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Lebenskunde

Artikel von Heinrich Lhotzky erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 1/2002, S. 2-4.

Was sollen wir tun?

Von Heinrich Lhotzky

Wert der Wahrheit

So fragen heute viele in einer gewissen Ratlosigkeit. Besonders auf geistlichem Gebiete herrscht Ratlosigkeit. Neue Wahrheiten wollen durchdringen und verlangen praktische Folgen. Wahrheiten haben ja nur Wert, wenn sie das ganze Sein des Menschen umgestaltend auf eine höhere Stufe heben können. Dieses Bedürfnis fühlen heute viele in weiten Kreisen, in den verschiedensten Anschauungen und Parteistellungen, und darum fragt mancher: Was soll ich tun? Welche Folgen soll ich meinem Erkennen geben?
Nun, tue nur nichts Besonderes, Unnatürliches und Gezwungenes. Wahrheit ist das Allereinfachste und Natürlichste, Extravaganzen sind Unnatur und Unwahrheit. Solche Besonderheiten werden meistens von Leuten unternommen, die den Mangel an Wahrheit verdecken wollen und nun sich und andere, meistens aber nur sich selbst, in Extraleistungen über ihre Armut täuschen wollen. Je geringer der Besitz, desto fruchtbarer die Spekulation. Darum sollst du in deiner Ratlosigkeit weder in eine Sekte eintreten, noch einen feierlichen Konfessionswechsel vornehmen. Du brauchst weder die Uniform der Heilsarmee anzuziehen noch dir irgendein farbiges, bedeutungsvolles Schleifchen oder Kreuzchen anzuheften. Du brauchst weder einen Verein zu gründen noch einem gegründeten ohne Not beizutreten. Du brauchst weder auf geistliche Grössen zurückzugreifen noch Autoritäten Gefolgschaft zu leisten. Auch meinen Ratschlägen brauchst du nicht Folge zu leisten, obgleich sie gut sind. Aber für mich hat es keine Bedeutung, wenn du sie befolgst, denn sie sind vielleicht in der Form, wie ich sie dir gebe, gerade nicht richtig für dich.
Aber was du durchaus tun musst, ob mit meinem Rat oder ohne ihn, ist mit einem Worte gesagt: Du sollst das Natürliche und Nächstliegende tun, weiter nichts.

Vom Natürlichen

Das ist nun leicht gesagt, aber schwer getan. Ich erinnere mich noch deutlich des köstlichen Anblicks, als die neu eingetroffenen Rekruten im Regiment zunächst "natürliche Stellungen" lernten. Die Burschen wurden da gereckt und gezogen und sahen schliesslich aus wie Drahtpuppen - so unnatürlich wie möglich. Es fiel ihnen auch sichtlich schwer, die natürliche Stellung zu finden. Aber siehe, nach wenigen Tagen standen sie in den neuen Stellungen so frei, so sicher und selbstbewusst da, dass ihren Lehrmeistern des Herz lachte. Sie hatten ihre natürliche Lage gefunden, und damit war das Selbstbewusstsein erwacht, sie fühlten sich wohl dabei. Das heimatliche Herumlümmeln der Bauernburschen war ihre zuchtlose Unnatur, die militärische Erziehung gab ihnen zunächst ihre natürliche Stellung, ihren natürlichen Gang und lehrte sie von da aus den Parademarsch und die schweren Strapazen, überzeugt, dass sie auf diesem Wege Soldaten heranbilde. Unser heutiges Geschlecht lebt auch in zuchtloser Unnatur. Um in der Wahrheit vorwärtszukommen, muss angefangen werden bei dem Natürlichen.
Was ist nun das Natürliche? Das kann man allgemein nicht sagen. Das wird sich für jeden Menschen anders gestalten. Aber zuerst musst du es in deinem Berufe und in deiner Arbeit suchen. Die müsste so gestaltet werden, dass du ihr zunächst einmal wirklich gerecht wirst. Das Natürliche zu tun, ist dabei oft das Alleruninteressanteste und Langweiligste, aber wenn ich mich jeden Tag frage: ,Was muss heute auf jeden Fall geschehen?' und dann hinzusetze: Das soll so gut geschehen als irgend möglich, dann wird die Last oft wunderbar leicht, und das Langweilige vergeht oft schneller, als man gedacht hat, weil in dem Einfachen eine gewisse Befriedigung liegt. Das Natürliche hängt immer zusammen mit dem Gesunden.
Was du beruflich tun musst und tust, ist zuweilen nicht der Rede wert, ist oft überhaupt nicht klar zu sagen, es ist häufig eine Kette von Kleinigkeiten, ein geschäftiges Nichtstun; aber wenn du es tust auf das grosse Ziel hin, deine Natur zu finden, du selbst zu werden, wirst du bald in aller Langweiligkeit frei und froh und zielbewusst ausreifen für weiteres, was dir dann nahe liegt. Wer das Nächstliegende mit halbem Herzen tut und am Wünschenswerten mit ganzer Seele hängt, wird weder das eine noch das andere erreichen.
Das Natürliche will aber auch in deinem gesellschaftlichen Umgang zur Geltung kommen. Da ist es schon schwieriger, denn es handelt sich nicht um tote Arbeit, sondern um lebendige Menschen, und Menschen haben eben oft ihre Eigentümlichkeiten, wie man sagt. Die nächsten Menschen sind die Familienmitglieder. Aber das sind nicht immer die interessantesten Menschen, schon deshalb nicht, weil sie sich gar nicht die Mühe geben, interessant zu sein oder etwas vorzugeben. Sie brauchen es auch nicht, denn es hilft nichts; man kennt sich doch. Aber der natürliche Umgang bleibt deine Familie, so schwer das oft sein mag. Zusammenhalt im Hause ist der Boden, von dem aus man weiterkommen kann.

Flucht nach aussen?

Heute ist das Modernste, sich aus der häuslichen Einförmigkeit durch Flucht in die Öffentlichkeit zu retten. Das ist aber zugleich das Unnatürlichste. Denn draussen findet man lauter Menschen, die eine Rolle spielen, die sich in irgendeiner Richtung Mühe geben; wie schon Salomo sagt: Gott hat die Menschen einfach geschaffen, aber sie suchen viele Künste. Diese Umgangsformen musst du dann mitmachen, wenn du nicht fatal auffallen willst, und damit verlierst du leicht deine eigene Natur über fremdem Wesen. Im Hause zeigt sich die Natur ungeschminkt. Wenn man die wahr und erfreulich gestalten könnte, wäre damit ein Boden gewonnen, in dem Wurzeln der Kraft Halt finden könnten. Es ist eine rührende und ewig gültige Wahrheit, ebenso ein Sittengebot als ein Naturgesetz, das in dem alten Worte ausgesprochen ist: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass dir's wohl ergehe, und du lange lebest auf Erden. Damit ist der häusliche Zusammenhalt geheiligt; und langes Leben, Segen für das natürliche Leben, soll sich an die Befolgung dieses natürlichsten Gebotes knüpfen. Willst du das Nächstliegende tun, so lass dein Leben sich im Hause entfalten und nicht im Wirtshaus und im Verein. Sorgst du dafür, dass dir's zu Hause wohl werde, so wirst du samt den Deinen dich bald wohlfühlen.

Der Leib

Und das Natürliche hat auch Anspruch auf deinen Leib. Wie pflegst du deinen Leib; wie arbeitest du; wie ruhst du; wie und was isst und trinkst du; wie kleidest du dich, lebst du in deinen Verhältnissen, oder schon darüber hinaus? Es sind unglaublich einfache Fragen, diese allernächstliegenden, aber wenige nehmen sich die Mühe, darüber nachzudenken. Sie hasten vom Nächstliegenden zu Fernerliegendem und verlieren damit den Boden des gesunden Seins. Im Leibe liegt die Gesundheit und in der Gesundheit die fruchtbringende Arbeit. Wer etwas leisten will, muss erst seinen Leib pflegen. Hast du dich krank studiert und krank gearbeitet, so bist du der ganzen Welt nichts mehr nütze.
Es ist interessant, wie sich die Leute ins Gleichgewicht bringen. Wenn sie sich in ihrer Überkultur und Verfeinerung nervös fühlen, stürmen sie in die Naturheilanstalten und unterwerfen sich dort einer barfüssigen Wasserkur. Das eine ist so unnatürlich wie das andere. Solche Kuren haben nur dann Sinn, wenn sie dir wirklich das Nächstliegende sind, aber nicht, wenn der Natur zu einem weiteren unnatürlichen Leben verholfen werden soll.
Es ist also sehr schwer und für unser heutiges Leben sehr fernliegend, das Natürliche zu tun, und es wird uns wohl ebenso gehen wie den Rekruten, nur dass diese es schneller lernen als Kulturmenschen. Aber es ist unbedingt notwendig, dass es gelernt wird. Es ist der erste Schritt zu deinem Lebensziele.

Das Lebensziel

Das Lebensziel kann nur das Eine sein, dass das, was an Kräften und Fähigkeiten in dir liegt, seine richtige Verwendung und Entfaltung bekommt, dass du dein wahres Wesen ungehemmt von innen und aussen voll ausleben kannst.
Nur sind alle Menschen verschieden im Aussehen und in der Veranlagung. Es gibt nicht zwei ganz gleiche unter den unzähligen Millionen. Das eigentümliche Sein eines jeden muss aber irgendeinen besonderen Zweck haben. Das fordert die einfache Vernunft, und wir selbst haben ein unauslöschliches Bewusstsein davon. Folglich muss jeder Mensch etwas Besonderes sein, etwas, was nur er und niemand anders sein kann. Es muss mithin auch jeder etwas Besonderes tun und leisten können, was ihm niemand abnehmen kann. Wir sind alle Originale und alle ganz sicher im Grunde unserer Natur bedeutende Menschen, auch wenn wir zufällig in der Dummheit geboren sind. Dummheit ist so wenig dein eigenes Wesen wie Krankheit und Gebrechen. Man muss also sagen: Sobald wir das werden, was wir nach dem Grunde unseres Seins werden können, haben wir unser Ziel erreicht und damit auch unsere Befriedigung und Glückseligkeit. Wenn heute trotz aller Kultur viele so ferne davon sind, so haben sie nur ihre Natur und ihren rechten Platz, den sie ausfüllen können, noch nicht gefunden. Sie haben sich wohl ein gewisses Kulturwesen angeeignet, aber ihr eigenes wahres Wesen nicht kultiviert, und das macht unglücklich. Der erste Schritt zum Glück und zu grossem Sein und Tun ist, die natürliche Stellung zu finden.

Gottesdienst

Das Einfachste und Nächstliegende zu tun, ist aber auch der vernünftigste Gottesdienst, denn damit kommst du dem Ziele näher, zu welchem Gott dich bestimmt hat. Vor Gott ist alles zweckvoll geordnet, und wer Seinem Zwecke dienen kann, erfüllt einen bestimmten Willen Gottes. Darin gibt es unwillkürliche, selbstverständliche Lebensäusserungen, die alle wahr sind, denn sie bringen das wahre Wesen des Menschen zum Ausdruck. Je näher ein Geschlecht Gott ist, desto mehr ist es befähigt, seine Natur zu entfalten und seiner Bestimmung zu dienen; je ferner Menschen von Gott leben, desto weniger werden sie ihre Natur verstehen, desto weniger werden sie nur begreifen, dass sie überhaupt eine grosse Berufung haben. Und das ist wohl das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann, wenn er an sich selbst versagt und sich für zwecklos hält, das deutlichste Zeichen grosser Gottesferne, das Zeichen des Todes - Unglaube.

Was sollen wir tun?

Es ist interessant, dass die Frage: Was sollen wir tun? eine Art Geschichte hat, oder, um es anders auszudrücken, Symptom eines gewissen geistigen Zustandes ist, der öfters im Laufe der Geschichte eingetreten ist. Die Frage taucht nämlich immer dann auf, wenn die Geschichte der Menschen in ihrer Beziehung zu Gott nahe an einer neuen Wendung oder mitten darin ist. Ich möchte mich dabei auf einige Beispiele beschränken, dem freundlichen Leser das Aufsuchen weiterer überlassend.
Es ist bekannt, dass mit der Frage: Was sollen wir tun? die neutestamentliche Geschichte ihren Anfang nahm. Damals verkündigte Johannes der Täufer in der jüdischen Wüste eine baldige Umgestaltung aller Beziehungen zu Gott. Er sagte: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Sofort tauchte die Frage auf: Was sollen wir tun? Wenn sich Himmlisches nähert, so bedeutet das eine Unterbrechung der ungöttlichen Alltäglichkeit. Folglich muss über jeden, der von dem Herannahenden irgendwie berührt ist, eine Unsicherheit in seinem gottverlassenen Gewohnheitsleben kommen: Was sollen wir tun?
- Nun, Johannes antwortete: Besonderes gar nicht, sondern das Nächstliegende; aber das unter dem Gesichtspunkte des Neuen, vom Standpunkte neuen Denkens aus, von Sinneserneuerung aus. Zöllnern gab er den Rat: Betrügt nicht; Soldaten, tut niemand Gewalt noch Unrecht, seid zufrieden mit eurem Solde; Vermögenden: Übet Barmherzigkeit an Armen. Bloss für Heuchler wusste er keinen Rat, sondern schreckte sie mit dem Donner des nahen Gerichts. Die besonderen Aufgaben, die jeder zu erfüllen hat, überliess Johannes dem Neuen, das sie ordnend und lösend austeilen werde. Er selbst verlangte nur das Natürlichste und sonst im Grunde weiter nichts als ein inneres Eingerichtetsein auf kommende Gottesgeschichte.
Ganz ähnlich stellte sich dieselbe Frage, als Petrus unter dem Eindrucke eines gewaltigen, überraschenden Eingriffs Gottes in die damalige Geschichte seine grosse Pfingstrede in Jerusalem. hielt. Das Resultat war, dass die Hörer fragten: Ja, was sollen wir tun? Petrus antwortete: Tut Busse, d.h. lasset die neuen Gedanken euer Eigentum werden, und lasst euch taufen zum Zeichen, dass ihr Christus als euren Herrn anerkennt. Das war unter den damaligen Umständen das Nächstliegende.

Das Nächstliegende

Es trat überall die Natur in ihre göttlich geheiligten Rechte, und das oft in verblüffend einfacher Weise. Das Neue Testament ist voll von den einfachsten Ratschlägen. Den Herren ward geboten, vernünftig umzugehen mit ihren Sklaven; es wurden also keine Antisklaverei-Kongresse und dergl. veranstaltet und in der Sklavenfrage agitiert. Den Eheleuten, von denen sich eines noch zu irgendeiner Religion, das andere zum Glauben bekannte, wurden nicht Ehescheidungen, Bekehrungsversuche, Einmischung dritter Leute empfohlen, sondern der Trost gegeben: Das gläubige Weib heiligt den Mann, und der gläubige Mann heiligt das Weib. Es blieb alles in natürlichen Bahnen, aber es hatte in sich den Drang nach vorwärts, nach Leben, aufgenommen.
Den Weibern verkündigte Paulus, sie sollten selig werden durch Kinder aufziehen. Also nicht die Lorbeeren als Schriftstellerinnen, Dichterinnen, Rednerinnen, Präsidentinnen und dergl., sondern die einfache, schwere und unansehnliche Arbeit als Mutter, das Nächstliegende hob sie in den Bereich des Lebens. Die weiteren Aufgaben, die Entwicklung der im Einfachsten Gehorsamen zu ihrer Besonderheit, überliess man getrost den Wirkungen des Neuen, der Taufe, der Gabe des Geistes Gottes, der schon jeden recht leiten würde. Dann brauchten sie nicht mehr zu fragen: Was sollen wir tun?
Die Frage tauchte auch zu Luthers Zeiten in weiten Kreisen auf. Luther stand ja auch im Wendepunkt eines neuen Abschnitts der Heilsgeschichte. Und merkwürdig: Luther gab genau die gleiche Antwort wie Johannes und die Apostel: Tue das Nächstliegende. Damit wies er jeden auf seinen Stand und Beruf, erklärte die einfache, hausbackene Berufsarbeit für das nächste Feld des Gottesdienstes, und hat damit dem evangelischen Wesen sein eigentümliches Merkmal gegeben. Vom Nächstliegenden aus ist der geradeste Weg in dein Besonderes, zu deinem Ziele, zu deinem Glücke. Es ist gleichsam die unterste Stufe der Entwicklung. Auch der grösste Schriftsteller musste mit dem ABC anfangen, seinen besonderen Weg fand er später ungefragt.

Fragen!

Wer nun fragt: Was sollen wir tun?, in dem ist das Bedürfnis aufgewacht, selbst etwas zu sein, und der Glaube, etwas werden zu können. Das ist der erste Schritt zu wahrem Leben. Wer so fragt, soll sich zunächst freuen, dass er aus dem Todesschlafe zu erwachen beginnt. Aber freilich: Mit der Frage hat er noch keine Antwort, sondern einen schweren und vielleicht langen Weg vor sich, bis er nicht mehr zu fragen braucht. Aber er soll den Mut nicht verlieren. Denn er ist hundertmal besser dran wie der, welcher nicht fragt.
Wenn aber viele die Frage stellen, so ist das ein Zeichen, dass wir vor grossen Ereignissen und wichtigen Wendepunkten unserer Geschichte stehen; sonst kämen überhaupt gar nicht solche Fragen und Gedanken auf. Darum begrüsse ich sie mit hoher Freude und reiche im Geiste allen Fragern die Hand, unbekümmert um ihre jeweilige Partei- und Glaubensrichtung. Sollte ich über sie ein Urteil aussprechen, so kann es nur lauten: Ihr seid nicht ferne vom Reiche Gottes. Damit seid ihr freilich noch nicht darin, aber es dämmert ein neuer Tag des Heils, des Lebens, und gewiss ist, dass euch aufgehen muss die Sonne der Gerechtigkeit und Wahrheit.


[ Anmerkung des Erfassers: Ich habe einige stilistische Verbesserungen vorgenommen, die den Inhalt nicht verändern. ]


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"