust).
Es spricht also absolut nichts gegen das Bedürfnis und den Versuch, Antworten auch auf die Frage nach dem Sinn schuldlosen Leidenmüssens zu suchen. Um hier jedoch "fündig" zu werden, reicht die übliche und einseitig auf die Materie fixierte Betrachtungsweise nicht aus. Wir müssen da über den Bereich des Physischen hinausdenken und zur Kenntnis nehmen, dass die Materie bloss ein Aspekt der Schöpfung ist, quasi nur die eine Seite der Medaille darstellt. Hier sprengen vor allem die Forschungsergebnisse der Quantenphysik die allzu enge Grenze materialistischer Weltvorstellungen. Es stellte sich nämlich heraus, dass auf die Dauer keine Materie ihrer Auflösung widerstehen kann. Auflösung in was? In Energie! Also ist nicht die Materie das Primäre, sondern Energie; Materie (Stoff) ist bloss ein Verdichtungszustand der letzteren. Damit fällt das grossartige Denkgebäude des dialektischen Materialismus zusammen, und alle darauf basierenden Heilslehren sind - weil naturwidrig - von vornherein zum Scheitern verurteilt. Waren somit die vielen Millionen Menschenopfer, die auf dem Altar des Marxismus [und des Nationalsozialismus / Faschismus] dargebracht wurden, vergeblich? - Hätte man mit gleicher Energie versucht, einen Sozialismus auf Basis der Bergpredigt zu schaffen, sähe es in der Welt heute anders aus!
Ein neues Menschen- und Weltbild bietet aber auch eine nicht einseitig betriebene Parapsychologie. Hier lässt vor allem die moderne Sterbeforschung erkennen, dass der gefürchtete Tod durchaus kein Persönlichkeitsvernichter ist. Der Sterbevorgang besteht lediglich im Ablegen und Zurücklassen unseres Erdenleibes. Unsere Einstellung zum Tod war bislang grundfalsch; er beendet lediglich unsere irdische Wegstrecke und bewirkt damit eine grundlegende Änderung unserer Lebensbedingungen. Das umfangreiche Gesamtmaterial einer mehr als hundertjährigen Paraforschung belegt eindeutig unser nachtodliches Weiterleben. Auch das vielumrätselte Jenseits wurde vorstellbar: es beginnt bereits da, wo unsere Sinne aufhören, uns Eindrücke zu vermitteln. Denn die Natur endet nicht dort, wo sie aufhört, sichtbar und messbar zu sein (Augustinus).
Aber auch bei Berücksichtigung der erwähnten Aspekte von Kernphysik und Parapsychologie kommen wir bei unserer Themenstellung um die "Hypothese Gott" nicht herum. Deren wissenschaftliche Berechtigung ist an sich schon von der Logik her gegeben, denn dass alles Vorhandene "durch Zufall und Auslese im Kampf ums Dasein" von selbst entstanden sein soll (Darwinismus), mutet einfach zu primitiv an, um noch immer Glaubwürdigkeit beanspruchen zu können. Ausserdem darf als feststehend gelten, dass Religion erfahrbar ist. Für jedermann. Religion als "Schwimmgürtel des Lebens" ist ein Bedürfnis intimsten menschlichen Gefühlslebens und kann an keiner theologischen Fachschule erlernt werden. Die Konfessionen als solche können nur die äusserliche irdisch-organisatorische Ausdrucksform einer Religion sein.
Jedenfalls ist der Fragenkomplex unseres Themas ohne religiösen Bezug unlösbar und erschöpft sich im Hinweis auf den Fortpflanzungsfaktor (Arterhaltung) sowie auf soziale Belange. Das ist alles. Genügt aber diese Basis, um bei schwerstem Leid nicht zu verzweifeln?
Betrachten wir daher einige der angeführten Antworten etwas näher, obwohl die gebotene Kürze die Gefahr von Missverständlichkeiten in sich birgt:
Wie bereits erwähnt, sah die alttestamentliche Gottesauffassung im Leidenmüssen eine Strafe Gottes, d.h. Jahwes. 2. Mose 20,5 lautet: "... denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder (eifersüchtiger) Gott, der die Verschuldung der Väter heimsucht an den Kindern, an den Enkeln und Urenkeln bei denen, die mich hassen ... " (Übersetzung Menge). Ich will sie heimsuchen mit vielerlei Plagen" (Jer. 15,3 und zahlreiche andere Stellen dieser Art). Wem Jahwe jedoch zugetan ist, den beschenkt er mit materiellem Wohlstand im Überfluss.
Hierauf fussend, entwickelte sich im Christentum die Überzeugung, Leiden seien Gott wohlgefällig, und für den Erduldenden eine verdienstvolle Auszeichnung. "Wen Gott lieb hat, den züchtigt er", glaubt man vielerorts noch heute. Als ein Pfarrer zu einer Schwerkranken sagte: "Der liebe Gott muss Sie aber sehr lieb haben, dass er Sie so leiden lässt", erwiderte die Betroffene schlagfertig: "Lieber Herr Pastor, ich wollte, der liebe Gott hat [hätte] Sie auch einmal so lieb wie mich!" Die Auffassung von der Gottwohlgefälligkeit körperlicher Schmerzen führte einerseits bis zum Extrem des Flagellantentums, der Selbstgeisselung bis aufs Blut; andererseits zu einer oft heroischen Tapferkeit im gottergebenen Tragen und Erdulden schlimmsten Leides. Das unerschütterliche Gottvertrauen solcher Menschen ist bewundernswert!
C h r i s t u s nun nannte das Leiden eine Folge der "Sünde", d. h. des Verstossens gegen die Lebensgesetze, denen wir alle unterworfen sind. "Sündige hinfort nicht mehr" bedeutet denmach: Setze keine weiteren Ursachen, die Leiden zur Folge haben. Im "Buch Emanuel" finden wir hierzu die Aussage (S. 171): Leiden ist Folge des Verlassens gottbestimmter Gesetze . Oder nach Dr. jur. Robert Kehl / Zürich: "Leiden sind der zweite Weg, wenn man den ersten nicht gegangen ist." Emanuel zufolge solle und müsse man "der Schule des Leidens entwachsen" (S. 129), indem man unter Anpassung an die Lebensgesetze konsequent alle Kräfte anspannt, um durch Charakterverbesserung und Meisterung der Lebensaufgaben spirituell vorwärtszukommen.
Wer auf solche Weise Schmerzen, erlittenes Unrecht, Not und Leid aufzufassen versucht, dem wird die geduldig getragene Last schliesslich zum Segen: Infolge der Charakterbetätigung zum Positiven hin (z. B. hilfsbereiter gegen andere als bisher), verläuft künftig auch das Schicksal anders; denn positive Ursachen ergeben positive Wirkungen. Freilich, im allgemeinen scheint eine Charakterveredelung als Leidensfolge selten zu sein, sonst müssten Kriege, Krankheiten und Not wahre Wunder an "moralischer Aufrüstung" hervorbringen. Tatsächlich bewirken sie eher das Gegenteil.
Wiewohl nun das bisher Dargelegte einigermassen annehmbar erscheinen mag, so ist damit immer noch keine Erklärung für das Leidenmüssen von Kindern gegeben. Bei kleinen Kindern entfällt ja der Verdacht des "Gesündigthabens". Das war auch der Grund zur Frage der Jünger an Jesus in Bezug auf den Blindgeborenen: "Wer hat gesündigt: dieser, oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?" (Joh. 9,2).
Warum Kinder leiden müssen, wusste sich auch Augustinus nicht zu erklären. Ehrlicherweise, bekannte er: "Kommt man auf die Leiden der Kinder zu sprechen, so glaubet mir, dass ich in die grösste Verlegenheit gerate und absolut nicht weiss, was ich antworten soll." Er würde dann nur, so fährt Augustinus fort, von der Pein sprechen, die den Kindern nach ihrem Tode droht, wenn sie ohne christliche Taufe sterben (!). Wahrlich, ein alles andere als "erbaulicher Trost" für Eltern, die um ihr Kind trauern!
Kaum weniger trostlos erscheint dieses Problem aus der Sicht der Wiederverkörperungslehre, trotz ansonsten bemerkenswert logischer Schlüsse: Gestorbene Kinder hätten aus einem früheren Erdendasein "noch etwas abzutragen" gehabt. Ihr früher Tod solle für die Eltern Veranlassung sein, über dies alles gründlich nachzudenken, um Sinn und Zweck des Erdenlebens zu erfassen und danach zu handeln. Dadurch sei den EItern von Seiten ihres Kindes der grösste Liebesdienst erwiesen worden, den man einem anderen zuwenden könne. Die Leiden einer irdischen Einverleibung und des irdischen Todes seien kein zu grosses Opfer, wenn dadurch den Zurückbleibenden zum Erkennen des allein Wesentlichen verholfen werden konnte: Erkenntnis unseres Eingebettetseins in eine höhere Liebe, und unseres im rein Geistigen verwurzelten Seins.
Dies allein dürfte ausschlaggebend sein und dem tragischen Geschehen eines Kindestodes Sinn verleihen. Dabei wollen wir nicht unbedingt annehmen, Gott überlasse alles Geschehen - auch den Tod von Kindern - dem sogenannten Karmagesetz, dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Wenn das der Fall wäre, so würde dies den Ausschluss jeglicher Gnade im Sinne von Vergebung bedeuten. Dann wären wir einer erbarmungslos zermalmenden Schicksalsmaschinerie ausgeliefert, liebelos und bar jeden Herzempfindens. Unvereinbar auch mit jenem Gottesbegriff, den Christus uns nahezubringen versuchte. Es widerspräche ferner den zutiefst eindrucksvollen Erfahrungen all jener vielen Menschen, die in Todesnähe dem "Grossen Licht" begegneten und sich von ihm in einer bis dahin ungeahnten Liebe eingehüllt und angenommen fühlten. Menschen, die übereinstimmend vom Ablaufen ihres "Lebensfilmes" berichteten und versichern, dass dieser Lebensrückblick von einer klaren ethischen Beurteilung begleitet war. Solche Menschen sind in religiöser Beziehung des üblichen Glaubens- bzw. Fürwahrhaltenmüssens enthoben. Sie wissen nunmehr um die Realität Gottes und richten fortan ihr Leben danach. Über Entkräftungsargumente akademischer Besserwisser können sie nur mitleidig lächeln.
Was den Tod geliebter Menschen anbelangt, so kann man freilich auch einem denkfaulen Fatalismus huldigen, wie z.B.: "Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt!" (Hiob 1, 21). Wohl dem, der darin ausreichend Trost findet, aber nicht jedem wird das gelingen. Aus christlich-spiritualistischer Sicht kann die Frage, warum Kinder leiden und sterben müssen, eigentlich nur unter vorbehaltlicher Zuhilfenahme der Wiederverkörperungslehre und des legendären Geisterfalles bzw. "Engelsturzes" verhältnismässig plausibel gedeutet werden. Allerdings gilt vielen Theologen die Geisterfall-Sage als längst überholte Mythologie. So meint z. B. der katholische Theologe Prof. Ralph Sauer / Osnabrück (in "Universitas" Nr. 41/1986, 363), ihr rein spekulativer Charakter sei zu offensichtlich. - Als ob nicht die ganze herkömmliche Theologie auf spekulativen Erwägungen beruhen würde, anstatt auf Erfahrungen! Joh. 1,18 zufolge hat niemand Gott je gesehen, aber unsere lieben Theologen wissen über ihn genauestens Bescheid!
Wäre es denn wirklich so unfassbar abwegig anzunehmen, dass den bei fast allen Völkern ähnlichen Mythen und Sagen ein Wahrheitskern innewohnen und z. B. die "Paradieses-Vertreibung" einen Rest kollektiven Urerinnerns darstellen könnte? Und dass die ursprüngliche Schöpfung möglicherweise keine materielle war, sondern eine geistige? - Wenn wir Gott keine Stümperei in Form krasser Unzulänglichkeiten zutrauen wollen, so liegt doch die Annahme näher, dass anfänglich reine Geister ins Dasein traten, und keine Menschen wie wir es heute sind. Geistwesen, die "rein", d. h. von Verfehlungen unbelastet, sich entfalten konnten und sollten auf der Grundlage ihrer Willensfreiheit. Wäre es wohl so undenkbar, dass ein falscher Gebrauch derselben sie auf gegensätzliche Wege (Gegensatz = gegen das Gesetz) und damit auf Irrwege führte? Könnte es demnach nicht unsere eigene Schuld gewesen sein ("Erbsünde"!), dass die Entstehung materieller Weltsysteme notwendig wurde? - "Notwendig" heisst: eine Not wenden. Die Vorstellung, wonach alle Weltstufen angepasste Höherentwicklungsmöglichkeiten bieten zur Wiedererlangung unseres ursprünglichen Reinheitsgrades, entspricht durchaus den Anforderungen logischen Folgerns. Hat Christus uns diesen "Heimweg ins Vaterhaus" etwa nicht aufgezeigt und durch seine Lehre ebnen wollen? Zudem betonte er genugsam, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei. Demnach sind auch wir zwar in, aber nicht von dieser Welt, und unsere eigentliche Heimat muss woanders sein. "In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen" (Joh. 14, 2). Den begnadetsten unserer grossen Wort- und Tondichter waren "die Gefilde der Seligen" innerliche Gewissheit. Zwar mag der Weg zu unserem Ziel recht lang sein. Geht man ihn aber im rechten Gottvertrauen, so wird's leichter: vor enttäuschenden Irr- und Umwegen bleibt man bewahrt, oder sie dienen zur Entwicklung unserer Unterscheidungsfähigkeit.
Bedenken wir doch, dass die christliche Religion - wie die meisten anderen auch - eine Offenbarungsreligion ist. Ihre noch heute erfahrbare Grundlage beruht auf der Überzeugung vom Vorhandensein anderer (höherer wie auch niederer) Welten. Versinnbildlicht in der "Jakobsleiter", empfangen die Geschöpfe aus der jeweils höheren Ebene geeignete geistige Nahrung und geben sie an die nächstniedere weiter. Alle irdischen religiösen Lehren unterliegen auf unserer Entwicklungsstufe zwangsläufig dem Mangel der Unvollkommenheit, weil wir selber es sind (Anziehungsgesetz des Ähnlichen). Wir müssen demzufolge erst reif und fähig werden, höhere, bewusstseinserweiternde Lehren überhaupt zu verstehen. Und das ist ein individueller Prozess. Christus hätte noch vieles zu sagen gehabt, aber er wäre nicht verstanden worden (Joh. 16, 12). Wie enttäuscht muss er über die Tatsache sein, dass Denkträgheit und Dummheit nach 2000 Jahren eher noch zugenommen haben!
Wer die hier angedeutete Weltschau annehmbar findet, dem beginnt evtl. zu dämmern, dass eine Menschheit, die sich gesamthaft so weit von ihrem göttlichen Ursprung entfernte, eben dadurch auch mitschuldig wurde am (sonst unerklärlichen) Leidenmüssen der schuldlosen Tier- und Pflanzenwelt. Vielleicht gehört die "Erlösung" der niederen Naturreiche mit zu unserer Aufgabe hienieden? Römer 8, 22 lautet (nach Luther): "Denn wir wissen, dass alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar." Und dem 21. Vers zufolge soll "auch die Kreatur frei werden... zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes". Das heisst wir sollen uns für Lebewesen unterhalb der Menschenstufe aufführen wie "Kinder Gottes", und nicht wie Teufel (s. Vivisektion und andere Bestialitäten). Freilich bewahrt uns auch dieses hier skizzierte Ahnen gewisser Zusammenhänge kaum davor, beim Tode eines zum lieben Freund gewordenen Haustieres, schmerzliche Trauer zu empfinden...
Von allgemeinem Interesse dürfte auch eine Erörterung der Frage sein, was von der Auffassung vom sogenannten "Sühneleiden", dem stellvertretenden Leiden, zu halten sei: Kann man wirklich für einen Mitmenschen z. B. eine Krankheit übernehmen und sozusagen "stellvertretend" erdulden? Viele mögen dies als katholischen Volksglauben belächeln, aber im Katholizismus findet man noch so manches Ursprüngliche; es müsste nur zeitgemäss verständlich erläutert werden.
So war, um ein Beispiel zu nennen, die "Seherin von Dülmen", die spätere Augustinernonne Anna Katharina Emmerich (1774-1824) ausgeprägt hellsichtig veranlagt. Schon als Kind wurde ihr auf diese Weise gezeigt, für wen sie gerade beten solle. Hellsehend nahm sie in grosser Not befindliche (ihr unbekannte) Menschen wahr, zu denen sie sich "im Geiste" hinbegab, um ihnen beizustehen. "Im Geiste" bedeutet hier, dass sie bewusst ausserkörperlich zu wirken vermochte. - Nun, dass man seinen physischen Leib zeitweilig verlassen kann und man trotzdem denk- und handlungsfähig bleibt, weiss jeder Buschneger, nur unsere Gelehrten nicht. Neuerdings vernimmt man wieder mehr darüber in den Berichten von Nah-Todeserlebnissen. In besagten Fällen ist unser innerer Leib, der sogenannte Astral- oder Fluidalkörper, der Träger unseres Ichs. Und so, wie man im Alltagsleben anderen Kümmernis abnehmen oder zumindest erleichtern kann, so ist dies geistig auch via Astralkörper möglich. Körperaustritte sind jedoch keineswegs immer ungefährlich. Unser Fluidalleib kann sich nämlich mehr oder weniger verdichten, und mit dem Grade seiner Verdichtung wächst die Gefahr seiner Verletzbarkeit und die Übertragung von Verletzungen auf den physischen Organismus. In der Parapsychologie spricht man da von einer "Reperkussionswirkung". Man vergleiche hierzu den aufschlussreichen Fall "Zugführer Novotny" in R. Passian, "Neues Licht auf alte Wunder" (S. 62, Reichl-Verlag, D-56329 St. Goar). Ähnlich erging es einmal der Seherin von Dülmen: Auf gewohnte Weise erfuhr sie von einem bevorstehenden Mord. In ihrem feinstofflichen Leib begab sie sich sofort an den Ort des Geschehens und erhielt eine Schussverletzung am Kopf. An dieser durch Reperkussion ins Physische übertragene Wunde hatte sie noch lange zu leiden.
A. K. Emmerich wurde auch viel von "Armen Seelen" heimgesucht. Das sind Verstorbene, deren Erdenleben kein gutes gewesen war und die infolgedessen "erdgebunden" blieben. Solchen verschaffte sie Erleichterung nicht nur durch ihre Gebetshilfe, sondern auch durch teilweises Übernehmen ihrer Qualen. Gleiches erfuhren und berichten auch andere, z. B. Maria Simma aus dem Grossen Walsertal, in ihrem Büchlein "Meine Erlebnisse mit Armen Seelen" (Pattloch-Verlag, Aschaffenburg) oder Bruno Grabinski in seinen Büchern.
Es ist in Anbetracht der allgemein materialistischen Erziehung keinem zu verübeln, der dies alles für mittelalterliche Wahnvorstellungen hält, nur muss er sich den Vorwurf rückständigen Uninformiertseins gefallen lassen. Die Erfahrungen von Heilern beispielsweise besagen, dass sie unerfreulicherweise oft die Beschwerden ihrer Klienten an sich selbst verspüren, während jene davon frei werden. Und schon so manche Mutter erlebte mit ihrem Kind dasselbe, wenn sie (gemäss Markus 16,18!) Handauflegen praktizierte. Diese Übernahme der Schmerzen anderer empfinden sensible Menschen ohne weiteres, und zwar zunehmend mit dem Grade ihres Mitleids (das Wort kommt von "Mitleiden"). Jedenfalls belegen zahllose Erfahrungen die Tatsächlichkeit der Übernahme fremden Leidens. Wenn aber gemäss der Weisung "Einer trage des andern Last" (Gal. 6, 2) eines Mitmenschen Bürde durch seelische oder/und materielle Hilfe erleichtert werden kann, so muss dies grenzüberschreitend zwischen Diesseits und Jenseits genauso möglich sein! Also beruht das, was man katholischerseits unter "stellvertretendem Sühneleiden" versteht, auf keinem Aberglauben, sondern ist erfahrbare Realität. Zu beneiden sind Menschen, die so etwas praktizieren, freilich nicht. Aber sie tun es aus Nächstenliebe. -
Doch zurück zum eigentlichen Thema. Krankheiten, Not und Leid in vielerlei Art gehören leider zu den zahlreichen Übeln dieser Welt. Sollte wirklich Gott es sein, der uns all dies "aus Erziehungsgründen" auferlegt, so ist unsere Auffassung vom liebenden und barmherzigen Vatergott zumindest fragwürdig. Im Buch von Friedrich Funcke, "Christentum als Weltanschauung und Lebenskunst" lesen wir (S. 113): "Gott hat das Leid und das Böse nicht geschaffen, aber er vernichtet es nicht, weil sie das Mittel sind, durch welches der gefallene Geist seinen Fall wieder gutmachen kann, indem er an ihnen seinen Irrtum erkennt und infolgedessen umkehren kann. So dient auch das Leid und das Böse den Absichten Gottes, und darin offenbart sich die hohe Weisheit des Schöpfers."
In einem in England erschienenen Buch mit dein Titel "Ein Zeuge durch die Jahrhunderte", berichtet ein Arzt namens Reginald Hegy von seinen reichhaltigen Erfahrungen mit Jenseitskontakten. Dank eines ausgezeichneten und bewährten Mediums gelangen zahlreiche Identitätsbeweise Jenseitiger. Über dieses Medium war u. a. gesagt worden: "Ihr dürft nie vergessen, dass eure Welt eine Schule ist für die Entwicklung des Charakters. Durch Überwindung der Hindernisse, durch Lösung der euch entgegentretenden Probleme, durch Kennenlernen von Schmerzen und Kümmernissen, durch Triumphieren über Elend, Ungerechtigkeit und Unwissenheit öffnet ihr euch verdienstvoll den Weg, der zur Höhe führt. Jedes Opfer, jeder von euch still ertragene Schmerz ist ein Schritt vorwärts auf dem Wege zur Vervollkommnung." Und gerade diese Veredelungsarbeit an uns selbst, die uns niemand abnehmen kann, gehört zum Wichtigsten unserer Lebensaufgabe. Alles esoterische Wissen und mediale oder sonstige Können nützt uns gar nichts, wenn wir diese an uns gestellte Grundforderung missachten oder ignorieren zu dürfen meinen. Niemand kann sich daran vorbeimogeln, der sein Erdenleben dereinst mit einem spirituell-positiven Gesamtergebnis abschliessen möchte. Und dass die uns übergeordnete spirituelle Weltordnung auf ethischen Prinzipien fusst, daran lassen speziell die Nah-Todeserfahrungen keinen Zweifel. "Wer's fassen kann, der fasse es!"
Eine Weltanschauung aber, so schreibt Friedrich Funcke (aaO, S. 114), "die das Leid und das Böse nicht vernünftig erklären kann, verfehlt ihren Zweck. Sie mag glänzend und tiefsinnig scheinen und oberflächlichen Menschen gefallen; aber sie zerschellt am Felsen des Leides und des Bösen." - Leider versagt da auch die Theologie. Deren Hilflosigkeit lassen z. B. die Worte des erwähnten Theologen Ralph Sauer erkennen, welcher schrieb (aaO, S. 368/69): "Die Unbegreiflichkeit des Leides weist auf die Unbegreiflichkeit Gottes hin. Auch wir Christen - die gescheiten Theologen inbegriffen - wissen darauf keine plausible, eingängige Antwort, und das muss uns bedrücken."
Nun, wenn man es theologischerseits nicht verschmähen würde, über den selbsterrichteten ideologischen Zaun mal hinauszuschauen, dann würde man bald merken, dass auch ausserhalb desselben wertvolle Denkhilfen zu finden. sind. Wie lange noch will man es für unmöglich halten, dass unsere persönliche Existenz nicht mit der Geburt begann und mit dem Tode nicht endet? Dann wäre die Vermutung doch naheliegend, dass vieles von dem, was uns als sog. "Schicksal" widerfährt, durchaus vorgeburtlichen Ursprungs sein könnte. Und dass wir ein gewisses Schicksalsgut bereits mitbringen, das beweisen allein schon die Handlinien bei Neugeborenen.
Gewiss, diese Aspekte mögen zwar das Leiden Unschuldiger und den Tod von Kindern in etwa verstehbar werden lassen; die Bitterkeit während der Erlebenssituation erfährt hierdurch leider keine Abmilderung. Nur die Gefahr des Glaubensverlustes ist bei weitem nicht so gross wie bei Menschen, die von alledem nichts wissen oder nichts wissen wollen.

Rudolf Passian


Fussnote 1: Bruder des Radikal-Materialisten Ludwig Büchner (1824-1899), nach dessen populärem Werk "Kraft und Stoff" nur die Materie Eigenständigkeit besitzt. Die Seele wird als Inbegriff beschreibbarer Gehirnfunktionen definiert (Brockhaus).


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Letzte Änderung am 9. Mai 2000