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Rudolf-Passian-Forum - Erfahrungsbericht

Beitrag von Trude Payer, erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 2/2002, S. 27-29.
Anmerkungen des Erfassers stehen in [ ]-Klammern.

EIN WORT AN DIE MÜTTER

deren Kinder ihnen in die andere Welt vorausgegangen sind

Genau zehn Jahre ist es her! Auch damals war der zweite Maiensonntag, der "Muttertag", geweiht der Liebe und Verehrung, die Kinder ihren Müttern geben. Und just an diesem Tag hatte ich ein Erlebnis, das tief zum Herzen sprach – so wenigstens empfand ich es – und das mir eine Mutter schenkte, die von ihrem Kinde über alles geliebt wurde...
Zum richtigen Verständnis für den Leser muss ich kurz die Vorgeschichte erzählen:
Am Lyzeum in Linz, meiner Vaterstadt, war Herta H. vor vielen Jahren – sechs Klassen lang – meine Schulkameradin gewesen. Sie war ein ausnehmend hübsches und stets freundliches Mädchen.
Wir hatten uns nach der Matura völlig aus den Augen verloren, wie dies häufig bei Mittelschülerinnen der Fall ist, besonders wenn sie durch Heirat ihre Namen wechseln. Ich hörte nur später durch Hertas Mutter, die ich flüchtig kannte, dass ihre Tochter sich nach Wien verheiratet habe und dass es ihr gutgehe.
Zu Beginn des Jahres 1948, zu einer Zeit, da ich etwa ein halbes Jahr lang Schreibmedium war, traf ich zufällig Gertrud B., eine andere Schulkollegin von einst, in Wien. Sie erzählte mir, dass Herta schon im Alter von dreissig Jahren an den Folgen einer Fehlgeburt gestorben sei. Ihre greise Mutter lebe nun ebenfalls in der Grossstadt und sei seit dem Tode der Tochter auf eigenartige Weise mit dieser verbunden. Gertrud stand zwar solchen Dingen ausnehmend skeptisch gegenüber, doch war sie – wie sie mir gestand – auf sonderbare Art von der Richtigkeit der Behauptung der alten Dame überzeugt worden.
Gertrud war während unserer gemeinsamen Schulzeit – dessen entsinne ich mich deutlich – und, wie sie mir erzählte, auch noch im späteren Leben, in inniger Freundschaft mit Herta verbunden gewesen. Sie hatte daher auch deren Handschrift so gut wie kaum ein zweiter Mensch gekannt.
Herta war schon einige Jahre lang tot, als Gertrud eines Tages einen Brief von der Freundin [der] Mutter erhielt, dem ein Gruss von Herta – unverkennbar in deren Handschrift geschrieben – angefügt war.
Gertrud erschrak, als sie die Worte der Heimgegangenen las. Sie suchte bald darauf deren Mutter auf und erfuhr nun aus dem Munde der alten Dame die Einzelheiten, die ihr das Phänomen klärten, soweit dies in solcher Beziehung möglich ist...
Auch ich wollte gerne Näheres über die Zusammenhänge wissen. Ich beschloss, Fr. H., deren Anschrift mir Gertrud mitteilte, in der nächsten Zeit aufzusuchen.
Am Muttertag führte ich endlich meinen Vorsatz aus. In Ober-Sankt Veit, dem malerischen Dörflein an der Peripherie Wiens, fand ich unschwer das Haus, in dem Hertas alte Eltern wohnten.
Ich läutete die Flurklingel.
Eine zarte weisshaarige Dame mit edlen Gesichtszügen öffnete die Tür. Sofort erinnerte ich mich an die schöne Frau, die ich einst in Linz als Hertas Mutter gekannt hatte.
Ob sie sich meiner entsinne, fragte ich und nannte meinen Mädchennamen. Ich sei eine ehemalige Schulkameradin ihrer Tochter.
Die alte Dame führte mich in ihr Wohnzimmer. Von der Wand grüsste mich Hertas Bild. Es sei knapp vor deren Tode aufgenommen worden, sagte die Mutter.
Ich erzählte ihr, dass ich meinen jungen blühenden Sohn verloren habe, aber durch meine Schreibmedialität seit etwa zehn Monaten mit ihm geistig verbunden sei. Und dass ich durch Gertrud erfahren habe, dass es Frau H. mit ihrer Tochter ähnlich ergehe.
Die Greisin lächelte. "Wenn Sie an sich selbst Erfahrungen, die anscheinend den meinen gleichen, sammeln konnten, will ich mich vor Ihnen nicht verschliessen, wie ich [es] sonst – auf Hertas Wunsch – vor nahezu aller Welt tue!
Ja, meine Tochter hat mir seinerzeit – schon kurz nach ihrem Ableben – Briefe geschrieben, so wie Ihr Sohn sie Ihnen heute schreibt. Seit Jahren aber spricht sie nur mehr zu mir. Ich vermag die Stimme, die unverkennbar die Hertas ist, deutlich zu hören. Sie warnt mich vor Gefahren, gibt mir Ratschläge. Sie macht mich auf Dinge aufmerksam, die ich selbst nicht sehen kann, weil diese etwa noch durch eine Hausecke für meine Blicke verborgen sind. Komme ich näher heran, sehe ich, dass Herta recht behielt.
Vorhin – wenige Minuten bevor Sie kamen – meldete sie mir Ihren Besuch an. 'Es kommt jemand zu dir', sagte ihre Stimme. Gleich darauf ertönte die Flurklingel. Häufig benachrichtigt sie mich vom Nahen einer Person, die für mich noch weit ausser Sicht ist. Und richtig kommt dann der Betreffende des Weges.
Besonders häufig spricht sie des Abends, wenn ich mich zur Ruhe begebe, mit mir. Da muss ich sie sogar öfters bitten, mich endlich schlafen zu lassen, denn Herta würde die halbe Nacht mit mir verplaudern..."
Ich lauschte der Erzählung mit grossem Interesse und inniger Anteilnahme. Mehr noch war ich jedoch begierig, die schriftlichen Mitteilungen, die Herta einst der Mutter gemacht hatte, zu sehen. Auf meine Bitte hin reichte mir die alte Dame ein dickes Lacklederheft: "Da haben Sie Hertas Briefe!"
Ich schlug die ersten Seiten des Heftes auf. Sie waren mit einer modernen, steilen Lateinschrift beschrieben.
Ob dies Hertas Handschrift sei, fragte ich, denn ich konnte mich begreiflicherweise nicht an die Schrift der einstigen Schulkollegin erinnern. Ja, dies sei Hertas Handschrift. Frau H. zeigte mir eine Schriftprobe aus Hertas Lebenstagen und daneben eine eigene. Die beiden Schriften waren von Grund auf verschieden. Medial schrieb Frau H. in der Tochter zügiger steiler Lateinschrift; im gewöhnlichen Leben dagegen mit den liegenden, etwas zitterigen Kurrent-Schriftzeichen einer Greisin.
Nun las ich Hertas Briefe aus jener besseren Welt, in die sie schon so jung an Jahren hatte eingehen müssen. Es waren rührende Bekenntnisse ihrer übergrossen Liebe zu der Mutter, aber auch Schilderungen des Jenseits, die denen Reinharts glichen. Herta berichtete genauso wie mein Sohn vom "Schweben" und "Fliegen" und der Beglückung, die das geistige Leben bringe. Wirklich gut gehe es Herta drüben allerdings erst, seitdem ihre Mutter die Tränen um die Tochter, die ihr so früh entrissen worden war, getrocknet habe. Dies sei jetzt endlich der Fall, schrieb Herta, denn nun sei sie mit der Mutter wieder innig verbunden...*)
Frau H. hatte – wie sie mir erzählte – immer nur mit dem Geist ihrer Tochter, niemals mit einem anderen, geschrieben. Verbunden aber – in dem Sinne, dass sie ihn sprechen hörte – war sie nun auch schon mit ihrem vor einem Jahr verstorbenen ältesten Sohn. Herta und der Bruder – so berichteten beide der Mutter – konnten sich in der Ewigkeit wohl sehen, aber sie waren vorläufig noch nicht vereint. Es trennte sie eine durchsichtige Mauer, die einer Glaswand glich.**)
Seitdem Herta mit der Mutter sprechen konnte, hatte sie ihr nie mehr geschrieben. Der letzte Brief datierte vom Jahre 1940, lag also – von damals gerechnet – um ganze acht Jahre zurück. Es war somit Herta allem Anschein nach nicht darum zu tun, der Welt einen Beweis ihres geistigen Fortlebens zu erbringen – denn nur das geschriebene Wort, nicht aber das nur in der Mutter mit Hertas Stimme gesprochene, das kein Mensch ausser Frau H. selbst hören konnte, hätte überzeugen können –, sondern lediglich darum, mit der über alles geliebten Mutter vereinigt zu sein.

Die Eröffnungen der alten Dame muteten mich fremd und neu an, so ähnlich sie im Grunde genommen auch meinen eigenen Erfahrungen waren. Somit war ich nicht die einzige Mutter, die ihr totes Kind auf wunderbare Weise wiedergefunden hatte! –
Noch völlig benommen von dem seltsamen Erlebnis wanderte ich – nachdem ich mich von der Greisin verabschiedet hatte – ein weites Stück in den jungen Frühling hinein. In der freundlichen Villen-Vorstadt war auch der Weg, der heimzu führte, ein Weg in Gottes freier Natur. Die hohen Kastanienbäume der Allee erstrahlten in rosig behauchtem Kerzenschmuck und streuten mir ihre festlichen Blütenblätter als zarten Schnee vor die Füsse. Ich ging wie auf einem weichen Teppich dahin.
Muttertag!
Ich hatte eine Mutter gesprochen, die ihre Tochter verlor und sie doch ständig in sich trug...
Daheim erwartete mich Besuch. Erst am späten Abend war ich allein.
Ein kleines Missgeschick – "Tücke des Objekts" – wollte es, dass ich bei einer Manipulation mit dem elektrischen Kocher einen Kurzschluss verursachte. Beim spärlichen Licht eines Kerzenstümpfchens blieb mir nichts anderes übrig, als rasch zu Bett zu gehen.
Schon begann ich mich auszukleiden.
Doch plötzlich besann ich mich. Wie konnte ich für Reinhart den Muttertag vergessen! Ich hatte ihm doch an diesem Tage Gelegenheit geben wollen, mit mir zu sprechen.
Beim unruhig flackernden Schein meiner Kerze legte ich einige Blätter Papier auf den Tisch, nahm den weichen Bleistift zur Hand und setzte mich in Schreibbereitschaft.
"Reinhart, heute musst du dich, bitte, beeilen! Ich habe nur dies schäbige Stümpfchen Licht. Es ist sonst keine Kerze mehr im Hause", bat ich in Gedanken.
Reinhart liess sich nicht lange bitten. Er schrieb:

"Liebste Mutter, hab innigen Dank, dass Du mir heute, am Muttertag, Gelegenheit gibst, mit Dir zu sprechen! Ich möchte Dir sagen, dass ich besonders an einem solchen Tag in inniger Verbundenheit bei Dir bin und dass ich Dich mit meiner Liebe umgebe. Ich bin immer bei Dir, das weisst Du. An solchem Festtag aber ist auch in uns Geistern noch mehr der Wunsch wach, Euch unsere Liebe zu zeigen. Manchmal bin ich traurig, dass ich Dir meine Liebe nicht durch Taten beweisen kann. Das trübt die Seligkeit meines Seins. Aber ich lenke oft Deine Gedanken, ohne dass Du es merkst, und es wird dann Dein Werk so, dass es Dir Erfolg bringen muss!
Dein Buch, an dem Du mit so viel Fleiss und Liebe arbeitest, ist ganz in meinem Geiste geschrieben. Ich freue mich darüber!
Die Mütter aber werden es Dir danken, denen Du mit diesem Werk Trost spendest. Diesen Müttern seien meine Worte gewidmet:
Mütter! – Eure Kinder, die Ihr als tot betrauert, leben und sind bei Euch! Lasst Euch dies sagen – am Muttertag – von einem Sohne, der vor drei Jahren gestorben und dennoch ständig bei seiner im Leben stehenden schaffenden Mutter ist!
So sind auch Eure Söhne bei Euch! Seid darum getröstet und weinet nicht mehr um sie. Ja, es ist so!

Und nun, Mutter, grüsse ich dich und danke Dir für all Deine Liebe, die Du mir im Leben gabst und die mich auch noch in den Tod begleitet!
Ich grüsse Dich, Du liebste, beste Mutter!
In Innigkeit bin ich Dein Reinhart..."

Trude Payer


Fussnoten

*) Schmerzliche Trauer der Hinterbliebenen spüren die Hinübergegangenen ebenso schmerzlich, es hindert sie am Weitergehen und mindert erheblich ihre Freude an ihrem neuen Leben. Vgl. die Schrift von Prof. Dr. Werner Schiebeler "Der Einfluss der Trauer auf Verstorbene" (48 S., Wersch-Verlag, D-88314 Ravensburg-Torkenweiler, Torkelweg 2, ISBN 3-928867-04-0).

**) Dies hing offenbar mit der zwar ähnlichen, aber dennoch unterschiedlichen Entwicklungsstufe der beiden zusammen. R.P.



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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"