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Spiritismus

Vortrag von WB-Leser C. L. (D-München), erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 2/2006, S. 2-17.

Was ist der Charakter des Spiritismus?

Manuskript eines Vortrags von WB-Leser C. L., gehalten am 19.3.2005 in D-München

(Red.: Den nachfolgenden Artikel erhielt ich als Reaktion auf den Beitrag "Das Gute und das Böse" von M. Fauss, WB 1/2006, S. 31ff.
Herr L. leitet in Deutschland eine Kardec-Gruppe und möchte ungenannt bleiben. – T.F.)

Einleitung

Wir sehen einem alten Menschen ins Gesicht. Eine Brille, ein schwarzer Mantel, graues Haar und Falten. Fragen tauchen auf. Wie heisst du? Woher kommst du? Was hast du erlebt? Vielleicht kenne ich dich. Vielleicht lernen wir uns noch näher kennen. Vielleicht aber auch nicht. Man weiss ja nie, wen man vor sich hat. Man weiss nicht, welche Masken der andere trägt. Manche Masken durchschaut man sicherlich, andere sind vielleicht so gut, dass man sie lange Zeit nicht erkennt. Vielleicht hat er gar keine Masken. „Ein wahrer Charakter hat keine Masken nötig“, heisst es. Doch was ist denn schon ein "wahrer Charakter"? Wer kann das schon sagen? Was heisst denn Charakter? Das Wort Charakter kommt aus dem Griechischen "charassein" und heisst "einprägen".
Die Falten in deinem Gesicht haben sich eingeprägt. Eingeprägt durch dein Lachen, durch dein Weinen, durch dein Grübeln und durch deine Erfahrungen. Charakter ist die eigene, ganz persönliche Note eines Menschen. Charakter ist gleichsam tief im Herzen zu spüren, als auch durch äussere Merkmale erkennbar. Charakter entsteht aus Erfahrungen, Begegnungen und Entscheidungen. Es betrifft das ganze Sein eines Menschen, sein Tun, seine Entscheidungen, seine Vergangenheit und seine Zukunft.

Doch nicht nur Menschen haben ihren eigenen Charakter, ebenso spricht man auch vom Charakter einer Kultur, einer Philosophie, oder einer Religion. Auch der Spiritismus hat seinen eigenen Charakter und ich möchte im folgenden versuchen, mich diesem zu nähern. Ich bleibe dabei noch kurz beim menschlichen Charakter. Erlauben sie mir einen Vergleich.

Erinnern sie sich bitte an ihre eigene Schulzeit zurück. Stellen sie sich vor, sie kommen nach den Ferien wieder in die Schule und erfahren, dass sie eine neue Lehrerin bekommen. Sie kennen die neue Lehrerin nur vom Sehen und möchten mehr über sie erfahren. Sie wissen von einem Freund, der diese Lehrerin mal hatte und fragen ihn aus. Die meisten der folgenden Fragen an ihren Freund werden sich um den Charakter der "Neuen" drehen.

Ist sie streng?
Was lehrt sie?
Welche Regeln stellt sie auf?
Ist sie nett?
Muss man bei ihr viel lernen?
Ist sie eine gute oder schlechte Lehrerin?

Der Freund wird nun hoffentlich nach bestem Wissen und Gewissen Rede und Antwort stehen und je nach seiner Sicht, nach seinen Ausschmückungen und erlebten Anekdoten die Lehrerin beschreiben. Ähnlich fragt jemand nach dem Spiritismus wenn er ihn kennenlernt: Welche Ziele hat der Spiritismus? Was lehrt er eigentlich genau? Ist er streng? Welche Regeln gibt es? Was kann man hier lernen? Ist es eine gute oder schlechte Lehre?
Ich möchte diese Fragen noch um die Fragen, die man eher im Geheimen stellt, oder nicht gleich stellt, erweitern: Ist er gut für mich? Kann er Menschen Schaden zufügen? Gibt es vielleicht sektenhafte Züge oder steht eine unbekannte Machenschaft dahinter? Stehen Werte wie Offenheit, Ehrlichkeit, ein "Ich-darf-so-sein-wie-ich-bin" dahinter? Kann mich diese Lehre in meinem Leben voran bringen, mir helfen, mich befreien und vielleicht ein Stück zufriedener machen? Muss jeder Mensch dieser Lehre folgen, um glücklich zu sein, oder gibt es auch andere Wege des Glücks?

Ich denke, dass gerade die letzte Frage eine sehr entscheidende Frage ist, wenn man sich dem Charakter einzelner philosophischer oder religiöser Strömungen nähern möchte. Nochmals möchte ich diese Kernfrage stellen: Kann mich diese Lehre, diese Philosophie, diese Religion voran bringen, mir helfen, mich befreien, mich ein Stück zufriedener machen, vielleicht sogar so etwas Glück und Liebe erleben lassen? Leider hat diese Frage schon oft zu Streitereien und Zerwürfnissen geführt. Mit der Frage „Kann mich die Lehre voran bringen?“ wurde auch gleichzeitig oft die Frage gestellt „Kann mich diese Lehre am besten voran bringen?“. „Welche ist denn die beste, die einzige, die wahre Lehre?“ Aus dem Streit welche die beste sei, wurde oft ein Krieg unter den einzelnen Lehren. Krieg, der uns durch alle Zeiten und in vielen Variationen begegnet. Ich denke hier an die Ereignisse rund um den 11. September, an die Anschläge und Vergeltungsaktionen in Israel, an die gegenseitige Ermordung von Protestanten und Katholiken in Irland. Ich erinnere mich an die Kreuzzüge, zu der Papst Urban II. mit den Worten „Gott will es“ aufrief, oder an die Übergriffe von Buddhisten an Hindus in der Frühphase des Buddhismus.

Ich komme nochmals auf das Beispiel mit der neuen Lehrerin zurück. Es gibt, wie gesagt, unglaublich viele Möglichkeiten wie der Freund die neue Lehrerin beschreiben und charakterisieren kann. Eng verknüpft mit seinen Antworten ist sein eigener Standpunkt. Das gilt noch viel mehr für die Charakterisierung von religiösen Strömungen. Angenommen der Standpunkt der Beurteilung einer Religion wird aus Sicht des Atheismus gesehen, dann wird von dieser Warte aus diese Religion als eher unnütz gesehen. Religionen sind in den Augen des Atheismus unlogisch, Gewalt produzierend, sie basieren auf Verdrängung, oder auf Beruhigung und gehören demnach zur Volksverdummung. Aus dieser Sicht kann man nur schlecht eine Religion beurteilen, da keinerlei Differenzierung ermöglicht wird, denn alle sind sie mehr oder weniger als schlecht anzusehen.
Vielleicht sollte der Schulfreund für eine objektive Beurteilung der Lehrerin einen Vergleich mit den anderen Lehrern der Schule anstellen. Übertragen auf die Beurteilung von Religionen hiesse das, man sammelt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aller religiösen Strömungen, um daraus eine Charakterisierung ableiten zu können. Nahezu alle religiösen Strömungen sprechen zum Beispiel in irgendeiner Form von einem Leben nach dem Tod, oder von Offenbarungserfahrungen. So eine Sammlung wäre allerdings bereits in der Erstellung ein sehr mühseliger Weg. Ausserdem bietet solch eine Liste, falls sie jemals fertig werden könnte, auch kein echtes Beurteilungswerkzeug, da sie ja nur auflistet, aber in keinster Weise eine differenzierte Charakterbeschreibung vornimmt.

Doch seit den 1980er Jahren hat sich in der Philosophie weltweit ein Modell durchgesetzt, mit Hilfe dessen es möglich wurde, Religionen sinnvoll zu beurteilen: das Klassifikationsmodell des Exklusivismus, Inklusivismus und des Pluralismus.

Exklusivismus

Was ist Exklusivismus? Eine Rose steht auf einer Wiese. Sie sagt von sich: „Ich bin die schönste unter allen Blumen hier. Ich bin die einzige, die wahre, die, die immer gepflückt wird. Wer eine andere pflückt, ist selber schuld, er kann nie mit einer anderen glücklich werden. Er wird es früher oder später bereuen.“
Exklusive Strömungen und Religionen behaupten demnach von sich, nur bei ihnen alleine findet man die ganze religiöse Wahrheit, nur sie haben die einzige und echte Offenbarung inne. Nur in ihr kann man glücklich werden, Heil erfahren, nur sie wurde von dem Höchsten alleine vorgesehen, um den Menschen auf den rechten Weg zu führen.
Um auf die Rose zurückzukommen, hiesse das: es gibt nur eine einzig wahre Blume, alle anderen Blumen sind nur Abglanz, sie können niemals jemanden entzücken. Ein bekannter Spruch des Christentums, der in Variationen sowohl von katholischer Seite, als auch von protestantischer Seite den Exklusivismus auf den Punkt bringt, lautet: „Ausserhalb der Kirche kein Heil“. So verkündet beispielsweise das Konzil von Florenz 1442: „Die katholische Kirche glaubt fest, bekennt und verkündet, dass niemand ausserhalb der Kirche, weder Heide, noch Jude, noch Ungläubiger, des ewigen Lebens teilhaftig wird wenn er sich nicht vor dem Tod der Kirche anschliesst“. Ähnlich formulierte es 1529 Martin Luther in seinem Grossen Katechismus: „Wo man nicht von Christus predigt, da ist kein Heiliger Geist, der die christliche Kirche macht und ausserhalb derer niemand zu dem Herrn Christus kommen kann.“ Beispiele für eine exklusivistische Haltung finden sich natürlich auch in den anderen Weltreligionen. Ich möchte mich im Folgenden hauptsächlich auf Beispiele aus dem Christentum beschränken, ohne dabei einseitig oder gar verurteilend sein zu wollen.

Man unterscheidet innerhalb der Position des Exklusivismus drei Varianten: Da wäre zunächst der radikale Exklusivismus zu nennen. Radikaler Exklusivismus heisst, dass alle, die nicht zum Christentum gehören, nie ganz erlöst werden, nie das Heil, das ewige Leben erfahren, wenn sie sich nicht ausschliesslich zu ihrer Gemeinschaft bekennen. Das hiesse also, nur eine Rose darf wachsen und die anderen Blumen haben kein Existenzrecht.

Neben dem radikalen Exklusivismus findet sich der gemässigte Exklusivismus. Gemässigter Exklusivismus meint, dass ein Nichtchrist. wenn er z.B. das Christentum zeitlebens nicht kennengelernt hat, sei es, weil er vor Christus lebte, oder aus einer Gegend kommt, in der er vom Christentum nichts erfahren konnte, die Möglichkeit im Jenseits bekommt, sich zum Christentum zu bekennen. In so einem posthumen Bekennungsakt nach dem leiblichen Tode kann er doch noch das Heil erfahren.
Somit heisst das, dass er „die Mitgliedskarte des einen und einzigen Clubs doch noch im letzten Moment erhalten kann, bzw. zu guter Letzt die einzig glücklich machende Blume doch noch erleben darf“. Ähnliche Vorstellungen eines nachtodlichen Zugehörigkeitsbekenntnisses finden sich unter anderem im konservativen Islam.

Als dritte und letzte Variante des Exklusivismus findet sich der unentschiedene Exklusivismus, der die Frage nach der Heilsmöglichkeit des "Nicht-zur-Gemeinschaft-Gehörigen" offen lässt. Nach der Position des unentschiedenen Exklusivismus kann man sich nicht festlegen, ob ausserhalb der eigenen Gemeinschaft Heil gefunden werden kann. Diese Frage kann nicht entschieden werden und deshalb erklärt man die Sache schlichtweg für nicht entscheidbar, für unentschieden. Das hiesse: „Bei uns ist auf jeden Fall die einzig wahre Blume zu finden, ob die anderen auch was anzubieten haben und ob das genauso glücklich macht, das können wir nicht sagen, dafür können wir nicht garantieren, das interessiert uns auch nicht.

Es gibt zwei sehr gravierende Einwände gegen den Exklusivismus.

Zunächst wäre da ein einfaches Problem: Wenn Gott alle Menschen liebt, liebt er dann manche mehr? Will er demnach wirklich, wie es in der Bibel (1 Tim 2,4) heisst, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“? Kann die Aussage „Gott liebt alle Menschen“ mit der Position im Einklang stehen, dass es ausserhalb des Christentums keine Heilsmöglichkeit gibt? Sollte ein Gott, der das Heil aller Menschen will, dafür nicht auch überall die vorhandenen Voraussetzungen geschaffen haben? Ist es wirklich logisch, oder gar liebevoll, nur einer einzigen religiösen Gemeinschaft das Heil zu ermöglichen?

Als zweiter gewichtiger Einwand gegen Exklusivismus ist zu sagen, dass in allen Religionen viele gemeinsame Positionen anzutreffen sind. Vereinfacht gesagt wird Gott im Hinduismus "Das Viele", im Islam "Allah", im Taoismus "Der Weg", im Judentum "Jahwe" – der: ich bin für dich da – genannt. Dahinter stehen immer ähnliche Werte wie Liebe, Hoffnung, Rettung, Vertrauen, Allgegenwart, Allmacht. Hat die Liebe Gottes nicht viele Gesichter, nicht viele Kleider, nicht viele Strahlen?

Der Spiritismus kennt auch viele Übereinstimmungen. Er will nicht die oberste, exklusivste Religion sein, er sieht als erstes die wissenschaftlichen Fakten und kombiniert sie mit der Ethik, die z.B. aus der Existenz nach dem Tod wächst. Er sieht sich nicht als exklusiv, nicht mal als Religion oder Religionsersatz an. Spiritismus ist Wissenschaft mit religiösem Charakter.

Zurück zum Exklusivismus. Exklusivisten argumentieren auf verschiedene Weise gegen die Gemeinsamkeiten der Religionen. So heisst es interessanterweise von äusserst konservativen Christen wie Moslems gleichermassen, dass diese Parallelen geschickte Schachzüge des Satans sind, um die Menschen zu verwirren. Dieser Vorwurf wird auch dem Spiritismus von Beginn an gemacht. Weiter wird dagegen argumentiert, dass diese Parallelen Projektionen, Prüfungen oder Vorstufen des einzig wahren Glaubens sind. Ich will diese Argumente hier nicht näher kommentieren, sie sind gleichermassen so anzusehen, als wenn der Schulfreund die neue Lehrerin als das böseste Geschöpf der Schule schlechthin darzustellen versucht.

Inklusivismus

Eine zweite religionsphilosophische Klassifikation zur Charakterisierung ist die Position des Inklusivismus. Aufgrund der Schwächen des Exklusivismus sind viele religiöse Gemeinschaften und Weltreligionen mittlerweile zur inklusivistischen Position übergegangen. So wird z.B. in der römisch-katholischen Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil, also seit den 1960er Jahren, eine inklusivistische Haltung offiziell vertreten. Was ist nun die Position des Inklusivismus? Ich will nochmal ein Bild aus der Botanik gebrauchen. Sehen wir uns einen Garten an. In diesem Garten finden wir viele Blumen, Büsche, Sträucher und Kräuter. Auch im Nachbargarten gibt es Blumen. Doch nur bei uns findet man alle Blumen. Nur bei uns kann man alles finden, um glücklich zu werden. Beim Nachbarn gibt es zwar die eine oder andere schöne Blume, aber nicht alles inklusive.
Auf das katholische Christentum angewandt, hiesse das: Es gibt nicht mehr nur die eine Möglichkeit, um glücklich werden, auch in anderen Religionen finden sich heilsame Spuren, die im Sinne der Kirche sind. Aber nur in der Kirche, nur durch die Person Jesus Christus findet sich die göttliche Offenbarung als unüberbietbaren und vor allem kompletten Höhepunkt wieder.
Um auf den Garten zurückzukommen, hiesse das: Nur unser Garten ist vollständig, nur unser Garten enthält die Vielfalt der Botanik und ist mit allen Raffinessen der Gartenarchitektur ausgestattet. Natürlich gibt es andere Gärten und manche davon sind vielleicht nicht einmal hässlich, allerdings ist keiner so gut und vor allem nicht so vollständig, nicht so allumfassend, nicht so glücklich machend, wie der unsere. Nur unsere Religion ist vollständig, inklusive allem, all-inclusive...

Der Schulfreund antwortet also über den Charakter der neuen Lehrerin: Ja, die ist mindestens so gut wie der Herr Meier und die Frau Otto, aber nur bei ihr wirst du richtig lernen können, richtig betreut, richtig belohnt.
Ziel dieser Haltung ist es natürlich, sie dennoch als die Beste darzustellen, oder auf das Christentum umgemünzt, man möchte alle Nichtchristen zur kompletten Lehre, zum Christentum bekehren.

Auch hier gibt es Schwierigkeiten. Die erste Schwierigkeit taucht auf, wenn man nach Beweisen sucht, dass das Christentum tatsächlich den anderen überlegen ist, also wirklich mehr Glück, Heil, Freude und im weitesten Sinne Liebe ermöglicht. Ist das so? Gibt es hierfür empirische Belege?

Ein weiteres Problem ist die Einschätzung der religiösen Vielfalt. Kann man die Ausübung der Liebe zu Gott, zu dem Höchsten und den daraus entstehenden Gemeinschaften, Werken, Entwicklungen und Moralitäten wirklich nur eine Umsetzung zubilligen? Kann man Gott auf einen all-inclusive Garten, auf eine all-inclusive Lehrerin reduzieren?

Ganz allgemein gesprochen kann es "Liebe-im-Sinne-Gottes" nur eine geben. Aber gibt es deshalb auch nur eine Form ihrer Verwirklichung? Sind wir alle nicht viel zu unterschiedlich und kommen aus verschiedenen Traditionen, um alle im selben Garten glücklich zu werden? Ist das nicht auch ein bisschen anmassend, gar arrogant, allen Menschen nur eine Weggemeinschaft vorzuschreiben? Sind denn die Weltreligionen und die religiösen Gemeinschaften nicht einfach unterschiedliche Schritte, unterschiedliche Gesichter mit unterschiedlichen Geschichten auf demselben Weg, dem Weg des Glücklich-Werdens, dem Weg der Liebe? Erhöht nicht eigentlich die Vielfalt, statt dass sie erniedrigt? Und wie ist das eigentlich mit der eigenen Entscheidungs- und Willensfreiheit bei der Auswahl einer Religion?

Pluralismus

Ich lasse diese Fragen vorerst offen und möchte zum dritten und letzten Klassifikationsschema, dem Pluralismus, übergehen.
Dieser Standpunkt findet sich in der philosophischen Forschung heute im angelsächsischen Raum wieder, ein sehr bekannter Vertreter ist John Hick, im deutschsprachigen Raum wäre hier Tillich zu nennen. In der Geschichte der Weltreligionen finden sich zum Pluralismus nur wenige Ansätze, wie z.B. im Taoismus, oder der mystischen Bewegung des islamischen Sufismus wieder. Man findet diese Ansicht auch im Spiritualismus und Spiritismus. Interessanterweise hielt das Schemata des Pluralismus auch durch den angelsächsischen Spiritualismus, der eng verbundenen Geschwisterbewegung des Spiritismus nach Kardec, Einzug in die philosophische Forschung.
Was ist nun Pluralismus? Ein letztes Mal will ich über Gärten sprechen. Ein Mensch streift durch alle Gärten. Er sieht rote, blaue, lila Blumen, Sträucher und Bäume. Er entscheidet selbst, welche ihm am besten gefallen, welche ihm gut tun und sieht gleichzeitig, dass dies alle Geschöpfe Gottes sind und alle sowohl einzigartig als auch zum Staunen anregen können. Die pluralistische Position macht demnach mit dem Gedanken ernst, dass es wahre Religion in pluraler Gestalt geben kann, dass es ebenbürtige Wege demnach tatsächlich gibt. Das Verständnis um eine Pluralität schliesst also bewusst Begriffe wie "Gleichwertigkeit" oder "ungefähre Gleichwertigkeit" in ihre Beurteilung mit ein.

John Hick formuliert das für das Christentum so:
„Die grossen Weltreligionen sind unterschiedliche Antworten auf das Wirkliche oder Unbedingte. Es gibt eine Vielfalt von göttlichen Offenbarungen, die eine Vielfalt von menschlichen Antworten ermöglicht.“
Vergleicht man John Hicks Worte wieder mit der neu ankommenden Lehrerin, dann könnte man im Sinne des Pluralismus sagen, es gibt mehrere gleichwertige Lehrer, die gut, nett, voran bringend sind, also zu einem gelingenden Leben beitragen können.
Trotz aller Unterschiedlichkeiten des Aussehens, des Alters, der pädagogischen Vorprägung bieten alle auf ihre Art die Möglichkeit an, sich im Sinne der Liebe, Gott zu nähern.

Das heisst aber natürlich nicht, dass nun jeder Lehrer dies ermöglicht. Bei einigen Lehrern stehen Autorität, Machtgelüste oder ein reines Geldverdienen im Vordergrund ihres Charakters. Hier ist keine Toleranz oder Akzeptanz mehr gegeben, hier wird eingeengt und nicht befreit, hier geht es nicht um den Menschen, kurzum, hier wird nicht im Sinne der Liebe gehandelt. Bezogen auf den Garten der Religionen und Weltanschauungen hiesse dies, dass Organisationen und Methoden beispielsweise von Scientology oder manch anderen radikalen Bewegungen keine "Gleichwertigkeit" zugestanden werden kann. Das gilt auch für viele Lehrmeinungen und einzelne Meinungsträger innerhalb der Weltreligionen. Ich betone nochmals, dass im Sinne des Pluralismus also nicht jede religiöse Meinung oder Vereinigung als "gleichwertig" zu sehen ist. Gradmesser ist hier – sehr vereinfacht und ganz allgemein ausgedrückt – "Liebe". Dort, wo unterdrückt, Hass gepredigt, Fehlinformationen weitergegeben werden, oder dort, wo nur an eine Machthierarchie, an einen Geldgewinn gedacht wird, ist kein Raum für Entfaltung, für Befreiung, für Fürsorglichkeit, für Gott.
Natürlich sind religiöse Aussagen oft unterschiedlich interpretierbar. Oft zeugt, wie schon angedeutet, die eine Wahrheit der Liebe mit vielen Gesichtern, Symbolen, Handlungen und Gleichnissen von sich. Was unaussprechbar ist, und trotzdem in Worte gefasst wird, sieht nur auf den ersten Blick gänzlich anders aus. Dennoch sind die Gesetze Gottes für alle Menschen gültig. Der Spiritismus betont ebenfalls, dass seine Tatsachen und Prinzipien bis ins Altertum zurückreichen, sie nicht erst durch die spiritistische Bewegung bekannt oder entdeckt wurden. Es finden sich mehr oder weniger deutliche Spuren des Spiritismus auch heute bei allen Völkern und Religionen.

Aus christlicher und spiritistischer Sicht bliebe aber noch ein Problem. Der Spiritismus nach Kardec hat eine christliche Ausprägung und sieht in Christus den höchsten Geist an. Passt das zusammen mit einer Haltung des Pluralismus?

Auch diese Antwort ist ganz einfach, wenn man sich auf folgenden Gedanken einlässt. Wenn Gedanken über Liebe formuliert werden, dann brauchen sie einen Rahmen, eine Art Kleid. Man kann philosophisch nicht so einfach über "Liebe" sprechen, denn es ist ja eine Mischung aus Gefühl und Werten. Die Physik hat es mit Formeln einfacher, Einstein konnte mit seiner einfachen Formel e = mc2 [Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat, d.h. Materie und Energie stehen in einem wandelbaren Verhältnis zueinander] das Weltbild der Physik revolutionieren. Wer philosophisch über Liebe spricht, dem helfen aber keine Formeln weiter. Er braucht dafür Geschichten, Bilder, Metaphern, Symbole, Paradoxien, meditative Übungen oder Taten. Jesus verwendete in seiner Philosophie der Liebe gerne Gleichnisse. Im Spiritismus standen am Anfang Phänomene, die wissenschaftlich untersucht wurden. Dabei entdeckte man die Existenz nach dem Tod. Durch die Existenz des Todes wächst Verantwortung für das Leben, es reift der Gedanke: „Wir werden geliebt und dürfen lieben.“ Somit wird im Spiritismus auch über Liebe gesprochen. Hierfür wurde als Einkleidung das christliche Kleid gewählt. Einerseits weil es uns kulturell vertraut ist und andererseits, weil es auf einfache und doch geniale Weise Liebe beschreiben kann. Wenn wir zum Vergleich den Spiritismus als Bild ansehen, das von Liebe erzählen will, dann ist seine "Liebesfarbe" christlich gewählt. Dennoch sieht der Spiritismus alle weiteren Farbmöglichkeiten der anderen religiösen Liebesgedanken als ebenso gut an. Gleichsam einer Sonne, die für alle strahlt, sind die christlich gewählten Strahlen eine Möglichkeit, um über Liebe sprechen, um Liebe erfahren, um Liebe leben zu können.

Was will aber der Spiritismus mit Jesus bezwecken? Wir Spiritisten gehen davon aus, das wir uns unaufhörlich vorwärts [aufwärts] entwickeln. Durch viele Lernschritte und Erfahrungen (hier und drüben) werden wir eines Tages Jesus ähnlich werden. Damit ist nicht die historische Person gemeint, sondern etwas anderes. Dadurch, das alle Menschen den göttlichen Funken, das Abbild Gottes, das "imago die", den unsterblichen Anteil in sich tragen, sind wir alle bereits Jesus als Potential ganz ähnlich, nur eben noch lange nicht so weit entwickelt. Gleichsam einem Rohdiamanten schleifen wir in unserer Entwicklung an unserem Ideal, dem Ideal der Liebe, dem Ideal, das der Spiritismus als Philosophie mit christlichen Worten beschreibt. Die Menschen anderer religiöser Gemeinschaften haben natürlich auch den unsterblichen göttlichen Anteil in sich. Sie sind also auch auf dem Weg zur Liebe, in spiritistischen Worten auf dem Weg zur Christuswerdung, nur nennen sie dasselbe Entwicklungsideal eben nicht gleich. So kann sich also ein Schamane vollkommen gleichwertig diesem Ideal nähern und nennt es einfach anders.

Menschen mit Nah-Tod-Erfahrungen sprechen oft von einem Licht der Liebe, das sie gleichsam sehen als auch spüren konnten. Dieses Licht der Liebe kann man so oder so nennen; wir Spiritisten sagen "Christus-Geist" dazu. Es umspannt die Erde und ist gleichsam allen zugänglich. Liebe ist das höchste Gut, das, wonach sich alle sehnen und woran man sich orientieren kann. Ich möchte nochmals betonen, dass damit nicht der historische Jesus und auch nicht der kirchliche Christus gemeint ist, wir meinen mit Christus vereinfacht gesagt das Licht und den Weg zur Liebe Gottes, so wie es andere Strömungen ebenfalls tun und mit anderen Worten benennen.

Bleibt also zusammenfassend über den Pluralismus zu sagen, dass religiöse Gemeinschaften unter bestimmten Gesichtspunkten im Vergleich als gleichwertig angesehen werden können. Religiöse Erfahrungen dürfen, ja müssen sogar, unterschiedlich sein. Auf den zweiten Blick gibt es unendlich viele Gemeinsamkeiten der einen Wahrheit, wie das Christusbeispiel gerade aufzeigen wollte.

Bleibt noch zu klären, warum man sich dann überhaupt einer religiösen Gemeinschaft anschliessen sollte, bzw. warum es sich dann auch lohnt, ausgerechnet dem Spiritismus anschliessen? Warum sollte ich nicht aus allen Teilen das für mich Beste ziehen, wenn sowieso alle irgendwie Ähnliches sagen? Warum darf ich mir nicht meine eigene Religion "stricken"?
Das ist gerade nicht mit Pluralismus gemeint.
Ich möchte auch hier wieder einen kleinen Vergleich anstellen, nun im Bereich der Musik. Wenn ich Musik und die Liebe Gottes bildlich vergleiche, kann ich sagen, sie ist für alle Menschen mehr oder weniger gleich erfahrbar, auch für gehörlose Menschen, sie ist einfach da. Musik ist Musik, Liebe ist Liebe, für alle Menschen gleich. Aber habe ich nicht bestimmte Vorlieben, bestimmte Vorerfahrungen? Ich habe sicherlich das Recht, mir mein Instrument auszusuchen, auf dem ich bestmöglich lernen kann, für das ich die besten Lehrerinnen und Lehrer, also die für mich am besten geeigneten diesseitigen und geistigen (jenseitigen) Helfer finden kann und vor allem glücklich werden kann. Natürlich kann ich mehrere Instrumente spielen lernen, aber wie schön ist es, wenn man ein Lieblingsinstrument hat und dieses richtig vertieft spielen lernt? Gerade hier kann ich viele Fortschritte machen und darf Freude erleben. Lerne ich sehr viele Instrumente und diese womöglich auch noch gleichzeitig, dann verzettle ich mich. Ich brauche einen roten Faden, eine Richtung. Von dieser Richtung aus kann ich andere ansehen und Teile für mich finden. Ein weiterer Gewinn ist die Gruppe. Eine Gemeinschaft kann einen durch Gespräche, durch Fragen und Antworten, durch Erlebnisse und Erfahrungen auch sehr gezielt voran bringen.

Im Vergleich mit der neuen Lehrerin hiesse dies, es tut mir nicht gut, wenn ich alleine gleichzeitig in einem Raum viele Lehrer hätte. Wie können ich und meine Mitschüler die vielen Lehrer differenziert und vor allem vertieft sehen?

Spiritismus nach Allan Kardec

Ich möchte noch einen wichtigen Charakteraspekt ansehen. Ich erwähnte bereits, dass sich der Spiritismus nicht als Religion versteht. Der Spiritismus nach Allan Kardec besteht aus Mitteilungen, Antworten und Belehrungen von Geistwesen, die Fragen betreffen, welche von Menschen gestellt wurden. Diese wurden gesammelt und geordnet. Der Spiritismus ist, wie Sie sicherlich alle wissen, eine Lehre mit drei Seiten: Experimentalwissenschaft, Philosophie und Moralität mit religiösen Aspekten. Der Spiritismus gründet auf das Dasein und die Kommunikation mit Geistwesen. Er hat diese Kommunikation weder erfunden, noch entdeckt. Er hat Gesetzmässigkeiten betrachtet und festgehalten, die seit Beginn der Menschheit existieren und die in vielen religiösen Gemeinschaften gestern wie heute praktiziert werden. Der Spiritismus will also keine exklusive Position einnehmen. Er beansprucht nicht, dass nur durch ihn das Heil erfahren werden kann, dass sich die Welt nur durch ihn zum Guten wendet. Man zürnt auch niemandem, der anderer Meinung ist. Was nun die religiösen und inhaltlichen Aspekte betrifft, möchte ich Allan Kardec selbst sprechen lassen.

Ich zitiere aus dem Werk "Der Spiritismus in seinem einfachsten Ausdruck":
„Was den religiösen Gesichtspunkt anbetrifft, so hat der Spiritismus die Grundwahrheiten aller Religionen zur Basis: Gott, die Seele, die Unsterblichkeit, die künftigen Strafen und Belohnungen; aber er ist unabhängig von jedem besonderen Kultus.“


Erste Anmerkung. Hier löst sich der Spiritismus vom Inklusivismus. Man beansprucht nicht eine eigene oder gar vollständige Wahrheit. Weiter Kardec: „Als Glaube an die Geister gehört er ebenfalls allen Religionen sowie allen Völkern an, da überall, wo es Menschen gibt, es auch Seelen und Geister gibt und sich Offenbarungen ohne Ausnahme in allen Religionen finden lassen.“

Zweite Anmerkung: Mit diesem Satz „Er gehört allen Religionen an...“ nimmt der Spiritismus nun Teil am Gedanken der "Gleichwertigkeit" am Gedanken des Pluralismus. Weiter heisst es bei Kardec, „man kann demnach griechisch-(orthodox) oder römisch- katholisch, Protestant, Jude oder Moslem sein und dennoch an die Offenbarungen der Geister glauben und folglich ein Spiritist sein. Der Spiritismus hat Anhänger in allen Religionen. In allen Erdteilen, bei allen Menschen und bei allen religiösen Strömungen kann mittels der inneren Stimme, dem "Daimonion", wie es Sokrates nennt, kann in Träumen und mit allen anderen spiritistischen Kommunikationsmöglichkeiten mit den Geistwesen kommuniziert werden. Die Interpretation der Mitteilungen ist oft eine Frage der Bewusstheit, der unbewussten Auslegung, des Wissens und der Erfahrung des jeweiligen Senders und natürlich ebenso des Empfängers.

Der Spiritismus hat in seiner Beschreibung der Liebe den christlichen Weg gewählt. Erinnern sie sich bitte an den Vergleich mit dem Erlernen von Musik. Der Spiritismus sieht im Christusgeist, im Geiste Christi, im Licht der Liebe eine uns vertraute, eine einfach zu verstehende und dennoch anspruchsvolle Form. Wie gesagt, mit dem Vergleich des Christus, den wir alle in uns entwickeln und der – wie die Sonne – allen von aussen geschenkt wird, ist diese gewählte Form auch legitim und will sich nicht über andere stellen. Diese gewählte Form verletzt nicht andere wertvolle religiöse Erkenntnisse, eine gewählte Form entspricht einem vertieften Studium und meint nicht, dies sei der einzige oder gar beste Weg.
Es ist wahr, der Spiritismus ist gegen gewisse Glaubenspunkte und zwar diejenigen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen wie z.B. den Gedanken an eine Hölle mit der Ewigkeit der Strafen, oder die von der Personifizierung des Teufels. Es geht allerdings bei solchen Gedanken nicht mehr nur um Pluralismus, sondern es ist die Pflicht, gegen Gedanken, die Angst machen, die einengen, die unterdrücken, vorzugehen. Diese entsprechen nicht der Liebe. Der Spiritismus möchte einschreiten, wenn generell Glaube zur Gewalt, Unterdrückung und Macht benutzt wird. Kardec meint hierzu: „Wenn Glaube zum Instrument der Verfolgung wird, muss er als schädlich bekämpft werden.“
Der Spiritismus basiert sowohl auf der Naturwissenschaft, z.B. durch seine Experimente, als auch auf der Geisteswissenschaft durch sein philosophisches Gedankengut. So hat er zwar religiöse Züge, aber er stellt keine Dogmen auf. Für entwickelte Geistwesen ist eine religiöse Formel nichts, für sie zählen nur die Gesinnung und die Taten im Sinne der Liebe.

Auf die Frage eines Geistlichen namens Abbè „Welche Religion die beste ist?“ in dem Werk "Was ist der Spiritismus" antwortet Kardec: Die Geister „beschränken sich darauf, zu sagen: Gott ist gütig und gerecht, er will nur das Gute. Daher ist die beste von allen Religionen die, welche nur das lehrt, was mit der Güte und Gerechtigkeit Gottes im Einklange steht, welche den Menschen gut und tugendhaft macht, sich untereinander wie Brüder zu lieben. Keine Religion kann der Vorwand zu irgend etwas Bösem sein!“

So sagen die Geistwesen auch nicht „Ausserhalb des Spiritismus kein Heil“ sondern „Ausserhalb der Nächstenliebe kein Heil“. Sie stellen nicht Christus in den Mittelpunkt der Lehre, sondern die Liebe und deren Ursprung, Gott.

Ich denke, man kann hier Lehren wie Schamanismus oder die Anthroposophie nach Steiner plural sehen. Diese Lehren sind natürlich sehr unterschiedlich und sicherlich gibt es hier auch viele Scharlatane, wie es leider auch Betrüger gibt, die sich Spiritisten nennen. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass ernsthafte Vertreter und Gruppierungen der genannten Lehren liebevoll mit hohen Ebenen der geistigen Welt kommunizieren, eben auf ihre Art und doch sehr deutlich.

Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie spricht in seinem Vortrag "Die Geschichte des Spiritismus" vom 30. Mai 1904 von Allan Kardec äusserst gleichwertig. Er nennt den Spiritismus als, ich zitiere: „im Einklang stehend mit den uralten Weisheitslehren der Theosophie“. Das ist reiner Pluralismus ausgehend von der Theosophie gegenüber dem Spiritismus.

Auch schamanische Richtungen, die ja quer über den ganzen Erdball verteilt sind und oft unterschiedlichste Ausprägungen haben, kommunizieren seit vielen tausend Jahren mit Geistwesen. Sie kleiden ihre Philosophie über die Liebe oft mit Naturbildern, insbesondere Tiergestalten. Auch hier gibt es viele Beispiele von Lehren an reinster Liebe, die dem Spiritismus absolut ebenbürtig sind.

Ich persönlich halte es für äusserst wichtig, neben dem Spiritismus auch andere religiöse Richtungen kennenzulernen und anzusehen. Der Spiritismus will gerade unseren Ideenkreis erweitern und uns tiefer in die Gesetze der Natur und der Liebe einführen. Da kann eine Horizonterweiterung nicht schaden, ja geradezu nützlich sein und vor allem Freude bringen.

Zusammenfassend heisst das, der Spiritismus will dem Menschen nach seiner Art bestmöglich helfen, sich auf dem Weg der Liebe zu entwickeln. Er will sich nicht aufdrängen, denn eine erzwungene Überzeugung ist laut Kardec "ein Unding". Im Gegenteil, die Geistwesen und auch Kardec befürworten eine ernsthafte Prüfung dieser Lehre, alle ehrlichen Zweifel sind erlaubt. Denn alles darin will der Prüfung der Vernunft standhalten.
Auf die Frage, ob man auch ohne Spiritismus glücklich werden kann, antwortet Kardec mit „Einverstanden!“

Nun mag mancher einwenden, wenn das alles so gut klingt, wenn jeder in solch einer Gemeinschaft Platz hat, wo ist dann an dieser Bewegung der Haken? Steckt nicht vielleicht doch sogar etwas ganz anderes dahinter? Ist vielleicht der wahre Charakter des Spiritismus eine Sekte? Friedrich-Wilhelm Haak, Theologe und Beauftragter der evangelischen Kirche für Sektenfragen stellte eine Charakterisierung zusammen, woran man Sekten erkennen kann. Aus diesem Charakterisierungskatalog entspricht der Spiritismus keiner einzigen Kategorie. Ich möchte drei davon kurz ansehen:

1. Das Weltbild der Sekte eröffnet bereits beim ersten Kontakt eine vollkommen neue Sicht der Dinge.
Der Spiritismus kann zwar Dinge in einem neuen Licht erscheinen lassen, aber ein vertieftes Studium dauert Jahre und kann nicht schon bei einem einzigen Treffen alles erklären. Ausserdem weiss der Spiritismus weder auf alle Fragen Antworten und er sieht sich, wie bereits gesagt, nicht als einzig glücklich machende Gruppierung an. Er will nicht, dass man Beziehungen abbricht, er will kein Geld und hat keinerlei Machtinteressen.

2. In einer Sekte wird nichts überprüft; nachdenken ist nur einseitig in Ordnung; eigene Meinung haben oder nachfragen, ist nicht erwünscht.
Laut Kardec darf man alles prüfen und muss nicht in allen Punkten der gleichen Meinung sein. Fragen werden als wünschenswert angesehen, weil alle ernst gemeinten Fragen (und erscheinen sie auch noch so primitiv) Raum haben sollen. Kardec fragt auch ganz einfach in seinen Büchern: Gibt es Gott? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wie sieht es im Jenseits aus? Werde ich meine Geliebten wiedersehen? Macht mein Leben Sinn?

3. Die Lehre der Sekte gilt als einziges und wahres Wissen. Kritik von ausserhalb ist immer auch als Beweis für die Richtigkeit der Sektenlehre zu sehen. Die Sekte ist die Elite der Menschheit und grenzt sich ab; Verhalten wird vorgeschrieben und die Welt wird untergehen; nur Sektenangehörige haben eine Chance auf Rettung.
Der Spiritismus ist weder Wächter noch Pächter der Wahrheit. Er gibt auf Phänomene Antwort, wie es auf ähnliche Weise andere auch tun. Kritik ist erwünscht, denn der Spiritismus sieht sich auf dem Weg und nicht auf dem Höhepunkt seiner Vollendung. Spiritisten sind in keinster Weise besser oder elitärer als andere Menschen. Wir sind alle gleich, haben den gleichen Ursprung. Der Spiritismus schreibt keinerlei Verhalten vor, er pflegt keine religiösen Rituale. Der Spiritismus hat eine positive Sichtweise gegenüber der Welt. Die Welt rast nicht auf eine Katastrophe zu, sondern sie entwickelt sich. Probleme und Katastrophen werden als Chance zum Lernen oder als Ausdruck der Willensfreiheit gesehen. Der Spiritismus sagt lediglich, dass gutes ethisches Handeln die eigene Entwicklung und die Entwicklung der Welt zu einem "Glücklich-Sein" voran bringt. Dieses ethisch gute Handeln ist so verschieden wie die Persönlichkeiten. Äusserst unterschiedliche Menschen aus allen Orten und Milieus dieser Erde sind Spiritisten. Sie sehen im Spiritismus kein abgeschiedenes Handeln, sondern sie wissen, dass das Leben der eigentliche Lehrmeister ist und somit Spiritismus im Alltag und nicht nur in einer elitären Gruppe gelebt wird.

Und ich will es auch gar nicht verschweigen. Die pluralistische Sichtweise hat natürlich auch Nachteile. Wenn man verschiedener Meinung sein darf, dann heisst es auch, dass man Meinungsverschiedenheiten aushalten muss. Wenn man seine Kritik äussern darf, dann heisst es auch, dass man bereit ist, den anderen immer ernst zu nehmen, auch wenn es anders leichter wäre. Wenn man für alle Fragen offen ist, heisst es, Geduld und Achtsamkeit zu haben, denn Wissensvorsprung soll kein Machtvorsprung sein. Wenn man nicht für alle Probleme eine Antwort hat, dann weiss man auch, dass der Spiritismus keine wissenschaftliche Forschung oder Therapien ersetzen möchte, höchstens ergänzen kann. Dafür stehen echte Werte im Charakter des Spiritismus: Wertschätzung aller Menschen, Sinnhaftigkeit des Daseins, Selbstentfaltung und Erleben von Liebe.

Die Liebe ist in jeglicher Begegnung mit anderen Menschen und mit mir selbst der Gradmesser. Selbst wenn ich mein Instrument nahezu perfekt beherrsche, also der "beste" Spiritist der Welt bin, aber mir kommt die Liebe abhanden, war alles umsonst. So sagt auch Paulus im Hohelied der Liebe (1 Kor 13): „Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besässe und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.“

Zum Schluss möchte ich ein letztes Mal auf die Frage der beiden Schulfreunde nach der neuen Lehrerin zurückkommen. Der Schulfreund kann nur aus seiner persönlichen Sichtweise antworten. Auch ich will auf die Frage, warum ich den Spiritismus mag, persönlich antworten. Zunächst weil ich Antworten auf meine Fragen bekomme und dennoch meine eigene Meinung bilden kann; weil ich mich verstanden fühle und auch Dinge über das Leben besser verstehe; weil ich mich entwickeln kann, ohne dass ich harte Gebote oder gar Verbote beachten muss; schliesslich weil ich viel Freude, Tiefe und vor allem Liebe darin gefunden habe und Tag für Tag aufs Neue finde.

Liebe und Freude; einfache Worte, die unendliche Dimensionen eröffnen.


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"