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Religion - Philosophie

Artikel von Armin Risi, erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 3/2006, S. 51-54.

Unterscheiden ohne zu urteilen – Was bedeutet das?

Von Armin Risi

Wenn von der Polarität "positiv" und "negativ" gesprochen wird, lautet ein häufiger Einwand, man dürfe nicht urteilen und etwas als positiv und etwas anderes als negativ bezeichnen; das sei polares Denken; man solle nie werten und nie urteilen, denn nichts sei schlecht oder falsch. „Alles hat einen Sinn.“

Letzteres stimmt. Alles hat einen Sinn, auch das Negative. Aber deswegen ist das Negative immer noch negativ!

Das berühmte Zitat „Urteile nicht!“ stützt sich auf ein Wort Jesu und lautet im Zusammenhang (Mt 7.1-2): „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit welchem Gericht ihr richtet, mit dem werdet auch ihr gerichtet werden.“ Gleich danach (7.3) sagt Jesus: „Was kümmerst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders und siehst nicht den Balken in deinem eigenen? ... Du Scheinheiliger, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge! ... Werft eure Perlen nicht vor die Schweine!“

„Urteile nicht!“ heisst also nicht: „Unterscheide nicht!“ Jesus selbst unterscheidet offensichtlich sehr kritisch. Gewisse Männer nannte er sogar "Schlangenbrut".

Das Thema "Nicht urteilen" ist eine, wenn nicht sogar die essentielle Lehre aller echten Religionen und Mysterienschulen und wurde immer nur in inneren Kreisen weitergegeben, gerade weil sie so missverständlich ist. Denn sie ist nur mit einer göttlichen Sicht zu verstehen.

Worum es geht, ist die Realität jenseits der Dualität (Zweiheit), nämlich die göttliche Einheit, also um nichts anderes als um das Absolute (Gott). Diese Einheit ist unteilbar und ungeteilt, auch nicht aufgeteilt in die Zweiheit von Vergangenheit und Zukunft. Sie ist jenseits von Zeit und daher auch jenseits von Raum. Sie ist ewig (= zeitlos, raumlos). Was ist nun diese ewige Realität jenseits der Dualität? Es ist die Indivi-dualität, wörtlich: "das Nicht-Teilbare" (gebildet aus dem Lateinischen dividere, "teilen", und der Silbe in- als Verneinung). Nicht nur wir als relative Wesen sind individuell, sondern auch das Absolute ist individuell. Da Individualität Bewusstsein und freier Wille bedeutet, hat auch Gott einen Willen. Nur deshalb können wir beten: „Dein Wille geschehe!“

Wie können wir individuell und gleichzeitig eins sein mit der absoluten Individualität? Nur im Bewusst-Sein der Liebe. Liebe ist die wahre Einheit in vollkommener Individualität. Und Liebe ist immer freiwillig. Nichts, nicht einmal Gott, kann Liebe erzwingen. Liebe ist also die Vollkommenheit des freien Willens. Und da Gott Liebe ist, will Gott nichts anderes als diese Vollkommenheit des freien Willens.

Freier Wille erfordert die Möglichkeit des Wählens. Und das ist der Sinn, warum es eine materielle Schöpfung gibt. Sie ist der Bereich von Raum und Zeit, die ursprüngliche Polarität, die nichts anderes ist als wertfreie "Schöpfungsdynamik". Männlich – weiblich, jung – alt, "positiver Pol" – "negativer Pol" haben nichts mit "gut" und "böse" zu tun.

Im Bereich der Polarität haben alle Geistwesen aber die Möglichkeit zu wählen, das heisst, sie "müssen freiwillig" die Liebe wählen. Niemand zwingt sie, in der Einheit zu sein, und niemand zwingt sie, in die Zweiheit zu gehen. Es ist also auch nicht "notwendig", in die Zweiheit zu gehen!

Dualität (Zweiheit) beginnt, wenn die Wesen aus eigenem freien Willen beschliessen, aus der Harmonie und dem Gleichgewicht auszusteigen und in die Spaltung zu gehen. So entsteht das Diabolische, wörtlich "das Spaltende". In der Symbolik von Licht und Dunkelheit bedeutet dies, dass sich etwas dem Licht entgegenstellt und "Dunkelheit" schafft. Plötzlich fallen lange Schatten ...

Und dies ist die grosse Versuchung: etwas zu schaffen, was das Licht nicht schaffen kann. Denn Licht wirft keine Schatten! Wer sich hier aus der ursprünglichen Identität abspaltet, verfällt in das Ego, nämlich in den Verlust des Bewusstseins, dass wir alle ewige Individuen jenseits der Dualität sind. Sobald man in der Dualität ist, hat man keinen Zugang mehr zur Realität jenseits der Dualität, genauso wie jemand in Dunkelheit nicht mehr mit dem Licht verbunden ist (sonst wäre er nicht in Dunkelheit).

"Gut" und "böse" existieren nur innerhalb der Dualität – aber dort existieren sie. In der Diskussion der Gegensätze "gut" und "böse" ist es auch gerechtfertigt, das Böse als das "Negative" zu bezeichnen, denn im wörtlichen Sinn bedeutet negativ "verneinend, ablehnend", vom lateinischen Verb negare, "nein sagen". Das Böse ist in diesem Sinn tatsächlich negativ, weil es die göttliche Ordnung verneint und eine eigene "Welt-Ordnung" durchsetzen will.

Böse (satanisch) ist all das, was der bewussten Einheit, der Liebe, entgegenwirkt oder diese sogar bekämpft, z.B. indem es den freien Willen der anderen nicht respektiert. Gut ist all das, was diese bewusste Einheit anstrebt. Aber solange man noch streben muss, ist man noch immer im Gegensatz-Bereich des Bösen und definiert sich als dessen Gegenteil. "Gut" sein ist also gut, aber nicht gut genug. Das Ziel ist es, göttlich zu sein, d.h. im ursprünglichen Bewusstsein der Einheit (Liebe) zu sein. Für diese drei Begriffe könnten man daher auch sagen: gottabgewandt, gottzugewandt, gottesbewusst.

Aus der göttlichen Sicht heraus ist es möglich, den eigentlichen Sinn von allem zu erkennen, auch des Negativen. Innerhalb der Materie leben wir alle angesichts der Dualität und werden mit Gutem und Bösem konfrontiert. Beides ist eine Herausforderung und Prüfung der Liebe: Wie stark ist mein göttliches Bewusstsein? Lasse ich mich zu Gefühlen der Dualität bewegen? Verführt mich das Gute, egoistisch nur an mich selbst zu denken? Mich für besser als andere zu halten? Provoziert mich das Böse (Lüge, Gewalt, Folterung usw.) zu Gefühlen des Hasses, der Rache, der Ohnmacht, des Selbstmitleids? Oder kann ich in allen Situationen das souveräne, unbeeinflusste Bewusstsein beibehalten? Nie das göttliche Ziel, die Sicht der Ewigkeit, verlieren? Was ist aus der Sicht der Ewigkeit schon wesentlich ausser die Ewigkeit selbst?

In diesem Bewusstsein urteilt man nicht mehr und sagt nicht: "Das ist böse und von Nachteil für mich", und "Das ist gut und ein Vorteil für mich." Denn beidem begegnen wir wertfrei, denn beides ist für uns ein Anlass zum Bewusst-Sein der Einheit: Liebe, Verzeihen und Loslassen der Dualität. Nicht selber wieder in die Dualität fallen.

Dabei aber unterscheiden wir genau, denn ohne Unterscheiden kein
Ent-scheiden
(Aufheben der Scheidung, Spaltung, Dualität). Wir erkennen: Was ist gut und was ist böse? Wie reagiere ich im jeweiligen Fall entsprechend der göttlichen Liebe? Liebe bedeutet, für das höchste Wohl aller Wesen zu wirken, ohne für sich selbst einen Lohn zu erwarten (= bedingungslose Liebe). Und dem höchsten Wohl des Bösen, d.h. dessen Befreiung, kann man nur so dienen, dass man zumindest vermeidet, selbst reinzufallen, wodurch sich die entsprechende Dunkelmacht nur noch weiter verschulden würde. Als der Satan zu Jesus kam und ihm Weltherrschaft versprach, antwortete Jesus: „Weiche von mir, Satan.“ Dies war kein Ausdruck von Hass oder Angst, sondern von Liebe. Durch diese klar unterscheidende Abgrenzung konnte Jesus den Satan vor einer weiteren Sündenlast bewahren. Das war Vollkommenheit des freien Willens mit entsprechend göttlicher Resonanz.

Unterscheiden ohne zu urteilen bedeutet also:

Die Dualität nicht ignorieren, sondern transzendieren!


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