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Geisteswissenschaft - Philosophie / Psychologie
(Anm.d.Erf.: Der Artikel stammt von Dr. Beat Imhof aus der Zeitschrift "Wegbegleiter" vom Mai / Juni 1999, Nr. 3, IV. Jahrgang, S. 165 ff.)

Krise als Chance und Gefahr

Eine Krise ist der zu lösende Knoten im verworrenen Geflecht unseres Lebens. Lösen wir diesen, ergibt sich daraus eine Chance; bleibt er verknotet, geraten wir in Gefahr. Das Wort Krise wird abgeleitet vom griechischen "krinei", was so viel heisst wie entscheiden. Aus dem Lateinischen kennen wir das Wort "Crisis" für Entscheidung. Die Chinesen gebrauchen hierfür das doppelte Schriftzeichen Wu-ji und deuten damit die beiden polaren Gegenhälften einer Krise an, nämlich Bedrohung und günstige Gelegenheit. Gleich wie der doppelgesichtige altrömische Gott Janus, ein Symbol für Anfang und Ende, für Eingang und Ausgang, gewährt uns die Krise einen zweifachen Anblick, nämlich den von Gewinn oder Verlust. Auf jeden Fall kündet jede Krise an, dass sich eine Veränderung aufdrängt.
Jede Krise enthält sowohl einen Hinweis wie auch eine Aufforderung. Zum einen zeigt sie an, dass Gefahr besteht, zum anderen fordert sie uns zu einer Neuorientierung auf. Eine Krisensituation schafft also die Gelegenheit, Veränderungen vorzunehmen und Entscheidungen herbeizuführen. Krisen sind sinnvoll und wertvoll, weil sie uns zum Umdenken zwingen. Dabei müssen häufig alte Denkmuster aufgegeben und überholte Gewohnheiten abgelegt werden. Krisen gelten als Zeiten der Herausforderung, der Neubesinnung und der Einkehr. Oft muss sich eine Krise gefährlich zuspitzen und sogar in einen offenen Konflikt ausbrechen, um den notwendigen Umschwung herbeizuführen.
In der Regel haben Krisen zu tun mit ungelösten Problemen und Unannehmlichkeiten, die nur durch eine Neuausrichtung zu beseitigen sind. Freilich ist nicht jede kritische Situation schon eine Krise. Von einer Krise sprechen wir erst, wenn die Gefahr besteht, dass etwas ausser Kontrolle gerät, wenn man ein Geschehen nicht mehr im Griff hat, wenn man einer Sache nicht mehr gewachsen ist und etwas aus dem Ruder läuft.

Krisen sind Höhepunkte und Scheitelpunkte in einem fliessenden Geschehen. Sie sind Umkehrpunkte und Wendepunkte und markieren kritische Kippstellen, die eine Kurskorrektur und damit eine Weiterentwicklung ermöglichen. Diese entstehen durch extreme Situationen, die zumeist eine Gegenläufigkeit einleiten, einem Pendel gleich, das beim grössten Ausschlag zu einer Umkehrbewegung ausholt. Der Sinn der Krise liegt also darin, dafür zu sorgen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Krise ist demnach eine Zeit des Übergangs und der Veränderung. Nach steilem Aufstieg kommt es zu einer Wende, die den Abstieg und damit auch einen Neubeginn einleitet. Krisen veranlassen uns, neue Kräfte einzusetzen, neue Ideen zu entfalten und neue Pläne zu schmieden. Auf dem Scheitelpunkt der Krise entscheidet es sich, ob der Konflikt zum Verhängnis oder zum Glücksfall wird. Denken wir etwa an die Fieberkurve bei einer Krankheit oder an die Trendwende beim Börsenkurs.

Eine Krise trifft uns nicht plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Sie bahnt sich zunächst unbemerkt an. In ihrer Anfangsphase will man ihre Anzeichen noch nicht ernstnehmen. Man sucht nach Ausreden und Entschuldigungen und verharmlost die drohende Gefahr. Jedenfalls sieht man sich noch nicht veranlasst, am guten Fortgang der Dinge zu zweifeln, obwohl es bedenklich zu kriseln beginnt. Bevor eine Krise offen ausbricht, kündet sie sich zumeist unterschwellig an, ähnlich wie ein Vulkan, der schon Tage, bevor er Feuer und glühende Lava speit, sich durch unterirdisches Grollen und Rumoren bemerkbar macht. Versteckte Signale sind bei Krisen sowohl im körperlichen wie im seelischen Bereich erkennbar. Es kann zu nervöser Unruhe, zu chronischer Müdigkeit und zu Erschöpfungszuständen kommen. Schlaf- und Appetitlosigkeit sind ebenso kritische Warnzeichen für eine beginnende Krise wie Gereiztheit, Ungeduld und depressive Verstimmung. Gelegentlich kommt es zu unkontrollierten Wutausbrüchen oder panikartigen Angstzuständen, begleitet von nächtlichen Horrorträumen. Schuldgefühle aber auch Schuldzuweisungen bleiben nicht aus. Im intellektuellen Bereich fallen Konzentrationsschwäche und Gedächtnisausfälle ins Gewicht. Unerklärliche Fehlleistungen bei alltäglichen Verrichtungen sowie Gedankenabwesenheit stellen sich ein. Machmal neigen die Betroffenen zu Alkohol-, Nikotin- und Medikamentenmissbrauch.
Bei einer ernsthaften Krise treffen nicht selten mehrere unliebsame Ereignisse zusammen: berufliche Probleme, Konflikte in Partnerschaft und Familie, gesundheitliche Schwächen und finanzielle Sorgen. Diese einzelnen Faktoren wären gesondert betrachtet vielleicht nicht schwerwiegend, doch deren Summe lässt daraus eine regelrechte Pechsträhne entstehen. Hier bewahrheitet sich das Sprichwort: Ein Unglück kommt selten allein.

Jede Krise verläuft in vier Phasen.
Veranschaulicht wird diese durch die Berg- und Tallinie der Sinuskurve. Es zeigt sich hier ein rhythmischer Wechsel, ähnlich wie bei den Gezeiten des Meeres oder beim Phasenwechsel des Mondes. In der ersten Phase bahnt sich der Konflikt an. Etwas Bedrohliches braut sich zusammen wie vor einem Gewitter. Die Spannung steigt stetig an. In der zweiten Phase treibt die Krise ihrem Höhepunkt zu. Auf der Höhe der Krise, dargestellt durch den Gipfel der Kurve, bricht der Konflikt offen aus und es kann zu heftigen Auseinandersetzungen kommen, sei es mit sich selbst, sei es mit anderen. Verschiedene Standpunkte oder Gesichtspunkte prallen aufeinander. Jetzt ist die Gefahr offensichtlich und man begreift, dass es so nicht weitergehen kann. Die ganze Tragweite des Konfliktes wird einem bewusst. Ein Marschhalt ist nun geboten, sonst droht eine Katastrophe. In der dritten Phase der Krise bahnt sich ein Ausweg an. Alte Denkstrukturen werden abgebaut, neue Denkmöglichkeiten werden erwogen und mit diesen erwachen Hoffnung und Zuversicht, dass sich alles doch noch zum Guten wendet. In der vierten Phase kommt es zur Entspannung der Krisensituation. Blockaden lösen sich, neue Kräfte werden gesammelt und die Energien fangen wieder an zu fliessen. Es ist wie bei einer Bergtour: Nachdem der Gipfel bezwungen ist, folgt der weniger anstrengende Abstieg zu Tale, begleitet vom Hochgefühl einer vollbrachten Leistung.

Zur Krisenbewältigung bieten sich zwei Wege an.
Der eine ist der des passiven Geschehenlassens. Man lässt die Krise leer laufen, greift nicht ein und wartet ab, was sich daraus ergibt.
Die Erfahrung lehrt uns, dass sich tatsächlich viele Probleme wie von selber lösen. Es ist dies die Methode des "Handelns ohne zu handeln" oder des "Tuns durch Nicht-Tun" (1) Der andere Weg ist der des raschen Eingreifens, der schnellen Entscheidung, bevor der Schaden zu gross wird. Hierzu braucht es rasche Entschlossenheit und Mut zum Risiko. Freilich ergibt sich die vernünftige Lösung nicht immer nach der Art, wie Alexander der Grosse den Deichselknoten eines Streitwagens entzweite, nämlich mit einem Schwerthieb. In den meisten Fällen empfiehlt sich ein überlegtes und besonnenes Vorgehen.
Paul Tiedemann erwähnt drei Verhaltensweisen, die man bei einer Krisenbewältigung unbedingt vermeiden sollte.(2) Die erste ist die Verdrängung, die darin besteht, dass man die Krise nicht wahrhaben will, sie nicht zur Kenntnis nimmt und so tut, als wäre alles in bester Ordnung. Der Betroffene steckt sozusagen den Kopf in den Sand, verschliesst die Augen vor der Wirklichkeit und weicht so einer ernsthaften Auseinandersetzung aus. Statt dessen flüchtet er in die Arbeit, in die Betriebsamkeit oder in die Sucht. Die zweite Fehlform ist die des Zynismus, der wider besseren Wissens handelt. Man ist sich der Gefahr wohl bewusst, lässt ihr aber zufolge negativer Gesinnung, wegen Lebensüberdruss oder höhnischer Selbstverachtung freien Lauf. Die Verzweiflung ist die dritte Art, die zu vermeiden ist. Sie ergibt sich aus dem Gefühl völliger Auswegs- und Hoffnungslosigkeit, so dass es nicht selten zu panikartigen Kurzschlusshandlungen kommt.
Das Eingestehen begangener Fehler führt zu besserer Einsicht und damit zur moralischen Reinigung. In den antiken Schicksalsdramen wird diese Katharsis, also Läuterung, Reinigung, im weiteren Sinne auch Lösung der Konfliktspannung genannt. Wenn die Situation ausweglos erscheint, zeichnet sich die Chance einer Lösung ab. Ein Ausweg, ein Durchbruch kann sich jetzt einstellen auf Grund einer inneren Umkehr oder zufolge veränderter äusserer Umstände.

Aus einer gemeisterten Krise gehen wir gestärkt hervor.
An Erfahrung reicher und auch an Selbstvertrauen wagen wir einen Neuanfang oder die Fortsetzung des Begonnenen. Die Psychologin Roswitha Rooden-Rem gibt sich überzeugt: Je grösser das gesunde Selbstvertrauen und je beweglicher und anpassungsfähiger das eigene Denken ist, um so leichter und schneller ist ein Krise durchzustehen und zu bewältigen. (4)
Krisen, die nicht bewältigt werden, kehren in gleicher oder ähnlicher Form auf einer anderen Ebene wieder zurück und zwar solange, bis sie gelöst sind. Dies gilt sowohl für persönliche Krisen als auch für Krisen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. "Tatsächlich sind Krisen diejenigen Augenblicke", sagte Eugen Drewermann in einem Vortrag 1995, "in denen deutlich wird, dass nichts weitergehen darf wie bisher, damit überhaupt noch etwas weitergehen kann!" (3)
Folgende Ratschläge u. Hinweise sollten in der Krise beachtet werden:

1. Die Gefahr einer Krise muss richtig und rechtzeitig eingeschätzt werden, um angemessen handeln zu können. Dabei ist es wichtig, kühlen Kopf zu bewahren und keine voreiligen Entschlüsse zu fassen. Doch darf der entscheidende Moment zum Eingreifen nicht verpasst werden.
2. Die Ursachen der Krise müssen aufgedeckt und sorgfältig analysiert werden, um die entstandene kritische Lage situationsgerecht beurteilen zu können. Jetzt ist es angezeigt, nicht nur gefühlsmässig zu reagieren, sondern ruhig Blut zu bewahren und mit Bedacht zu handeln.
3. Nach dem Prinzip "Teile und herrsche" muss das Gesamtproblem in seine Teilprobleme aufgegliedert und jedes gesondert angegangen werden, freilich ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren. Um Prioritäten zu setzen, muss das Wichtige und Dringliche vom Nebensächlichen und Belanglosen klar getrennt und gesondert gelöst werden.
4. Von unnötigem Ballast sollte man sich rechtzeitig trennen. Zu weit gesteckte Grenzpfähle müssen zurückgenommen werden. Was eine Nummer zu gross geplant wurde, ist auf ein erträgliches Mass zu beschränken. Hier mag der Grundsatz gelten: weniger ist mehr.
5. Man gönne sich die nötige Bedenkzeit. Nicht immer ist der schnellere Weg auch der bessere. Gut Ding will seine Weile haben. In einem entspannten Zustand kommen einem zumeist die brauchbarsten Ideen und Einfälle zu.
6. Es ist wichtig, an den guten Ausgang und den eigenen Erfolg zu glauben. Durch positive gedankliche Vorstellungen ist der angestrebte Erfolg bereits vorauszudenken, damit er sich verwirklichen kann. Unsicherheit und Selbstzweifel sind auf jeden Fall fehl am Platz.
7. Wenn nötig, hole man fremde Hilfe bei bewährten und kompetenten Ratgebern und Fachleuten ein. Mit diesen ist die entstandene Situation durchzusprechen und vorgeschlagene Lösungen sind gemeinsam zu überdenken.


Literaturhinweise:
(1) Imhof, Beat, Mut zum Leben. Rothus Verlag, Solothurn 1998, S. 65-71.
(2) Tiedemann, Paul, Über den Sinn des Lebens. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993, S. 7-9.
(3) Drewermann, Eugen, Mit Krisen leben. Luzerner Psychotherapiewochen 1995. Perspectiva Verlag, Riehen 1995, S. 114.
(4) Rodden-Rem, Roswitha, Was kann ich tun bei Lebenskrisen? BLV Verlagsgesellschaft, Zürich, München, Wien 1993, S. 20f



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Letzte Änderung am 11. August 2000