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Religion - Askese

Beiträge von Walter Vogt, erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 4/2006, S. 30-35.

Sinn und Unsinn der Askese

Sadhu Sundar Singh und die Askese

Von Walter Vogt

Dieser grosse indische Christuskünder [3.9.1889 (Indien) – 1929 (verschwunden im Himalaya)] entstammte einer vornehmen und begüterten Sikhfamilie. Von seiner geliebten und frommen Mutter wurde er auch in die Lehren des Hinduismus eingeführt.

Unser Sadhu kam einst ins Gespräch mit einem besonders Bussfertigen. Der hielt seine Hand hoch über dem Kopf. Die Knochen des Armes standen so, dass er ihn nicht mehr senken konnte. „Herr“, sagte er, „mit dieser Hand habe ich viel gestohlen und viele geschlagen; aber es kam ein Tag, da kam ein solcher Schrecken über mich, dass mein ganzes Leben in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Ich verliess mein altes Leben gänzlich und beschloss, entweder diese Hand abzuhauen oder, indem ich sie unbrauchbar machte, ihr die Strafe zu geben, die sie verdiente. Ich fragte meinen Guru (Lehrer), und auf seinen Rat hin hielt ich meinen Arm dauernd über meinem Kopf, bis er schliesslich ganz vertrocknet und in dieser Haltung fest geworden war. Darauf bin ich stolz.“
Singh bewunderte seinen Mut, doch erwiderte er ihm: „Statt deine Hand zu vernichten, hättest du sie gebrauchen sollen, um anderen zu helfen. Auf diese Weise hättest du bis zu einem gewissen Grade das Leid, das du durch sie angerichtet hast, wieder gut machen können. Wahrer Mut besteht nicht in nutzloser Zerstörung, sondern darin, dass du deine Hand gebrauchst, um anderen zu helfen. Mein Guru, Jesus Christus, sagt: ‚Wenn deine Rechte dich zu Unrecht verleitet, so haue sie ab.' (Matth. 5,30); damit meint er, dass wir das Instrument des Bösen so von unserem Herzen abschneiden sollen, dass es fortan nie wieder einem solchen Zweck zur Verfügung steht.“

Ein anderer Asket sass bei heissem Wetter zwischen fünf Feuern. War es jedoch eisig, stand er stundenlang im kalten Wasser. Der Begleiter des Sadhu fragte ihn voller Mitleid: „Seit fünf Jahren hast du dich auf diese Weise gequält; sag mir doch, was du bei dieser Art zu leben gelernt hast. Was ist dir Gutes daraus erwachsen?“ Seine Antwort: „Ich habe keine Hoffnung auf irgendeinen Gewinn in diesem gegenwärtigen Leben, und über die Zukunft kann ich nichts sagen; das ist alles, was ich dir darüber sagen kann.“
18 Monate lang kasteite sich ein Büsser auf einem Nägelbrett. Enorm war sein Wille, um sämtliche Begierden des Fleisches abzutöten. Unser Sadhu bemühte sich, diesem Asketen sein vergebliches Bemühen vor Augen zu führen, indem er ihm sagte: „Denn da die Nägel die Hände und Füsse eines Sündlosen durchbohrt hatten um der Sünde willen, so sind wir jetzt durch sein Opfer von der Sünde und ihren Folgen erlöst.“ Der Büsser: „Das kann ich nie zugeben, dass Erlösung erlangt werden könne als freies Geschenk und in einem einzigen kurzen Leben.“ Die Antwort des Sadhu bezieht sich vor allem auf die Lehre Pauli, gemäss welcher jeder Mensch grundverdorben und schlecht sei und deshalb aus eigener Kraft nichts vermöge.

Gewiss, ohne das Gnadengeschenk unseres Erlösers sind wir alle verloren. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass wir ihm [dem Gnadengeschenk] auch würdig sein müssen. Harte Arbeit an der Verbesserung unseres Charakters ist unumgänglich. Die Worte Goethes sollen uns beflügeln. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Die Gnade ist einem Ofen vergleichbar: Bevor er nämlich Wärme ausstrahlt, muss der Mensch das Heizen besorgen.

Das Büssertum ist nicht nur ein Privileg. der östlichen Religionen. Schon in der Frühzeit des Christentums gab es Asketen, die sich die schrecklichsten Qualen auferlegten. Auf diese Weise glaubten sie, die Krone des ewigen Lebens zu erlangen. Da gab es beispielsweise einen gewissen Simeon, der sich auf die Spitze einer Säule stellte, auf der er jahrelang stehen blieb; sie war zuerst nur vier Ellen hoch. Am Ende seines Lebens betrug sie vierzig Ellen. Volle dreissig Jahre verbrachte er meist aufrecht stehend hinter der kleinen Balustrade. Dort verneigte er sich unzählige Male am Tage und in der Nacht zum Gebet. Sein Körper war der Hitze und Kälte ausgesetzt. Geduldig ertrug er die Schmerzen seiner Schwären und Wunden. Nur einmal in der Woche nahm er Nahrung zu sich, die ihm in einem Almosenkorb gereicht wurde. Auf dieser Plattform schlief er stehend wie Pferde und Esel. Grosse Menschenmengen zogen zu dieser Stätte um das Säulenwunder zu bestaunen. Simeon wurde von der Kirche heilig gesprochen. Er wurde Patron der Hirten.


Die Geissler

Von Walter Vogt

Diese Bruderschaft entstand in Italien, verbreitete sich aber in mehreren Wellen über ganz West- und Mitteleuropa. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert erlebte sie ihre Blütezeit.

Die freiwillige Geisselung galt seit dem 11. Jahrhundert als ein vorzügliches Buss- und Gnadenmittel. Man berief sich auf den Apostel Paulus. Seine Worte finden wir im 1. Kor. 9, 27: „Sondern ich betäube meinen Leib und zähme ihn, dass ich nicht den andern predige, und selbst verwerflich werde.“ Noch deutlicher steht es im Römerbrief 8,13: „Denn wo ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben müssen; so ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tötet, so werdet ihr leben.“ Diese Worte Pauli entzückten selbst gekrönte Häupter. König Ludwig IX. (1214–1270) von Frankreich geisselte sich. Die Landgräfin Elisabeth von Thüringen (1207–1231) tat es ihm gleich.

Um die Zeit des Busspredigers Antonius von Padova (1195–1231) zog das Volk zum ersten Mal unter Geisselhieben und Gesang in Prozessionen umher. Der Sinn dieser Geisslerzüge sollte die Teilnahme am Leiden Christi veranschaulichen. Als gar die Pest in Europa wütete, begannen die Umzüge auch in Deutschland. Fahnen und Kreuze tragend, zogen die Brüder von Dorf zu Dorf; sie sammelten sich in Scharen von 100 bis 300. Täglich geisselten sie sich bis auf's Blut. Anno 1349 wurde diese Art von Büssertum durch Papst Klemens VI. untersagt. Sein Erlass hatte jedoch keinen nennenswerten Erfolg. Erst das Konstanzer Konzil (1414–1418) vermochte das Flagellantentum zu unterdrücken. Feierlich wurde es als ketzerisch erklärt. Die kühnsten Flagellanten liessen sich jedoch nicht unterkriegen. Es entstanden Sekten, die den Klerus als Antichrist bezeichneten. Anstelle der christlichen Sakramente setzten sie die Bluttaufe ein. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschwanden die ketzerischen Geissler. Später entstanden jedoch noch artverwandte Gemeinschaften.

Schon in den ersten Jahrhunderten des Christentums gewann die Idee Raum, dass es zur Erlangung der Seligkeit nötig sei, sich körperliche Qualen freiwillig aufzuerlegen. Dies wird uns bereits von den Wüstenvätern der Thebais berichtet; sie gilt als eigentliche Wiege des Mönchstums. Climax erzählt: „Einige der Mönche tränkten den Boden mit ihren Tränen, während andere, die keine Tränen vergiessen konnten, sich selbst geisselten.“

In vielen Klöstern war die Trübseligkeit bereits so gross, dass die an sich schon äusserst strenge Askese zum Heil der Seele nicht mehr genügte. Selbst unzählige Laien wurden von dieser krankhaften Manie erfasst; sie verzichteten auf Liebe und vor allem auf weltliche Lust. Mit grösster Verachtung blickten sie auf die von Gott eingeführte Ehe. Sogar der Anblick der eigenen Mutter galt als schwere Sünde. Nur das Anachoretentum [Anachoret: einer, der zurückgezogen lebt; Einsiedler; Klausner] war erstrebenswert.

Unter den Mitläufern dieser Bussgemeinschaft gab es auch Sadisten und Masochisten, die ihre Triebe im Namen Gottes auslebten.


Indischer Yogi in mystischer Versenkung (Meditation)
Bild: Indischer Yogi in mystischer Versenkung (Meditation)



(Red.: Im Kommentar vorseitigem Bild aus der Bhagavad-gita (dt. Ausg. 1987) heisst es (S. 298):

„Ein mystischer yogi, der kein Geweihter Krsnas [d.h. Gottgläubiger] ist, muss sich an einem einsamen Ort für lange Zeit schwerste Entsagung auferlegen, um seinen Geist und seine Sinne zu beherrschen. Dieser yoga-Vorgang ist im gegenwärtigen Zeitalter, dem Kali-yuga [Zeitalter der Irreligion, Trennung und des Streites], nicht mehr durchführbar. “

Die Themen Strafe, Busse, Entsagung, Askese [Übung, a) streng enthaltsame und entsagende Lebensweise zur Verwirklichung sittlicher und religiöser Ideale; b) Selbstüberwindung; c) Bussübung] sind eng miteinander verwandt. Die Fragen lauten u.a.: „Werde ich von Gott für meine "Sünden" bestraft, wenn ja, warum und wie? Kann ich Heil erreichen durch Bussübungen, rituelle Handlungen, Verzicht und strengen Lustverzicht? Ist mein aktuelles Leiden Strafe für vergangene Sünden? Wie ist das mit dem Opfertod Jesu am Kreuz, durch den Gott sich mit den sündigen Menschen aussöhnen sollte? usw.“
Diese und ähnliche Fragen sind theologische Minenfelder. Ich möchte hier nur vorsichtig einige Ansichten andeuten. Für mich bedeutet "Strafe" schlicht Reaktion meiner Handlung auf die Gesetze Gottes (womit auch die Naturgesetze gemeint sind). Wenn meine Handlungen (Gedanken mitgezählt!) nicht im Einklang mit den höheren Gesetzen stehen, dann sind die Reaktionen eben negativ, d.h. gegenläufig, man könnte wohlwollender auch sagen: erziehend. Mir wird dadurch nämlich deutlich mitgeteilt: so nicht! Das finde ich übrigens gut, denn es bewahrt mich, ständig im selben Fehler zu verharren und weiter zu leiden. Wenn es Gott wohl mit mir meint (und das tut Er!), dann müssen Seine "Strafen" nützlich für mich sein, mir wahrlich helfen! Ich kann mit einem Gott, der eitle Vergeltung für meine Sünden verlangt, nichts anfangen! Diese Vorstellung fand ich schon immer "zum Abgewöhnen"! Gottes "Strafen" sind immer erzieherisch, liebevoll und an das eigene Wachstum angepasst.

Die wirksamste, beste Busse ist, das Fehlverhalten zu korrigieren, d.h. den Fehler in Zukunft zu vermeiden. Niemand schlimmer als der, welcher ständig in gleicher Weise sündigt und sich regelmässig Absolution im Gebet oder beim Geistlichen holt. Eure "Strafe" soll sein, dass ihr nicht mehr "sündigt"! Diese Entsagung wird gerne angenommen und bringt uns in Windeseile ans Ziel, alles andere ist unangebracht, spottet der Liebe und dem Langmut Gottes, ist psychisch äusserst ungesund, hat damit zu tun, sich das Himmelreich "egoistisch" verdienen, "erkaufen" zu wollen.

Im Übrigen ist Entsagung Grundlage jeglichen geordneten Daseins. Ohne Rhythmus, Welle, Hin und Her, Dazu und auch wieder weg, Erregung und auch wieder Dämpfung, würden sich die Dinge überall zur Monströsität hin entwickeln. Stabile, echte Ewigkeit muss teilweise auf zyklischen Prozessen aufbauen, sonst kann es sie nicht geben. Das muss nun keineswegs Monotonie in Zyklen bedeuten, denn der Geist kann ständig weiterwachsen, komplexer werden, vielfältiger. Die äusseren Energien Gottes (materielle Welten) mögen werden und vergehen, die Persönlichkeit Gottes (die innere Energie) wird ewig sowohl gleich (Sich Selbst treu) wie auch wandelbar bleiben, aber nichts wird sich je identisch wiederholen. Nichts wird je "immer gleich" sein! Ansonsten wäre die Ewigkeit eine Grauenhaftigkeit!

Neben der direkten Gottesliebe / Gottesbewusstheit ist der zweitbeste mögliche Gottesdienst, nämlich betätigte Nächstenliebe, sozusagen die christliche Art der Busse, ebenfalls eine produktive Art zu büssen. In der selbstlosen Nächstenliebe wird das "falsche Ego" zurückgebunden und aberzogen.

Nachfolgend einige ausgewählte Verse der "Bhagavad-gita" (Übersetzung: "Gesang Gottes"; ist die "Bibel der Inder"):

Man kann nicht dadurch, dass man sich von Arbeit zurückzieht, Freiheit von Reaktionen erlangen, ebenso wie man durch Entsagung allein keine Vollkommenheit erreichen kann. (3.4)

Wer die Früchte seiner Tätigkeiten weder hasst noch begehrt, ist immer in Entsagung verankert. Ein solcher Mensch, befreit von aller Dualität, überwindet leicht die materielle Knechtschaft und ist völlig befreit. (5.3)

Derjenige, der sich vollkommen über Mich bewusst ist und weiss, dass Ich der letztliche Nutzniesser aller Opfer und Entsagungen, der Höchste Herr aller Planeten und Halbgötter und der Wohltäter und wohlmeinende Freund aller Lebewesen bin, erlangt Frieden von den Qualen des materiellen Daseins. (5.29)

Die Höchste Persönlichkeit Gottes sprach: Wer nicht an den Früchten seiner Arbeit haftet und so handelt, wie es seine Pflicht vorschreibt, befindet sich im Lebensstand der Entsagung. Er ist der wahre Mystiker, und nicht der, der kein Feuer entzündet und keine Pflicht erfüllt. (6.1)

Diejenigen, die sich harte, nicht in den Schriften empfohlene Entsagungen und Bussen auferlegen, und dies aufgrund von Stolz und Egoismus, getrieben von Lust und Anhaftung, die töricht sind und die materiellen Elemente des Körpers sowie auch die Überseele im Innern quälen, sind als Dämonen anzusehen. (17.5-6) –
T.F.)


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"