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Perlen aus der geistigen Welt

Betrachtung von Adelma v. Vay, erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 3/2005, S. 36+37.

Beten

Aus dem Buch "Aeonen" von Adelma Freiin v. Vay, 1888

Es war Nacht. Alles ruhte; ich hatte eben gebetet und dachte darüber nach, ob wohl der liebe Gott unter den vielen Gebeten, die eben zu Ihm gesprochen wurden, auch das meine gehört habe. Was bin denn ich armes kleines Menschengeschöpf zwischen den Billionen der lebenden und denkenden Wesen des Alls? Hört Gott einen Jeden? – Da erweiterte sich mein schwacher Blick, es überkam mich ein seliges Gefühl, ein Engel trat zu mir, er legte mir seine leuchtende Hand auf die Stirne, und meinem geistigen Auge entrollte sich ein herrliches Bild!
„Komm,“ sprach der Engel, der sich Hera nannte, „komm, Kind, und sieh!“
Wir befanden uns in einem Meer von Welten. Durch Hera geführt, schwebte ich im Äther. Wir waren schon hoch über der Erde, um uns herum Wolken und Sterne.
„Nun,“ sprach Hera, „sollst du die Gebete der Erde sehen, empfinden und hören.“
Zuerst vernahm ich einen wirren Lärm, ein Durcheinander von Stimmen, Bitten, Schreien, Toben, Schluchzen, Loben und Danken. „Muss der liebe Gott in einem fort hören?“ frug ich Hera. „Ja,“ antwortete der Engel, „der Allgegenwart ist noch viel mehr enthüllt, was keiner sieht und hört, nur Er, der Allerhöchste! Nur Gott kann es fassen! Das sind nur die Stimmen der Erde, die du hörst, – Er aber, Gott, Er hört die Stimmen des Alls!“
Aus dem Chaos der Welten entstiegen nun goldige kleine Wölkchen, die herrlich anzusehen waren. Aus ihnen erklang eine wunderbare Harmonie; leider entstiegen nur wenige solcher Goldwolken dem Ganzen; sie schienen mir seltene, kostbare Edelsteine. Aus ihnen heraus klangen süsse Stimmen, sie sangen: „Herr, Dein Wille geschehe! Wie Du willst, o Gott! Gott ist unsere Liebe, unser Glaube, unsere Hoffnung!“ Schwere Tränen der Ergebung, Seufzer, tiefes Leid lag in dem Goldgewölk, – Alles in Gott getragen.
„Sieh, das ist das reinste und beste Gebet,“ sprach Hera, „sie bitten um nichts, als um die Erfüllung von Gottes Willen; sie klagen nicht, sie sind ergeben, geduldig; dies ist das Gebet des Glaubens, der Liebe. Wie Pfeile durchdringt es das Äthermeer – rasch – dies Gebet ist im Augenblick des Aussprechens schon bei Gott.“ – Fort waren die herrlichen Goldwolken; ihre wunderbare Harmonie klang mir in der Seele nach. – Nun kam allerhand kleines Silbergewölk; es flog so leicht herbei und war so frisch und lieblich; wie Frühlingshauch kam es mir entgegen. Düfte sprühend; ein wunderliebliches Glockenspiel ertönte aus demselben.
„Das sind die Gebete der Kinder,“ sprach Hera, „die liebt Gott. Höre nur, wie fromm und gläubig das klingt! Wie voll Überzeugung, dass Gott sie höre. Hier klingt das Gebet armer Kinder aus Not und Elend, es ist das allerstärkste; dort das Sterbeglöcklein der Engel, die die Erde verlassen. Auch dies Silbergewölk fuhr in raschem Fluge klingend, singend, von Engelschwingen getragen, auf zu Gott!“
Nun wurden die Wolken immer dunkler; mein Blick fiel auf einige lichtgraue Wolken, die recht hübsch anzusehen waren; nur klang es in falschen Tönen aus ihnen heraus; das war unangenehm; auch kamen sie nicht vorwärts; bleiern lagen sie im Äther.
„Sieh,“ sprach Hera, „diese Wolken, die so hübsch aussehen und doch voll Dissonanz sind, sind die Gebete der Scheinheiligen, der Heuchler und Pharisäer. Es ist Lippengebet, ein Wortschwall, der sich nur langsam bewegt und den Weg zu Gott nicht findet!“ Wie zerschnitten wurden diese Wolken durch die Gebete der Reue; die schossen wie Blitze auf zu Gott, wie Feuerfunken, die zum Himmel emporflogen. Es waren die Gebete grosser Sünder, die Reue trug sie hoch! Von Engeln getragen kamen die Gebete der Sterbenden. Doch siehe da! Was streckt sich zum Himmel empor wie Feuerzungen? „Das ist das Beten und Rufen Jener, die sich in Todesgefahr und Elend befinden,“ sprach Hera traurig. „Jammerrufe derer, die im letzten Augenblick erst beten lernen; – dies Gebet hat Eile; – hier sieh das Gebet der Verzweiflung, wie es sich aus allen andern herausreckt! Nun bleibt uns noch das Letzte zu sehen,“ sprach Hera weiter, „hier in dem schwarzen, wirren Gewölk, das sich einem undurchdringbaren Chaos ähnlich, fortwährend um sich selbst dreht, keine Kraft hat, zu Gott zu gelangen und auf der Erde haften bleibt, das sind irdische Gebete. Bitten um Gold und Pracht, unsinnige Gebete des Aberglaubens, ohne Glauben an den grossen Gott gesprochen, das kann nicht zu Gott dringen, da es nichts Göttliches, nichts Geistiges in sich hat. – Weisst du nun, wie du beten sollst?“ frug mich Hera.
„Ja,“ sprach ich, „Gott, Dein Wille geschehe! Amen, Amen!“


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"