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Erlebnisbericht

Beitrag von Frau J. K., bearbeitet von M. Weber, erschienen in der Zeitschrift 'Wegbegleiter' Nr. 1/2005, S. 38+39.

Das Himmelsbrieflein

Die in Karlsbad geborene, heute achtundachtzigjährige J. K. wurde 1945 von kommunistischen Tschechen, nach der mörderischen Vertreibung der Sudetendeutschen aus Böhmen, zu vier Jahren härtester Fronarbeit bei tschechoslowakischen Bauern gezwungen. Zuvor wurde die damals noch junge und unschuldige Ehefrau eines ehedem beamteten Karlsbader Diplomforstwirten – er war als Nazikritiker früher schon von der Gestapo misshandelt und zwangsversetzt worden – ein Jahr in mehreren tschechischen Gefängnissen inhaftiert. Dort erlebte sie unter menschenunwürdigsten Verhältnissen die blutige kommunistische Revolution, während der auch sehr viele unschuldige Tschechen gelyncht wurden. Anfangs war sie gemeinsam mit ihrem Mann in Schubgefängnissen untergebracht. Die Gefangenen mussten zum täglichen Appell auf dem Gefängnishof antreten und den Hinrichtungen von "Vaterlandsverrätern, Systemgegnern, Deutschfreundlichen..." beiwohnen.

"Morgen ist dein Mann dran!", rief ihr einmal ein Schächer auf tschechisch zu, da er ihre Schockstarre bemerkte beim Anblick des baumelnden Leichnams eines ihr bekannten tschechoslowakischen Arztes, der auch Deutsche behandelt hatte. Sie lebten also alle in realen Todesängsten.

Ihrer Lieblingstante war die Flucht nach Franken gelungen und sie stand brieflich mit ihr in Kontakt. Diese sehr fromme Frau schickte der jungen Nichte einmal einen kleinen "Himmelsbrief" ins Gefängnis. Er war in Stoff gehüllt, eng zusammengefaltet und sollte um den Hals getragen werden.

Der Inhalt des Himmelsbriefes bestand aus einem winzigen himmelblauen Rosenkranz, Segenswünschen, Gebeten zum Heiligen Geist und zur Dreifaltigkeit Gottes und war zum Schutz für J. K. bestimmt. Allerdings mit einer einzigen Einschränkung. Damit die Schutzwirkung des Himmelsbriefes erhalten blieb, musste Frau K. ihn immer bei sich tragen und durfte nicht verloren gehen, sonst würde Unglück bevorstehen.

Mittlerweile getrennt von ihrem Mann, der später die "Deutsche Schuld" im verstrahlten Uranbergbau abbüssen musste, wurde sie im Viehwaggon eines überfüllten Zuges von Leidensgenossinnen, nach Melnik, nördlich von Prag gelegen, verfrachtet. Auf dem Bahnhof wurden die Frauen dann für tausend Kronen wie auf einem alten Sklavenmarkt an die dortigen Gutsbesitzer und Bauern verkauft.

Jahre der Demütigung, Hunger, Kälte, Mangelernährung und Krankheiten folgten. Sie hatte einen äusserst geizigen Bauern erwischt, der seinen zerbrochenen Hornkamm mit Bindfäden reparierte, so dass sie neben vollen Trögen schuftend, an Skorbut, Hungerödemen, Phlegmonen und erfrorenen Gliedern durch winterliche Feldarbeit litt.

Aus Angst ihr Himmelsbrieflein bei der Landarbeit zu verlieren, hatte sie das kleine Stoffstück mit der Sicherheitsnadel innen am Kleid befestigt. Dieses, ihr einziges Kleid, war bald so stark durch Sonne und Schweiss abgenutzt, dass es teilweise in Fetzen an ihr herunterhing. Eines unglücklichen Tages war plötzlich der Himmelsbrief verschwunden. Sie musste ihn irgendwo draussen auf den Feldern verloren haben. Die ganze Nacht suchte sie im schwachen Schein einer Kerze alle gemachten Wege ab; tagsüber musste sie schliesslich arbeiten. Tränen und Verzweiflung überwältigten die Todunglückliche.

Eines Tages spazierte der bucklige Gemeindediener mit seinem Jagdhund auf der Dorfstrasse vorbei. Aus den Lefzen des Hundes hing kaum sichtbar eine blinkende Sicherheitsnadel an einem dünnen Bändel. Augenblicklich stürmte Frau K. zu dem Tier und erkannte den verlorenen Himmelsbrief wieder. Sie verlangte flehend die Rückgabe des Kleinods, aber der unwissende Hundebesitzer witterte Spionage und forderte, zuerst den Inhalt des Briefes am Abend von einem kommunistischen Gremium überprüfen zu lassen.

Am nächsten Morgen kam er schliesslich zum Hof und überreichte ihr schweigend den Himmelsbrief. Einer von mehreren Segenswünschen im Himmelsbrieflein lautete folgendermassen:

"Ein Hund möge Deinen Himmelsbrief wiederbringen, solltest Du ihn einmal verlieren, in Gottes Namen, Amen."

Frau K. überlebte alle Strapazen, ohne dass man ihr jemals zu nahe kam. Auch ihr Mann überlebte auf wundersame Weise unvorstellbare Qualen im Uranbergbau.

Frau K. erlaubte mir freundlicherweise die Verfassung des Textes.

© S. J. Fischer Verlag-Nürnberg-2004


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"Letzte Änderung dieser Seite am 10. Juni 2014"